Stress als Schicksal?
Stress ist eine höchst subjektive Sache. Die meisten gesunden Erwachsenen halten eine ganze Menge an Umweltstress oder zwischenmenschlichen Belastungen aus. Ein mit Sirenengeheul vorbeifahrender Rettungswagen stört sie kaum, und Lackgeruch in Maßen beeinträchtigt ihr Wohlbefinden ebenso wenig wie der hohe Dauerton eines alten Fernsehgerätes oder das Schreibmaschinengeklapper eines Zimmernachbarn. Ihre Schuhe müssen vor allem schick sein, und Pullover suchen sie nach dem Label und der Farbe aus. Material, Passform oder Kratzigkeit sind für viele nur drittrangige Kriterien. Sie würden angesichts solcher Dinge noch nicht mal an Stress denken, ebenso wenig wie bei einer um die Ohren geschlagenen Nacht oder einer situationsbedingten Fast-Food-Diät. Konkurrenzsituationen oder kleine Konflikte werden oft als belebender Anreiz gesehen, egal ob in der Beziehung, am Arbeitsplatz oder beim Sport.
Andererseits gibt es sehr empfindliche Menschen, die solche Faktoren sehr wohl als nennenswerte Belastung erleben. Dämpfe oder Staub in der Luft können sie ebenso beeinträchtigen wie musikalische Berieselung am Arbeitsplatz, Vibrationen, Sirenengeheul, Dauergeräusche, enge Hosengummis oder Krümel im Bett. Schlafmangel wirft sie leicht aus der Bahn, Hunger kann sie gereizt machen und ihre Leistungsfähigkeit verringern, und ein Tag ohne eine gute Mahlzeit kann ihnen Angst machen. Viele von ihnen werden von Spannungen oder Konflikten in Nahbeziehungen verwirrt und extrem belastet, Konflikte halten sie kaum aus und Wettbewerbssituationen sind ihren Leistungen abträglich.
Diese hochsensiblen Personen (kurz HSP genannt) nehmen sehr viel wahr, bemerken für andere Menschen kaum nachvollziehbare Mengen an Feinheiten und Details und verarbeiten ihre Wahrnehmungen sehr gründlich. Ihre individuellen Eigenheiten und Empfindlichkeiten sind breit gestreut und in den unterschiedlichsten Bereichen angesiedelt. Allen gemeinsam ist jedoch die Tendenz zur Überstimulation. Ihr Gehirn scheint Reize allgemein weniger zu filtern, und obendrein verbrauchen ihre automatischen Bemühungen um tieferes Verständnis, Gewissenhaftigkeit und Vorausschau ständig nervliche Energien. Verständlicherweise sind sie in Alltagssituationen viel weniger belastbar, und erreichen den unangenehmen Zustand der Reizüberflutung und Dauererregung viel früher als durchschnittlich sensibe Menschen.
Jede HSP kennt diesen Zustand der Überstimulation aus eigener Erfahrung. Verschiedenste Ursachen können dazu führen, oft auch eine Verkettung kleiner, unscheinbarer Ereignisse, die im Einzelnen der Aufmerksamkeit entgehen. Es ist ein üblicherweise als unangenehm erlebter Erregungszustand, eine gespannte Reaktionsbereitschaft die sich meist auch in Muskelspannung, erhöhtem Herz- und Atemrhythmus und eventuell Schweißausbrüchen körperlich äußert. Damit verbunden sind häufig Gefühle des Ausgeliefertseins und der entglittenen Kontrolle oder Verwirrtheit. Die Stimme wird höher, die Aufmerksamkeit steigt, während die Konzentrationsfähigkeit und die Gedächtnisleistung sinken, Feinmotorik und allgemeine Körperkoordination können beeinträchtigt sein, ebenso die Entscheidungsfähigkeit.
Wenn wir uns vor Augen halten, dass diese Menschen von Reizmengen, die von anderen als angenehm anregend erlebt werden, in Stress versetzt werden, erscheint es verständlich, dass viele von ihnen immer wieder bewusst oder unterschwellig an der eigenen Normalität, an der eigenen Gesundheit zweifeln. Doch während Hochsensibilität zwar verletzlicher und für alle möglichen Krankheiten und Leiden anfälliger macht, so ist sie doch in sich weder Krankheit noch Makel. Es ist einfach eine Facette im Bereich der menschlichen Veranlagungen, wie Linkshändigkeit oder rotes Haar – jedoch mit weit reichenden Konsequenzen.
Diese besonders empfindsamen HSP haben es in vieler Hinsicht schwerer in der heutigen Welt, in welcher Leistung, Durchsetzungsvermögen, extrovertierte Selbstdarstellung und Coolheit gesellschaftliche Wertmaßstäbe darstellen. In der Folge sind eine erhebliche Anzahl von ihnen fast ständig überstimuliert. Das ist nicht nur unangenehm, sondern auch gefährlich, und deshalb ein Gesundheitsproblem von gesellschaftlicher Relevanz. Nicht die Stressvermeidung um jeden Preis ist das Ziel, sondern die Verhinderung von Überstimulation als Dauerzustand. Zur Verdeutlichung der Aussage wollen wir die physiologischen Zusammenhänge etwas genauer anschauen.
In akuten Stresssituationen werden die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin ins Blut ausgeschüttet. Ersteres bereitet den Körper auf eine Flucht- oder Kampfsituation vor, zweiteres ist ein Neurotransmitter, der das Gleiche mit dem Gehirn macht – es wird für schnelle Bewertungen und Entscheidungen in Schwung gebracht. Erfährt der Metabolismus innerhalb einer gewissen Zeitspanne mehrere Adrenalinstöße, so wird das für Dauerstress zuständige Hormon Cortisol ausgeschüttet, was Körper und Geist in nachhaltige Alarmbereitschaft versetzt. Wie viele bzw. wie starke Aufregungen oder Störungen dafür notwendig sind, variiert von Mensch zu Mensch, bei manchen HSP können jedoch schon drei relativ geringfügige Unterbrechungen der Konzentration innerhalb einer halben Stunde dazu führen. Untersuchungen an einer amerikanischen Universität haben gezeigt, dass hochsensible Kleinkinder schon bei einer einzigen Konfrontation mit etwas Unbekanntem in den Cortisolzustand wechseln, wenn sie davor zwei Stunden lang mit einer nur mäßig aufmerksamen Betreuungsperson verbracht haben.
Diese chemischen Botenstoffe und die von ihnen hervorgerufenen Zustände haben ihre evolutionäre Bedeutung und Funktion. Cortisol, das dem Cortison sehr verwandt ist und auch sehr ähnlich wirkt, sorgt in Krisenzeiten dafür, dass wir nicht durch oberflächliche Krankheitssymptome an der Bewältigung der Krise gehindert würden. Vorstellbar wären da die tagelange Flucht vor einem Feind, herbstliche Arbeitsspitzen zum Anlegen von lebenswichtigen Wintervorräten, oder – zeitgemäßer – das Betreuen eines kranken Kindes. Es gibt einfach Zeiten, in denen wir besonderen Anforderungen gegenüberstehen oder über einen längeren Zeitraum hinweg besonders viel auf dem Spiel steht. Weil es in solchen Ausnahmefällen kontraproduktiv oder gefährlich wäre, Rücksicht auf die eigene Befindlichkeit zu nehmen, wird diese hormonell in den Hintergrund geschoben.
Prof. Dr. med. G. K. Stalla, Internist und Endokrinologe am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, sagt: "Cortisol ist gewissermaßen Superbenzin für den Körper, wenn es anstrengend wird." Wird dies jedoch über Monate oder gar Jahre hinweg zum Dauerzustand, ist die Gesundheit ernsthaft bedroht, unsere Körper sind nicht dafür gebaut. Zu den beobachteten körperlichen Veränderungen, die ein langfristig hoher Cortisolspiegel hervorrufen kann, gehören in erster Linie immunologische Störungen, die zu einer erhöhten Infektanfälligkeit und einer Zunahme von Krebserkrankungen führen, aber auch Diabetes, Hypertonie, Arterienerkrankungen, Muskelschwund (v. a. an den Beinen), Knorpelabbau und folglich Probleme mit Gelenken, Aufbau von Fettgewebe, v. a. auf Kopf ("Mondgesicht") und Rücken ("Büffelrücken", früher "Witwenhöcker"), Osteoporose und bei Kindern Wachstumsstörungen. Zu den psychischen Veränderungen zählen Launenhaftigkeit, Verwirrung, Burn-out, Depression und Selbstmordneigung. Auch Schlafstörungen mit allen bekannten Auswirkungen auf Psyche und Körper sind zu nennen, ebenso – insbesondere bei Frauen – ein merklich schlechteres Kurzzeitgedächtnis und Wortfindungsstörungen.
Die meisten Menschen werden nur in lange anhaltenden extremen äußeren Umständen über Monate hinweg einen gefährlich erhöhten Cortisolspiegel aufweisen, etwa in Kriegszeiten oder wenn sie tagtäglich ausgeprägtem Mobbing ausgesetzt sind oder – wie die alte Bezeichnung "Witwenhöcker" andeutet – wenn beispielsweise eine durch Partnerverlust in Armut geratene Frau ohne Unterstützung durch Familie oder ein entsprechendes Sozialsystem eine Kinderschar durchbringen musste.
HSP hingegen erreichen diesen Zustand häufig bei viel geringeren Anlässen. Interessanterweise lassen sich bei ihnen selbst in längeren Phasen der Ruhe und Entspannung höhere Basiswerte von Noradrenalin und Cortisol im Blut oder anderen Körperflüssigkeiten nachweisen als bei durchschnittlich sensiblen Menschen. Während Adrenalin und Noradrenalin relativ rasch wieder abgebaut werden, kann es bei Cortisol auch einige Tage dauern, bis der Normalzustand wieder hergestellt ist. Gibt es innerhalb dieser Frist wieder eine kleine Häufung von Aufregungen oder Konfrontationen, so wird der Zustand verlängert und vertieft.
Die Wurzel der Andersartigkeit der hochempfindlichen Menschen liegt in einem anders veranlagten Nervensystem, wie Iwan Pawlow und Carl Gustav Jung vermuteten, und Jerome Kagan, ein Psychologe und Temperamentsforscher der Universität Harvard vor wenigen Jahren nachwies. HSP halten nicht weniger aus als andere, sondern sie nehmen in derselben Situation viel mehr wahr, und erreichen deshalb viel schneller schmerzhafte Überlastungsgrenzen bzw. den von Cortisol hervorgerufenen Dauerstressmodus.
Diese intensivere Wahrnehmung, die je nach persönlicher Ausformung ihren Schwerpunkt in den verschiedensten Bereichen haben kann, hat jedoch auch ihre sehr angenehmen Seiten. Ist erst mal das Gesamtbild halbwegs im Lot, so sind es gerade die vielfältigen Nuancen, die Schattierungen und feinen Abstufungen, die Tiefe des Blickes und die komplexe Fülle der Wahrnehmung, die das Leben reich machen. Mystisch anmutende Zustände der Verbundenheit mit anderen Menschen, der Natur oder auch der Welt als Ganzes liegen ebenso im Erlebnisspektrum hochsensibler Menschen wie sinnliche Verzückungen bei bestimmten Musikstücken, Kunstwerken oder harmonischen Landschaften, aber auch beim Singen einer Amsel oder der überraschen vom Wind zugetragenen Duftwolke eines Fliederstrauches.
Manche HSP werden in Kaffeehäusern unansprechbar, weil sie völlig ausgelastet sind mit den sie überschwemmenden Wahrnehmungen der unterschiedlich emotionalen Begegnungen an den Tischen um sie herum, die sie oft besser erspüren und verstehen als die direkt betroffenen Menschen selbst. Andere beziehen eine fast als körperlich zu bezeichnende Befriedigung aus der Beschäftigung mit anspruchsvollen intellektuellen Inhalten. Vermutlich sind alle Hochsensiblen auch als Hochbegabte zu bezeichnen, wenngleich sich bei vielen die Begabung in Bereichen befindet, für die es keine gesellschaftliche Anerkennung gibt. Oder aber die Talente können gar nicht an die Oberfläche kommen, weil der sensible Mensch ständig mit Alltagsüberforderungen kämpft.
Viele HSP sehen nur die Kehrseite der Medaille und wünschen sich, ihre Sensibilität zu verlieren, um einfach so zu sein wie alle anderen auch. Doch ohne die feine Wahrnehmung, ohne den emotionalen "Röntgenblick", ohne die Tiefe des Gefühls und der Einfühlsamkeit, ohne den Reichtum des Innenlebens und der Empfindung bliebe kaum Genussvolles für sie.
Abgesehen davon, dass sich das wohl nicht erreichen lässt, ist somit nicht die Abschaffung der Sensibilität die Lösung, sondern die weitgehende Vermeidung ihrer unangenehmen Nebenerscheinungen. Es geht um die Verhinderung des Dauerstresses und damit aber nicht nur um ein angenehmeres Leben, sondern um Gesundheit und Leben. Dazu müssen sie lernen, für das Wohlergehen ihres feinen Nervenkostüms zu sorgen. Weil die Eigenschaften und Bedürfnisse dieses speziellen Nervensystems teilweise denen eines kleinen Kindes gleichen, sprechen wir vom "Kleinkindkörper" der HSP.
Wie Mutter oder Vater eines kleinen Kindes müssen Hochsensible ihren Kleinkindkörper vor Überlastung bewahren, ohne ihn zu verzärteln. Sie müssen seine Grenzen kennen lernen, sie respektieren, und im Laufe der Zeit sanft erweitern. Sie müssen wissen, was sie tun können um seine Stresstoleranz kurzfristig zu erhöhen, und womit sie ihn wieder normalisieren können, wenn er doch einmal in den unangenehmen und langfristig gefährlichen Dauerstressmodus eingerastet ist. Die besondere Schwierigkeit mit dem Kleinkindkörper liegt darin, dass er sich nicht klar artikuliert. Wie ein Säugling, der schreit wenn es ihm nicht gut geht, und wohlig gluckst, wenn alles bestens ist, drückt er sich nur unmittelbar durch seine Befindlichkeit aus, kann aber nicht detailliert sagen, was er denn bräuchte, um sich wieder wohl zu fühlen.
Ein leider nur geringer Prozentsatz von HSP lernen schon als Kinder und Jugendliche ihren Betreuungspersonen, solche Zustände zu vermeiden bzw. mit ihnen umzugehen. Dies ist nicht nur für die Betroffenen bedauerlich, sondern auch ein Verlust für die gesamte Gesellschaft. Die Hochempfindlichen – immerhin 15 Prozent der Menschen haben mit ihren feinen Wahrnehmungen und der tiefen, gründlichen Reflexion sicherlich eine Rolle zu spielen in der Symphonie der gesellschaftlichen Entfaltung. In Kulturen waren sie eine eigene Klasse, besonderen Schutz genoss. Sie waren sind die geborenen Schamanen, Priester, Heiler, Lehrer, Mediatoren und Künstler, Querdenker, Tüftler und Erfinder. Der größte Teil dessen, was uns heute das Leben leichter und angenehm macht, wurde von Menschen dieser Eigenart entwickelt. Leben ist Team-Aufgabe, und in unserer modernen Welt mehr denn je. Die Welt braucht gesunde und leistungsfähige Menschen unterschiedlichster Art, auch die hochsensiblen, intuitiven und zarten.
Zur vertiefenden Lektüre
"Zart besaitet" von Georg Parlow
€ 21,50
ISBN13: 9783950176506
zu bestellen im Buchhandel oder beim Festland Verlag
Fax +43-01-889 93 44
www.festland-verlag.com