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Eine Frage der Persönlichkeit

Wie unterschiedlich „ticken" introvertierte und extrovertierte Menschen wirklich. Welche Auswirkungen hat das auf die psychotherapeutische Behandlung?

Vielleicht sind Sie ein Mensch, der nach einer langen, durchtanzten Nacht aus einem Club kommt und gleich vor Ideen sprüht, in welchem Etablissement sich am besten weiterfeiern ließe. Oder fühlen Sie sich auf einer lebhaften Party nach einer Weile eher überfordert und sehnen sich nach einem ruhigen, gemütlichen Abend mit einem Buch auf Ihrem Sofa? Macht es Ihnen wenig aus, bei der Arbeit unterbrochen zu werden, oder müssen Sie vollkommen konzentriert in Ihrer Arbeit versinken können, um eine Aufgabe erfolgreich zu beenden? Stehen Sie gerne in einer großen Gruppe im Mittelpunkt und genießen es, mit jedem ein paar Worte zu wechseln, obwohl Sie die Betreffenden kaum kennen? Oder fühlen Sie sich wohler mit wenigen engen Freunden in einer kleinen Runde bei intensiven Gesprächen?

In der Differentiellen- und der Persönlichkeitspsychologie, die befasst ist mit denjenigen Besonderheiten eines Menschen, die verantwortlich sind für feste individuelle Muster des Fühlens, Denkens und Handelns und die über Zeit und Situation relativ stabil bleiben, spielen die Persönlichkeitsfaktoren Introvertiertheit und Extrovertiertheit traditionell eine herausragende Rolle. Für einige Persönlichkeitspsychologen sind diese auf einer Temperamentsskala diametral entgegengesetzten Faktoren sogar der zentrale Baustein der Persönlichkeit.

Zu welchem Ende des Temperamentsspektrums Sie neigen, bestimmt mit hoher Wahrscheinlichkeit, welche Erfahrungen Sie mit gesellschaftlicher Bewertung gemacht haben. Während extrovertierte Menschen als erfolgreicher, sozial intelligenter und kompetenter angesehen werden, gelten Introvertierte häufig als verschroben, kontaktarm und in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen eingeschränkt. Während Extrovertiertheit als erstrebenswert und häufig sogar als Grundvoraussetzung für ein erfülltes Leben angesehen wird, werden jene Menschen, die weniger stark nach außen orientiert sind, als psychisch problematisch eingestuft.

Die Abwertung und Pathologisierung der Introversion hat eine lange Geschichte, bereits Freud sieht Introvertiertheit als die neurotische Flucht vor den „realen Möglichkeiten der Libido". Unfähig, sich ihrer Libido zu stellen, ziehen sich introvertierte Menschen in ihr Innenleben zurück.

Auch in den Jahren nach Freud bis in unsere Zeit hing dem Persönlichkeitsmerkmal Introvertiertheit oft der Ruf der zumindest niedriggradigen Pathologie an.

In jüngerer Zeit scheint es, schaut man sich zumindest die vor allem in den USA geführte Diskussion zu diesem Thema an, eine Neubewertung der mit dem Label Introvertiert versehenen Menschen zu geben, die doch immerhin etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. Autoren wie die Psychologin Marti Olsen Laney oder die Wissenschaftsjournalistin Orli van Mourik beschäftigen sich mit dem Phänomen und unternehmen den Versuch, eine lange unterschätzte und abgewertete Persönlichkeitsdimension zu rehabilitieren und als eine definitiv nicht pathologische Facette der menschlichen Natur zu zeigen. Introvertierte Menschen mögen nicht gerne der Mittelpunkt des Interesses sein, aber ihre Persönlichkeit  stattet sie mit ganz eigenen Vorteilen und Fähigkeiten aus.

Therapie und Introversion

Als Therapeuten oder Psychologische Berater sind wir immer dann gefragt, wenn die Menschen, die uns als Klienten gegenübersitzen, aufgrund ihrer seelischen Befindlichkeit einen so großen Leidensdruck aufgebaut haben, dass sie alleine nicht mehr damit zurechtkommen und sich professionelle Hilfe holen.

Ob vor unserem Klienten und uns eine langfristige psychotherapeutische Behandlung liegt oder wenige begleitende Sitzungen zur Auflösung der Problematik genügen - es ist wichtig, dass wir offen und aufmerksam für das Feld jenseits der reinen Symptomatik bleiben. Das Feld, das eine so grundlegende Rolle bei der Einschätzung der Situation spielt und doch so mysteriös bleibt: die Persönlichkeit.

Introvertierte Menschen haben zwar meist weniger Bekannte als Extrovertierte - aber sie pflegen häufig intensivere Freundschaften zu wenigen Menschen und sind keineswegs die kontaktarmen Eigenbrötler, als die sie oft dargestellt werden. Sie können ebenfalls lebhaft, aufgeschlossen und sozial aktiv sein, unterscheiden sich aber primär in drei wichtigen Charakteristika von ihren extrovertierteren Zeitgenossen.

Diese Faktoren können eine äußerst wichtige Rolle spielen, wenn der Klient uns seine Symptomatik berichtet, denn ob wir einen Introvertierten oder Extrovertierten vor uns haben, macht einen großen Unterschied. Es ist durchaus möglich, dass das Introvertiertsein von einem Klienten selbst und seiner Umwelt allein schon aufgrund der einseitigen Orientierung unserer Gesellschaft zum extrovertierten Pol als problematisch erlebt wird.

In Unkenntnis oder Nichtbeachtung der Besonderheiten von introvertierten Menschen kann sich für die Betroffenen ein hoher Leidensdruck aufbauen. Sie wissen und spüren, dass sie „anders" sind, allerdings ist ihnen nicht unbedingt klar, dass manche ihrer „Symptome" oder ein Teil der durchaus negativen Resonanz von außen nicht etwa auf ein psychisches Problem schließen lassen, sondern auf einen introvertierten, aber völlig gesunden Menschen, der fähig ist Lebensfreude zu empfinden, wenn er nur so sein darf, wie er eben ist.

Energiegeneration - sind sie ein Akku oder eine Solarzelle?

Der Aspekt, der das Verhalten von Intro- oder Extrovertierten am deutlichsten beeinflusst, ist die Frage, aus welcher Quelle sie ihre Energie beziehen.

Introvertierte Menschen vergleicht Olsen Laney in ihrem Buch „Introvert Advantage" mit Akkus. Um aufzutanken und ihre Kräfte zu erneuern, gehen sie eher in sich und finden Ruhe und die daraus gezogene  Kraft in ihrer „inneren" Welt, in Gedanken, Ideen und Emotionen. Introvertierte sind nicht unbedingt auffallend ruhig oder zurückgezogen, aber ihr Fokus liegt tendenziell mehr auf inneren Vorgängen als auf äußeren Ereignissen.

Sie brauchen Ruhe, um Energie zu generieren und zu speichern, und da Energiespeicher begrenzt sind, müssen sie - beinahe gezwungenermaßen - mit ihren Reserven bewusster und sparsamer umgehen als Extrovertierte. Zu viel Stimulation aus der Außenwelt überfordert introvertierte Menschen und wenn sie nicht den Raum und die Zeit haben, um ihre Akkus wieder aufzuladen, fühlen sie sich ausgepowert und überstimuliert.

Stimulation

Die Reaktion auf Stimulation ist ein weiterer Faktor, der die „Funktionsweise" von Extro- und Introvertierten unterscheidet.

Extrovertierte Menschen „funktionieren" eher wie Sonnenrezeptoren, sie beziehen Energie aus der Außenwelt, aus äußerer Anregung und Aktivität. Das Alleinsein oder ein Nachmittag mit nur ein oder zwei Menschen, etwas, dass das Akku des Introvertierten auflädt, bedeutet möglicherweise für Extrovertierte gleichzeitig Unterstimulation und Stress - sie brauchen die nächste Aktivität mit vielen Menschen, um Energie zuzuführen und aufzublühen.

Der deutsch-britische Persönlichkeitspsychologe Hans J. Eysenck entwickelte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Persönlichkeitssystem, das um die beiden Persönlichkeitsdimensionen aufgebaut war, die Eysenk als grundlegend ansah: den Grad des Neurotizismus einerseits und die Ausprägung von Introvertiertheit oder Extrovertiertheit andererseits.

Er stellte nicht nur diese Dimensionen in den Mittelpunkt seiner Persönlichkeitstheorie, sondern vermutete auch, dass den beobachteten individuellen Unterschieden auf einer Introversions-/Extroversionsskala Unterschiede in der Aktivität  des Frontalen Cortex des Gehirns zuzuordnen seien.

Eysenk ging davon aus, dass es eine physiologische Basis für die individuelle Ausprägung auf der Introversions-/Extroversionsskala geben könne. Entscheidend sei die Erregungsschwelle eines von ihm als ARAS (Aufsteigendes retikuläres Aktivierungssystem) bezeichnetes, den Cortex aktivierendes Hirnsystem. Diese Erregungsschwelle ist, so Eysenk, bei Extrovertierten höher. Ihr Aktivierungssystem ist im Ruhezustand vermindert aktiv, weshalb Stimulation von außen benötigt wird.  Bei Introvertierten ist das System chronisch überstimuliert und reizüberflutet. Ihr Cortex ist bereits im Ruhezustand stärker stimuliert und das Verhalten, das wir als typisch „introvertiert" bezeichnen, könnte ein automatischer Versuch des Gehirns sein, weitere  Überstimulation zu vermeiden. Studien, bei denen die Gehirnaktivität bei Stimulus von außen gemessen wurde, bestätigen Eysenks Theorie zumindest in Grundzügen als zutreffend.

Wissen und Erfahrungen verarbeiten

Die Art des Wissenserwerbs und dessen Verarbeitung ist der dritte zentrale Unterschied. In die Breite oder in die Tiefe, das hängt häufig davon ab, ob ein Mensch introvertiert oder extrovertiert ist.

Häufig trifft man unter Extrovertierten auf Generalisten, die äußere Reize stark aufnehmen, die dann aber weniger als bei Introvertierten innerlich verarbeitet und vernetzt werden. Während extrovertierte Menschen schon wieder den nächsten Reiz aufnehmen, verarbeiten ihre introvertierten Freunde und Kollegen das eben Gesehene oder Gehörte noch. Die Verarbeitung der Information ist intensiver, dauert länger und beschäftigt die Introvertierten mehr.  Daher findet man unter ihnen viele Experten auf einem oder wenigen Gebieten, dann allerdings mit einem sehr tiefgehenden Wissen.

Diese drei Merkmale sind typisch für introvertierte Menschen und das Wissen um die Unterschiede zu den zwei Drittel der Bevölkerung, die extrovertiert sind, ist wichtig.

„Was stimmt mit mir nicht?"

Durch die Brille der extrovertierten Welt betrachtet zeigt der Introvertierte  diverse Symptome, die auf den ersten Blick und unhinterfragt unter Umständen krankheitswertig (z. B. als Anzeichen für Autismus, Depressionen, Phobien, ADS, schizotype Störung) erscheinen mögen, und dergestalt kann das Feedback seiner Umwelt für den Betroffenen sein.

Eine Klientin beispielsweise, die mit der Befürchtung zu Ihnen in die Praxis kommt, an Depressionen oder einer Phobie zu leiden, weil sie sich im Gegensatz zu ihrem Umfeld auf Partys, Festen und Großveranstaltungen unwohl fühlt und manchmal am liebsten die Flucht ergreifen würde, wenn sie von jemandem angesprochen wird, den sie nicht kennt.

„Ich fühle mich in diesen Momenten total überfordert und möchte nur noch nach Hause, zu einem schönen Glas Wein und einem ruhigen Gespräch mit meiner Familie."

„Das oberflächliche Reden mit fremden Menschen ermüdet mich unheimlich" - so die Aussage eines anderen Klienten. „Wenn ich aber mit meinem besten Freund zusammensitze, können wir bis in die Nacht angeregt reden und ich habe Spaß daran."

Da introvertierte Menschen neurologisch eine niedrigere Stimulustoleranz haben, reagieren sie auf Stimulanz von außen anders und empfindlicher, als die meisten Menschen in ihrem Umfeld (es sei denn, sie sind selbst introvertiert) es erwarten.

  • Introvertierte können sich länger als Extrovertierte auf einen Film konzentrieren, der inhaltlich sehr stimulusarm ist.
  • Introvertierte haben eine deutlich niedrigere Toleranz für Lärm und ablenkende Geräusche.
  • Introvertierte überstehen längere Phasen, in denen sie von äußerer Stimulation abgeschnitten sind, leichter.
  • Introvertierte sind sich meist bewusster, welche intrapsychischen Abläufe zu einem bestimmten Handeln ihrerseits geführt haben, als Extrovertierte das sind.
  • Introvertierte benötigen höhere Dosen Schlafmittel als Extrovertierte, da ihr Nervensystem grundsätzlich stärker stimuliert ist.

Aus diesen neurologischen Besonderheiten ergibt sich, dass introvertierte Menschen sich schneller gestresst fühlen, ihr vegetatives Nervensystem stärker stimuliert ist und sie oft in Situationen empfindsam reagieren, die für einen Extrovertierten nicht nur kein Problem darstellen, sondern die diese sogar genießen.

Ein weiterer Aspekt, der von der Umwelt häufig als „egozentrisch" und „eigenartig" wahrgenommen wird, ist die relativ selbstgenügsame Art, die Introvertierte oft an den Tag legen.

Da sie sehr stark auf ihre innere Welt, Ideen und Gedanken orientiert sind, können sie oftmals abwesend, zerstreut oder desinteressiert wirken.

„Dabei hänge ich nur gerade meinen Gedanken nach" ist die typische Aussage eines Introvertierten. „Ich war gerade in einer anderen Welt."

Natürlich können sämtliche „Symptome" des Introvertiertseins auch auf psychische Schwierigkeiten hindeuten, allerdings sollte durch sorgfältige Beobachtung und Zuhören sowie durch gezielte Anamnese auch eine grundsätzliche Konstitution (intro-/extrovertiert) abgeklopft werden.

Der Teufelskreis, der durch die übereilte Pathologisierung introvertierten Verhaltens ausgelöst wird, ist für die betroffenen Patienten sehr schlimm.

Ruheräume schaffen

Was kann ein von Natur aus introvertierter Mensch nun tun, um in einer extrovertierten Welt in seinem Rhythmus leben zu können?

Als Erstes kann schon das Wissen darum, „normal" zu sein, wie eine Erlösung auf den Introvertierten wirken. Psychoedukative Information über die verschiedenen Persönlichkeitstypen kann den ersten Schritt heraus aus einer oft lebenslang gepflegten Annahme, mit einem stimme etwas nicht, bedeuten.

Entspannungstechniken, besonders die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen oder gezielte Atemübungen, mit denen trainiert werden kann, die Aufmerksamkeit bewusst zu kontrollieren, unterstützen den Spannungsabbau und verschaffen darüber hinaus die dringend benötigten „Auszeiten" von äußeren Stimuli.

Kognitiv-behavioristische Techniken können Introvertierte bei ihrem Lernprozess unterstützen.

Für diese ist es wichtig, in sich hineinzuhören und sich bewusst zu werden, wann sie sich zurückziehen müssen, um ihre Akkus aufzutanken. Dies sollte idealerweise schon prophylaktisch geschehen.

So ist es beispielsweise eine gute Idee, den Abend vor einem besonders wichtigen und hektischen Arbeitstag bewusst als Entspannen und Loslassen zu sehen. Keine Termine oder Verabredungen für diesen Abend zu machen, sondern die Ruhe zu zelebrieren, bewusst zu entspannen, z. B. ein Bad zu nehmen, keine langen und anregenden Telefonate zu führen.

Das kognitive und emotionale Verarbeiten der Tatsache, dass man einfach weniger belastbar ist als andere, kann helfen, den eigenen Weg zu finden.

Die Grenzen der eigenen Belastbarkeit kennen und schützen ist ein wichtiges Lernziel für Introvertierte. Ein weiteres ist, die äußere Welt nur so weit einzulassen, wie es dem Introvertierten gut tut, und doch ein aktiver Teil dieser Welt zu sein.

Zu lernen, dass es in Ordnung ist, auf der Party nur so lange zu bleiben, wie es einem Freude macht, und eben zu gehen, wenn die Gespräche ermüdend werden und die Laune sinkt. Dass es in Ordnung ist, die Freundin am Telefon zu bitten, das lange, intensive Telefonat auf morgen zu verschieben. Dass es in Ordnung ist, keinen riesigen Kreis von Bekannten zu haben, aber dafür zwei oder drei enge Freundschaften.

Dass es in Ordnung ist, introvertiert zu sein.

Literatur:

The Introvert Advantage: How to Thrive in an Extrovert World von Marti Olsen Laney
The Happy Introvert: A Wild and Crazy Guide to Celebrating Your True Self von Elizabeth Wagele
Terms Used by Psychoanalysis. Introductory Guide to Critical Theory von Dino Felluga

Carolina Asuquo-Brown Jahrgang 1972. M.A. Anglistik/Sprach-/ Medienwissenschaft, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf. Graduiertenstudiengang Psychologie, Metropolitan University, London. Staatlich geprüfte Heilpraktikerin (Psychotherapie), Gesundheitsamt Offenbach am Main, 2008. Kommunikationstrainerin. Weiterbildungen in Gestaltherapie

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