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Wie unbewusste Muster den seelischen Heilungsprozess blockieren können

In therapeutischen Prozessen kann man sich den aufkommenden Themen in vielen Varianten, Therapiestilen und unterschiedlichen Methoden nähern. Dieser Artikel beschäftigt sich anhand eines Fallbeispiels mit dem Thema der Musterüberlagerung, die ursprüngliches Traumamaterial beim Auflösen und Heilen blockieren kann.

Eine 18-jährige Frau mit Missbrauchstraumata, die ich entfernt aus dem klinischen Setting kannte, kam eines Tages in meine ambulante Stunde und erzählte mir von ihren Flashbacks.

Wenn ein Mensch zu mir zum Arbeiten kommt, ist mir die energetische und nonverbale Ebene ebenso wichtig wie das gesprochene Wort. Starke Wortwahl kann energetisch leer sein im Hier und Jetzt und andersherum. Ich spreche niemandem seine Themen und Belastungen ab, doch anhand der Intensität der Emotionen, die im Raum stehen, kann man ein Gefühl dafür bekommen, welches Thema im „Jetzt“ tatsächlich ansteht. Mit diesem intuitiven Ansatz nähere ich mich meinem Gegenüber.

Mel (Name geändert) erzählte mir in drei Sätzen von ihren wiederkehrenden Flashbacks, ohne ins Detail zu gehen, und lehnte sich entspannt zurück. Die energetische und emotionale Ebene sowie die nonverbale Körperhaltung passten nicht zum Inhalt ihrer Aussagen. Es war mir, als übertrage sie mir in diesem Augenblick die Verantwortung, etwas tun zu müssen, damit es ihr besser gehe. Also fragte ich sie breit lächelnd etwas salopp, ob ich es denn nun richten solle.

Mel verstand, dass ich sie aus der Reserve locken wollte. Gleichzeitig spürte ich, dass sich nach der Frage etwas im Raum veränderte. In ihr war eine Emotion spürbar und präsent, die mir zeigte, dass ich vielleicht auf dem Weg zu einem Thema war, was sich im „Jetzt“ zeigen wollte. Also lehnte ich mich auf die gleiche Weise wie sie zurück, streckte grinsend die Beine aus und fragte, wie viel Therapeuten (immer m/w/d) sie denn schon ins Burnout geschickt habe. Ein Anflug eines Lächelns legte sich auf ihre Lippen und sie sagte prompt: „Neun“.

Jetzt war Mel deutlich zu spüren, ganz im Gegensatz zu Beginn der Stunde. Ich spreche ihr ihre Traumafolgen und deren Schwierigkeiten nicht ab, es wurde nur deutlich, dass es vielleicht ein übergeordnetes Thema gab, was die eigentliche Traumaarbeit blockierte. Ich wusste von zwei Kollegen, dass es bisher im therapeutischen Setting kaum Fortschritte gab.

Aus der Not einer emotionalen Überforderung oder mangels gesunder Emotionsregulation können Menschen Verhaltensweisen und/oder Muster entwickeln, die ihnen einen Gewinn und Erleichterung in ihrer Gefühlswelt bringen. In der Klinik bezeichnen wir dies als „sekundären Krankheitsgewinn“. Solche unbewusst gelebten Muster können sich verselbstständigen und den Zugang zu den tieferen Themen erschweren, da diese nur existieren, weil es inneres unbearbeitetes belastendes Material gibt.

Da ich wusste, dass sich die junge Frau auch nach dem Klinikaufenthalt weiterhin in staatlichen Hilfesettings aufhielt (therapeutische Wohngruppe), konnte ich etwas offensiver vorgehen. Ich fragte Mel in ihr stolzes Lächeln hinein, ob sie viele Freunde hatte. Irritiert bejahte sie diese Frage und ich erzählte ihr lachend, dass ich gar nicht wüsste, ob ich mit ihr befreundet sein könnte.

In mir entstand ein Bild, in dem sie sich von ihrer Umwelt in einer Schubkarre überall umherfahren lasse, weil sie ja diese furchtbaren Erlebnisse gehabt hatte. Von diesem Bild erzählte ich ihr und dass ich es wohl als anstrengend empfinden würde, sie herumzufahren in solch einer Großstadt! Mit den ganzen Bordsteinen und Rolltreppen, das wäre mir zu anstrengend.

Mel schwieg daraufhin und starrte mich mit weit geöffneten Augen an. Ich spürte eine starke emotionale Reaktion, ohne dass sie etwas davon in Worten ausformulierte. Nach einer kleinen Pause fasste ich, um auf das ursprüngliche Thema zurückzukommen, zusammen:

„Wenn es dir also nicht mehr taugt, wohin dich dein Therapeut in deiner Schubkarre schiebt, steigst du aus, nimmst sie und schleppst sie zum Nächsten?“

Nach einer kurzen Pause nickte Mel. Ihre Mimik war nicht sehr ausdrucksstark. Es wirkte, als spiele sich alles ganz tief in ihr ab. Der Raum brannte förmlich vor Emotionen und Energien.

Um die junge Patientin nicht zu überfordern, switchte ich in das ressourcenorientierte Arbeiten und fragte sie, ob sie den Film kenne, in dem ein Fischer mit seinem Boot kentert und 60 Tage lang mit seinem Schlauchboot zurück zum Land rudert.

Mel war sehr überrascht von dem Themenwechsel und schüttelte nur leicht den Kopf. Sehr bildlich erzählte ich ihr, wie er kaum etwas zu essen hatte, starke Oberarme vom Rudern bekam und es ihm tatsächlich gelang zu überleben.

„Und jetzt frage ich dich Mel, was glaubst du, ist passiert, als er an Land kam?“

Euphorisch warf ich die Arme in die Luft und strahlte Mel an. Ich sah ihr an, dass sie dachte, ich habe jetzt den Verstand verloren.

„Weiß nicht“, murmelte sie undeutlich und skeptisch.

„In dem Moment, als er aufstehen wollte, konnte er es nicht. Seine Oberschenkelmuskulatur hatte sich abgebaut, weil er seine Beine nicht benutzt hatte. Und du, Mel, du schleppst diese schwere Schubkarre von Therapeut zu Therapeut. Das bedeutet ja, dass du heimlich nachts Kniebeugen machst. Also gebe ich dir einen Rat.“

Theatralische Pause und weit aufgerissene Augen bei Mel.

„Mein Tipp, nimm dir eine große Decke und lege sie über deine Beine, wenn du draußen bist und rumschieben lässt, sonst sieht noch einer, dass du eigentlich selber laufen kannst.“

Die ewig lange Stille, die nun eintrat, war lebendiger als alles, was ich bisher in einer Stunde erlebt hatte. Und als ich skeptisch wurde, ob sie mir aus dem „Kontakt“ gehen würde, weil ein Teil von ihr dieses unbewusst gelebte Muster nicht hergeben wollte, sagte Mel plötzlich mit gesenktem Kopf ganz leise:

„Am bequemsten war die Schubkarre bei D.* (geänderter Name des anderen Elternteils, der den Missbrauch duldete und mit Geschenken ein Schweigen erkaufte).

Die „gefangene“ Lebensenergie, die durch das Erkennen dieses Musters in dem Moment bei Mel frei wurde, brachte unsere Köpfe zum Schwirren. Es fühlte sich rauschartig an. Ohne dass es weiter ausgesprochen werden musste, hatte Mel begriffen, was sie im „Jetzt“ blockierte, sich ernsthaft mit ihren Traumathemen auseinanderzusetzen und vielleicht das Erlebte irgendwann heilen lassen zu können.

Sie „brauchte“ das akute Trauma, um in den sozialen Einrichtungen leben zu können und den Schritt in die Welt, mit allen Verantwortlichkeiten, nicht wagen zu müssen. Dieses übergeordnete Muster des „Sich herumtragen-Lassens“ hatte einen starken Gewinn und musste erst ins Bewusstsein, bevor sie sich den eigenen Urthemen stellen konnte.

Natürlich ist dies keine Verallgemeinerung für ähnliche Sachverhalte. Ich glaube, dass alle Muster, die uns „blockieren“ und unsere Lebensenergie binden, individuell wie ein Daumenabdruck sind und jeder Mensch seinen eigenen Rhythmus für seelische Heilungsprozesse hat.

Mel kehrte an diesem Abend sehr nachdenklich in ihre Einrichtung zurück. Sechs Monate später zog sie aus der Wohngruppe in ein Wohnheim, in dem ihr eine Ausbildung im gestalterischen Bereich angeboten wurde.

Cornelia Haller
Erzieherin, Ärztin und Schriftstellerin, seit 10 Jahren in der Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig
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