"Stille Katastrophen"
... ein Denkanstoß zur Begleitung von Eltern, deren Baby gestorben ist
Der Tod eines Kindes ist die größte Tragödie, die sich im Leben von Eltern ereignen kann. Ich möchte hierbei besonders auf die Begleitung jener Eltern eingehen, deren Baby in der Schwangerschaft bzw. während oder kurz nach der Geburt gestorben ist.
Schätzungen ergeben, dass deutschlandweit >85.000 Frauen/Jahr ihr Kind in der Schwangerschaft verlieren. Jede vierte Schwangerschaft endet vor der 25. Woche, in der Endphase wird jedes 130. Kind tot geboren. Unter ungünstigen Bedingungen kann dieses prägende Ereignis zu einem Trauma mit seelischen Beeinträchtigungen führen. Somit gehören verwaiste Eltern zu einer Risikogruppe z. B. für depressive Störungen, Suizidgedanken oder -impulse, Angststörungen, psychovegetative Beschwerden, Suchtmittelmissbrauch, Beziehungsstörungen in Partnerschaft, Familie, Beruf und Freundschaften. Eine Begleitung sollte deshalb früher und umfassender ansetzen, als weithin angenommen wird. Wenn trauernde Eltern von Anfang an Unterstützung erhalten und in einer offenen und zugewandten Art betreut werden, haben sie die Chance, den großen Verlust anzunehmen und diese Erfahrung in ihr Leben zu integrieren. Dies sind die Voraussetzungen dafür, um nach einer Zeit des intensiven Trauerns und der Auseinandersetzung wieder zu "heilen" und sich dem Leben neu und wahrscheinlich verändert zuzuwenden.
EINE EXISTENZIELLE ERSCHÜTTERUNG
Schwangerschaft und Geburt stellen für uns den Inbegriff von "Neubeginn" dar. Wenn ein Baby während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt stirbt, gerät die Welt der betroffenen Eltern aus den Fugen. Es erscheint einfach unnatürlich, dass die nach uns Geborenen vor uns sterben. Diese Grenzerfahrung betrifft existenzielle Lebensbereiche und kann oftmals die eigene Persönlichkeit, die Lebensplanung und den Lebenssinn, Partnerschaft und soziale Beziehungen infrage stellen. Nichts ist mehr dort, wo es vorher war. Gefühle, die bisher fremd waren, überrollen die Trauernden. Sie erleben sich und die Welt anders. Aufgrund des verbreiteten Tabus, zu den von Fehl- oder Totgeburt Betroffenen durch wirkliches "In-Kontakt- Treten" eine Brücke zu bauen, bleiben die Eltern häufig mit ihrer Trauer alleine. Eine besondere Trauersituation stellt der Verlust durch einen Schwangerschaftsabbruch dar. Gerade nach diesem Eingriff können unbearbeitete Gefühle wie Schuld und Scham zur Isolation führen. Die Umwelt nimmt nicht am Trauerprozess teil oder reagiert bei Abbruch einer unerwünschten Schwangerschaft auf die Trauer mit Unverständnis ("Du wolltest es doch so!"). In diesen Fällen ist Verdrängung häufig anzutreffen. Selbst nach langer Zeit können verzögerte Trauerreaktionen auftreten (in nachfolgenden Schwangerschaften, zum Jahrestag des Abbruches oder am errechneten Geburtstermin) und müssen in ihrer Vielschichtigkeit beachtet werden.
WIR SIND IN UNSEREM GANZEN MENSCHSEIN GEFORDERT
Die meisten von uns werden kaum noch mit dem Tod konfrontiert und uns fehlt die Basis, eigene Verarbeitungsmechanismen aufzubauen. Im Arbeits- und Privatleben müssen wir heute meist dem Bild des leistungsfähigen und unkomplizierten Menschen entsprechen. Diese Anforderungen schließen für viele das Durcheinandergeraten der Emotionen nach einem persönlichen Schicksalsschlag aus. Noch immer gilt das vermeintliche "Ideal" des "starken" Trauernden, der sich und seine Emotionen im Griff hat. Aus dieser Sicht scheint es folgerichtig, dass Trauer ein Feind ist, den es zu bekämpfen gilt (meist wird von "Bewältigung" und "Überwindung" gesprochen). Wenn wir jedoch versuchen, die Trauer als einen natürlichen und notwendigen Vorgang der Selbstheilung zu begreifen, kann dies den Betroffenen und deren Begleitern die Kraft geben, die sie dringend brauchen.
Erst vor ca. 20 Jahren wurde in Kliniken damit begonnen, neue Wege in der Betreuung von Eltern nach dem Tod ihres Babys zu gehen. Bis dahin war es üblich, dieses Ereignis mehr oder weniger zu leugnen. Man ging davon aus, Eltern würden das Geschehene somit bald vergessen können, ohne Schmerz und Trauer zu erleben. Dies stützte sich auf die Überzeugung, dass eine Bindung an das Kind erst nach der Geburt entsteht. Dieser Trugschluss hat dazu geführt, dass viele über Jahrzehnte unter der Last des Unverarbeiteten litten. Meist trat dieses Leid dann eher "zufällig" z.B. im Zusammenhang mit psychosomatischen Beschwerden zutage.
EMOTIONALE UNTERSTÜTZUNG VON ANFANG AN
Nach und nach konnten sich neue Konzepte durchsetzen. Man erkannte, dass sich eine intensive Bindung an das Kind bereits lange vor der Geburt einstellt. Es hat sich gezeigt, dass die bewusste Auseinandersetzung mit dem Tod des Babys und ein gefördertes und begleitetes Abschiednehmen, das Risiko von seelischen Folgeschäden bei den Müttern reduziert. Somit ist dies als vorbeugender und damit bedeutsamer Prozess zu verstehen. Auch wenn es kein "Patentrezept zum richtigen Umgang" mit den Eltern und deren besonderer Lage gibt, so haben sich doch einige Maßnahmen als hilfreich erwiesen. Ein erster wichtiger Grundstein für die Trauerarbeit wird bereits gelegt, wenn den Eltern mitgeteilt wird, dass ihr Baby nicht mehr lebt oder sterben wird. Hier sind vor allem die sozialen Kompetenzen der betreuenden Ärzte und des Pflegepersonals gefordert. Leider besteht auch in Fachkreisen noch verbreitet Sprach- und Hilflosigkeit. Bis zu einem gewissen Grad ist diese Scheu verständlich, denn es existieren nur selten geschulte Teams für diese speziellen Anforderungen der Betreuung. Eintretende Klinikroutine und unflexible Vorgehensweisen können zusätzlich belasten und eine weitere Traumatisierung der Frau bedeuten. Die Selbstbestimmung der Frau sollte gefördert und gewünscht sein, ohne sie dabei zu überfordern. Gelingt es auch bei der Geburt eines toten Babys die Wünsche der Frau einzubeziehen und die Situation der Geburt so positiv wie möglich zu gestalten, wird das Geburtserlebnis von den meisten Betroffenen im Nachhinein als besondere und wichtige Erfahrung empfunden. Dies ist vor allem im Hinblick auf die Trauerarbeit von Bedeutung.
ERINNERUNGEN SCHAFFEN DURCH BEWUSSTES ABSCHIEDNEHMEN
Manche Eltern haben große Angst davor, ihr totes Baby zu sehen und Abschied von ihm zu nehmen. Betroffene, die ihr Baby nicht gesehen haben, plagen sich oft lange Zeit mit Phantasiebildern über das Aussehen ihres Kindes. Hier können Hebammen, Krankenschwestern und Ärzte den Eltern etwas Hilfestellung geben. Eine einfühlsame Schilderung des Babys kann die Eltern ermutigen, es mit allen Sinnen kennenzulernen und somit unendlich wichtige Erinnerungen zu schaffen. Es sollte auf keine endgültige Entscheidung gedrängt werden. Wenn den Betroffenen versichert wird, dass sie ihr Baby auch noch am nächsten Tag sehen können, ist das für viele sehr entlastend. Die Eltern müssen die Chance bekommen, die unwiederbringlichen Momente mit ihrem Baby zu verbringen und nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Manchmal bestehen Wünsche der Eltern, die sie aufgrund der Angst für "seltsam" gehalten zu werden nicht aussprechen. Hier kann es helfen, seitens des Klinikpersonals Offenheit zu signalisieren und Möglichkeiten aufzuzeigen.
Die Bestattung des Babys bedeutet häufig einen weiteren Meilenstein auf dem Trauerweg. Dies ist unbestritten ein sehr schmerzhafter Schritt. Die Endgültigkeit des Todes wird als Wirklichkeit begriffen und dies ist für das "Heil-Werden" der Eltern notwendig.
DIE SUCHE NACH ANTWORTEN UND SICHERHEIT
Meist beginnt in der Zeit nach der Beerdigung die Phase, in der die Betroffenen aus dem Schockzustand erwachen. Die Realität bricht über sie herein und Emotionen wie Schmerz, Sehnsucht, Angst, Wut, Schuld überwältigen sie. Die seelische Schwerstarbeit in den folgenden Wochen und Monaten kostet viel Kraft und Mut. Mut vor allem dafür, den eigenen Trauerweg zu suchen und zu finden, um die ureigene Trauer zu durchleben. Einige Eltern sammeln umfangreiche Informationen in Büchern und im Internet und suchen nach Antworten auf das große "Warum?". Aufgrund der Außerordentlichkeit ihrer Situation fühlen sich manche isoliert und suchen Wege der Kommunikation mit Gleichbetroffenen. Eine erste Begegnung findet häufig in Internet-Foren statt. Auch der Austausch mit anderen Müttern und Vätern innerhalb bestehender Selbsthilfegruppen wird als Entlastung empfunden. Besonders in der ersten Zeit kann die Gruppensituation jedoch überfordern bzw. dem Bedürfnis nach individueller und umfassender Betreuung nicht gerecht werden. Hier ist die Begleitung in Paar- bzw. Einzelsitzungen angezeigt.
MUSS TRAUER "THERAPIERT" WERDEN?
Sinn einer Trauerbegleitung ist NICHT, die Trauer "wegzutherapieren". Vielmehr ist es erforderlich, die Betroffenen dabei zu begleiten und zu unterstützen, ihren ganz persönlichen Weg der Trauer zu finden. Dies setzt voraus, dass wir uns, als professionelle Begleiter, bereits intensiv mit eigenen Verlusterfahrungen und "Trauervermeidungsstrategien" auseinandergesetzt haben. Tun wir dies nicht und verstecken uns sozusagen hinter unserer Profession, führt dies meist zu Distanzierung, voreiligem Handeln oder abwehrendem Trost, wenn betroffene Eltern unsere Praxis aufsuchen. Trauer muss nicht nach einem fahrplanmäßigen Schema verlaufen. Mütter trauern anders als Väter, Geschwisterkinder trauern anders als Erwachsene und hierfür braucht jeder "seine" Zeit. Diesen Prozess zu fördern und Angst, Verzweiflung, Wut oder Schuldgefühlen Aufmerksamkeit zu schenken, ist der Ansatz in der Begleitung verwaister Eltern. Das wiederholte Erzählen hilft den Müttern und Vätern dabei, wieder so etwas wie Ordnung in ihr Denken und Leben zu bringen und löst sie aus der Erstarrung und dem Gefühl der Isolation. Durch die Gespräche wird dem verstorbenen Baby sein Platz innerhalb der Familiengeschichte gegeben und somit in das Leben der Betroffenen integriert.
Während einer Trauerbegleitung können selbstverständlich auch generelle emotionale Schwierigkeiten und Konflikte zutage treten. Hier verschwimmen die Grenzen zur Psychotherapie. Besonders bei Hinweisen auf komplizierte Trauerprozesse ist eine psychotherapeutische Intervention angezeigt. Mögliche Risikofaktoren für Probleme bei der Verarbeitung sind z. B. vorangegangene Fehl- oder Totgeburten, soziale Belastungen, mangelnde soziale Unterstützung, frühere unverarbeitete Verluste oder psychiatrische Vorbelastungen.
Es kann sein, dass sich die Betroffenen wie in ihrer Trauer "stecken geblieben" fühlen und deshalb von sich aus Hilfe suchen. Bei dieser sog. blockierten Trauer liegt das Hauptaugenmerk des therapeutischen Vorgehens darauf, den Trauerprozess behutsam zu mobilisieren, um den Klienten zu ermöglichen, ihren Schmerz zu durchleben und zu bearbeiten. Da der "Schutzmechanismus" der Trauervermeidung somit durchbrochen wird, sollten die Klienten genau informiert und nicht unvorbereitet in den Schmerz geführt werden, um keine erneute Traumatisierung auszulösen.
Einigen Klienten fällt es schwer, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie werten diesen Schritt als weiteres Zeichen der eigenen Unzulänglichkeit. Aus Angst, nicht "normal" zu sein, verwehren sie sich selbst die Möglichkeit, durch eine therapeutische Begleitung Verständnis und Erleichterung zu erfahren. Hier kann eine umfassende Information die Scheu nehmen und Klärung verschaffen.
Eine weitere Gruppe betroffener Mütter oder Väter wendet sich aufgrund eines körperlichen Symptoms oder emotionaler Probleme an ihren Arzt oder Heilpraktiker, ohne sich bewusst zu sein, dass den Symptomhintergrund ihre ungelöste Trauer bildet. In diesen Fällen sind die diagnostischen Fähigkeiten des Arztes/Heilpraktikers für das weitere sinnvolle Vorgehen gefordert.
SOZUSAGEN EIN GESELLSCHAFTLICHER APPELL
Für einen gesunden Trauerprozess der Betroffenen ist die Unterstützung durch das soziale Umfeld von besonderer Bedeutung. Manchmal jedoch tut sich die Umwelt der Eltern sehr schwer damit, den Verlust eines Kindes während der Schwangerschaft in seiner ganzen Tragweite zu sehen. Aus Unsicherheit und Angst reagieren Angehörige und Freunde mit Rückzug oder schnellen Tröstungsversuchen. Selbstverständlich geschieht dies niemals aus böser Absicht. Aber: Mangelnde Anteilnahme schmerzt. Auch Floskeln wie "Du musst loslassen"/ "Du kannst ja noch viele Kinder bekommen"/ "Meinst du nicht, du solltest langsam darüber hinweg sein?" helfen nicht weiter und verletzen noch mehr. Zum Kummer über den Verlust des Babys kommen Enttäuschung und das Gefühl, im Stich gelassen zu sein. Das kann dazu führen, dass die Trauernden in große Verwirrung über ihre Gefühle geraten und dies zum Auslöser für Rückzug und Isolation wird. Für Angehörige oder Freunde ist es deshalb eine große Aufgabe, mit der Situation umzugehen und auf die Betroffenen einzugehen. Ein guter Weg ist es, die eigene Unsicherheit anzusprechen und offen zu fragen, was den Betroffenen jetzt gerade gut tun würde. Es hilft, Offenheit zu signalisieren: zum Zuhören, zum Schweigen und für alle Gefühle, die bei der Mutter oder dem Vater aufkommen. Auch gemeinsames Traurigsein kann entlasten, da die Eltern ihre eigene Trauer nicht verbergen müssen und sich mit ihrem Kummer angenommen fühlen. Auch wenn all dies gewährleistet ist, können in der Beziehung zwischen Angehörigen/ Freunden und den betroffenen Eltern dennoch schwierige Situationen auftreten. Möglicherweise vermissen Freunde die unbeschwerten Momente in ihrem Verhältnis zu dem Paar. Vielleicht erscheinen ihnen die Trauernden manchmal fremd. Es ist tatsächlich so: Trauer macht für eine Weile sehr selbstbezogen. Auch hier hilft Offenheit, um einen Bruch in der Beziehung zu vermeiden.
Wir alle sollten eine Haltung gewinnen, die es den Betroffenen ermöglicht, zu trauern, wie sie es sich wünschen. Damit es gelingt, von der Unfassbarkeit der tragischen Situation auf einen Weg zu gelangen, der die Eltern zur Wieder-Fassbarkeit ihrer Zukunft führt, ist die Offenheit und Bereitschaft aller Begleiter notwendig.
Wenn uns etwas fortgenommen wird,
womit wir tief und verwundbar zusammenhängen,
so ist viel von uns selber mit fortgenommen.
Gott aber will, dass wir uns wiederfinden,
reicher um alles Verlorene
und vermehrt um jenen unendlichen Schmerz.
Rainer Maria Rilke
Sabine Nahler
Praxis für Psychotherapie (HPG)
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