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Diagnose: Depression

Oder: Es muss nicht überall Depression drin sein, wo Depression draufsteht

Die Prävalenz depressiver Erkrankungen liegt bei ungefähr 8%, in Deutschland ist nach einer Statistik der DAK die Rate der Arbeitsausfälle infolge von Depression von 2000 bis 2005 um 42% gestiegen, die Suizidmortalität bei schwer depressiv Erkrankten wird mit bis zu 15 % angegeben wobei Suizidversuche aufgrund ihrer hohen Dunkelziffer wesentlich häufiger zu verzeichnen sind als Suizide selbst (5 bis 15 :1) – erschreckende Zahlen, die berechtigten Anlass zur Sorge bieten.


Doch wo Symptombeschreibungen wie anhaltend traurige Stimmung, Hoffnungslosigkeit, Müdigkeit, innere Leere ("Gefühl der Gefühllosigkeit"), gestörte Aufmerksamkeit und Konzentration, einförmiges, unproduktives Denken, Schlaf- und Appetitstörungen, Verlust der sexuellen Appetenz, Rückenschmerzen und Obstipation, um nur die kardinalen zu nennen, manch eifrigen Naturheilkundler den Teufel im Amalgamzahn sitzend vermuten lassen, muss die Kehrseite der Medaille genauso fragwürdig erscheinen: aus dem Fluss der Symptome einzelne herauszuangeln und (vor-)schnell den Stempel Depression aufzudrücken.

Falldarstellung

Frank M. war Anfang 40, als er zu mir kam, wirkte allerdings sehr viel jünger und ohne jede Aufdringlichkeit attraktiv, er war freundlich, aber zurückhaltend und schien auf den ersten Eindruck über einen sehr feinen Humor zu verfügen.

Seinem Bericht zufolge litt er an Depressionen – da führte kein Weg daran vorbei: lustlos, müde und ohne Perspektive, beruflich und privat noch viel weniger.

Aus fachärztlicher Untersuchung ergaben sich keine Hinweise auf biochemische/neurophysiologische Zusammenhänge.

Zunächst, so muss ich zugeben, war ich geneigt, ihm diese Diagnose vorbehaltlos abzukaufen.

In der Tat schien er sehr hilflos. Und sehr in der Tinte zu sitzen: Frau weg. Job weg. Lebensmut weg. Unabänderlich.

Die Triade negative Sicht der Welt, der eigenen Person und der Zukunft war durchaus zu erkennen.

Frank M. schilderte sein Leben als völlig aus dem Ruder laufend: Er lebt seit mehr als zehn Jahren allein in einer Wohnung, die er beim besten Willen nicht in Ordnung halten kann, vor kurzem verlor er zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit seinen Arbeitsplatz, der Draht zu seiner Familie ist dürftig, der zu Freunden und Bekannten noch dürftiger: Niemand darf ihm zu nahe kommen, da er sonst weder zimperlich noch sparsam darin ist, Gemeines und Boshaftes auszuteilen. (Er gönnt es sich, zu treten, sagt er.) Er möchte mit niemandem zusammen sein. Er möchte aber auch nicht alleine sein. Er sehnt sich danach, verstanden und geliebt zu werden, was aber nach seiner Logik nie der Fall sein wird, da er sich selbst nicht liebt und ebenso wenig Respekt vor sich hat. Seine Stimmung ist zeitweise beängstigenden Wechseln bis hin zum Verlust der Selbstbeherrschung unterworfen, manchmal fühlt er sich für Tage innerlich leer und langweilig, ohne sich zu konstruktiven Tätigkeiten animieren zu können.

Er hat einfach keine Lust mehr, sich um jemanden oder etwas zu bemühen. Und doch waren sie da, die feinen (und auch manchmal weniger feinen) Regungen in ihm, die ein Potential an Energie, Abenteuerlust und unbedingtem Festhalten am Leben erahnen ließen und einfach nicht so recht ins Licht des Primärproblems Depression passen wollten. Eher in den Bereich einer Persönlichkeitsstörung: das Borderline-Syndrom.

Wobei eine Störung ja noch keine Krankheit ist. Allerdings aber auch nicht den Gewinn einer solchen mit sich bringt. Diese vorsichtige Überlegung formulierte ich in der Frage, was wäre, wenn seine gewünschten "besseren" Verhältnisse tatsächlich Realität wären und er ab sofort glücklich dahinleben könnte? Wörtlich antwortete Frank M.: "Das wäre schöne Scheiße."

Persilschein Depression? Der es erlaubt, berufliche Desorientierung damit zu entschuldigen? Ebenso das erstaunliche Geschick in zwischenmenschlichen Manövern, die die Umgebung zur Befriedigung seiner Bedürfnisse zwingen (um es nicht Manipulation zu nennen)? Sich einfach auf äußere Quellen verlassen zu dürfen, die schon irgendwie Erfüllung und Sinn ins eigene Leben zaubern werden?

Oh, denken Sie nicht, dass Frank M. mir nicht wiederholt die Ausweglosigkeit seiner Lage zu versichern versucht hätte. Dass er nicht mehrmals den Satz verwendete: "Ich bin aber krank!" Und dennoch: Für eine ausgewachsene Depression schien er außerordentlich agil zu sein.

Er ist ein passionierter Marathonläufer (laut einer Sportzeitschrift hegen Männer, die sich dieser Betätigung hingeben, eine Aggression gegen ihren eigenen Körper – Autoaggression als Symptom der Borderline-Persönlichkeit), er engagiert sich in seiner Kirchengemeinde und für junge Menschen (weil er glaubt, ein besserer Mensch werden zu müssen – Anfälligkeit für Ideologien, ebenfalls Borderline- Persönlichkeit), er liebt das Reisen, kann sich einige abenteuerliche Herausforderungen durchaus vorstellen (Leben im Extrem, um der Langeweile zu entkommen: Borderline- Persönlichkeit), er hat Pläne – für seinen Beruf wie auch für seine Zukunft überhaupt (allerdings Schwierigkeiten bei der langfristigen Umsetzung, typisch für Borderline-Persönlichkeiten), er ist begierig zu leben und er ist witzig.

Darüber hinaus schien mir als entscheidendes Merkmal, mich endgültig gegen die Diagnose Depression zu wehren, dass er, borderlinetypisch, abgesehen von seiner sonstigen Zerrissenheit über eine auffällig unausgewogene Mischung zwischen seiner liebenswürdigen und seiner zerstörerischen Seite verfügte.

Sehr liebenswürdig war er im Umgang mit Menschen, die Distanz zu ihm wahrten: Arbeitskollegen, Nachbarn, Bekannte.

Mehr als zerstörerisch aber gegenüber jedem, der ihn liebte: Familie, Freunde – eine Frau in seinem Leben – undenkbar, das wäre Bedrohung pur für ihn.

Was vorlag, war ein ausgeprägter Nähe- Distanz-Konflikt, dessen Schärfe darin lag, dass Frank M. sich nie erleichtert fühlte, wenn er seiner Wut einmal mehr Raum gegeben und diejenigen "getreten" hatte, die ihm zu nahe kamen, obwohl er in deren Getroffenheit doch einen deutlichen Erfolg für sich hätte verbuchen können. Nein, er fühlte sich nach einem Verbalangriff nicht besser, sondern identifizierte sich stattdessen mit seinem Gegenüber.

Wir kamen zu dem Schluss, dass er tatsächlich das am härtesten verletzt, was er am meisten liebt.

Seine beruflichen Schwierigkeiten lagen dabei nach ausgiebiger Beleuchtung im ähnlichen Wendekreis: Er wollte sich nichts sagen lassen. Von niemandem. Aber er wollte mit seinen Aufgaben auch nicht auf sich allein gestellt sein.

Die unaufgeräumte Wohnung ließ sich also auch nicht mehr so einfach durch die mangelnde Tatkraft einer Depression entschuldigen: Vielmehr schien es so zu sein, dass er nicht aufräumte und Müll sammelte, weil er nicht(s) loslassen konnte.

Seine unbefriedigenden privaten Beziehungen wuchsen nicht daraus, dass er sich zu müde zum Lieben oder für eine neue Beziehung fühlte, sondern aus der Schieflage, dass er alle seine destruktiven Aktivitäten vorrangig aus Angst betrieb: dass er sich selbst nicht so verletzbar machen wollte, wie er andere verletzte, dass er selbst die Übergriffigkeit nicht hätte ertragen können, mit welcher er andere behandelte, weshalb er sich seine Gefühle lieber gleich verbot und stattdessen erfolgreich das Treten übte. Damit Freunde bald vor ihm flüchteten. Aus Selbstschutz oder weil seine Aggression die Freundschaft zu sehr zerstört hatte. Oder weil sie sich nicht mehr länger grundlos beschimpfen und bloßstellen lassen wollten. Sie gingen und erfüllten seine tiefsitzende Angst vor dem Verlassenwerden.

Wir kamen dazu, dass er nicht primär depressiv, sondern in seiner Persönlichkeit gestört war. Dass er eine Borderline-Persönlichkeit pflegte, die Familie und Beziehungen zum Alptraum machte. Aber eine Störung ist, wie gesagt, noch keine Krankheit.

Allerdings sollte eines wie das andere fraglos behoben werden. Auch in seinem Fall muss nach den Ursachen geforscht werden. Und in erster Linie danach, was er wirklich will. Damit er endlich damit aufhören kann, lauthals schreiend zu verkünden, was er nicht will.

Auf den Besuch bei mir sollte unmittelbar ein Aufenthalt in einer Psychosomatischen Klinik folgen. Er muss sich aus dem Verkehr ziehen, er muss sich einliefern lassen, er ist ja krank. Sagte Frank M.

Persilschein Depression: Er legitimiert den Aufenthalt in einer Klinik, in der sich Ärzte, Schwestern und das sonstige Personal ihm zu Füßen (mit welchen man bekanntlich am besten treten kann … wenn es mal wieder zu nahe wird) darum bemühen, seinen Lebenssinn zu ihm zurückzubringen. Als positiver Nebeneffekt wird ihm noch das Bett gemacht, das Zimmer gesaugt, das Mittagessen gekocht. Und für das große Kind Frank M. das Teefläschchen neben sein Tellerchen gestellt. Sehr bequem. Das schon. Aber auch genau mehr von dem, was er bereits ungesunderweise täglich manipulierte und lebte:

"Frank M., wann wollen Sie endlich damit beginnen, selbstbestimmt zu leben, statt die Verantwortung für ihr Leben abzugeben? Sich selbst zu finden, statt sich von anderen abhängig zu machen?"

Wieder ist er in sein Muster verstrickt: Er weiß, dass er so eigentlich nicht weitermachen möchte. Er weiß, was er nicht will. Aber er weiß nicht, was er will.

"Stehen Sie wirklich hinter einem Klinikaufenthalt?"

Für Frank M. hätte er den Nutzen, dort weder allein noch richtig zusammensein zu müssen. Und unbequeme Aufgaben abgenommen zu bekommen. Primär also Fluchtfaktor: Borderline-Symptom flüchtet in Depressionstherapie.

Sein Bauchgefühl sprach dagegen, das kann nicht gutgehen. Quasi in letzter Minute sagte er den Klinikaufenthalt ab und ließ sich zu einem Münchner Psychotherapeuten und Fachmann für das Borderline-Syndrom überweisen.

Erfolgversprechende Therapiemöglichkeiten für Borderline-Persönlichkeiten sind neben der klassischen Behandlungsmethode Psychoanalyse auch das Psychodrama und als praktische Alltagshilfe erlernenswert das autogene Training: Nicht nur, dass der Betroffene sich selbst wieder fühlen lernt, es kann ihm auch dann einen Gewinn bringen, wenn er wieder einmal in seinen "Wutzustand" gerät, in dem er glaubt, sich selbst oder andere treten zu müssen.

Begleitend entschied sich Frank M. für die Logotherapie nach Viktor E. Frankl. Für seine Entwicklung wurde es mehr als hilfreich, gemeinsam mit dem Therapeuten eine heilende Lebensbilanz zu ziehen, seine Werteorientierung neu zu klären und den Sinnfaden seines Lebens wieder zu entdecken.

Dieses Beratungsgespräch zeigt, dass man differentialdiagnostisch immer auf der Hut sein sollte, gerade wenn es um eher weiche Trennlinien wie der zwischen einer Borderline- Persönlichkeit und einer Depression geht. Vorsicht ist darüber hinaus vor allem dann geboten, wenn man Wind davon bekommt, dass eine Diagnose zum Freifallschein benutzt wird (wenngleich abstürzen und sich dann auffangen lassen bisweilen auch Sinn machen kann).

Gleichermaßen unscharf kann allerdings auch die Linie zwischen gesund und krank sein – gerade wenn es um Persönlichkeitsstörungen geht.

 


Buchempfehlungen:
Joachim Gneist: Wenn Hass und Liebe sich umarmen, Piper Verlag
Jerold J. Kreisman/Hal Straus: Ich hasse dich, verlass’ mich nicht, Kösel Verlag

Verena Körner
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