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Wahrnehmung und Handeln

Text: Thomas Schnura

WIRKLICHKEIT UND WAHRHEIT

Wo ist der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Wahrheit? Mit Wahrheit meine ich die prinzipiell entschiedenen Dinge: 2+2=4; Schwerkraft zieht nach unten; Sauerstoff ist für den Menschen lebensnotwendig und hohe Wasserstoffionenkonzentrationen erzeugen einen niedrigen pH-Wert. Mit Wirklichkeit meine ich die prinzipiell unentscheidbaren Zustände in unserer menschlichen Umgebung: wie fühle ich mich jetzt hier; was geschieht, wenn ich das Gegenteil tue?

Wir sind außer Stande, die Dinge so wahrzunehmen, wie sie „in Wahrheit" sind: nach den Angaben, die uns unsere Sinnesorgane liefern, glauben wir, mit den Dingen verhielte es sich auf bestimmte Weise. Unser Wissen lehrt uns anderes. Wir können nicht einmal sicher sein, ob es überhaupt eine wahre Welt gibt. Dazu Heisenberg: „Die Wirklichkeit, über die wir sprechen können, ist niemals die Wirklichkeit „a priori", sondern eine von uns geformte bekannte Wirklichkeit. Wenn man gegen diese Behauptung einwendet, es gebe doch schließlich eine objektive Welt, unabhängig von uns und unserem Denken, die ohne unser Zutun funktioniere oder funktionieren könne und die diejenige sei, die wir eigentlich meinen, wenn wir forschen, dann müssen wir auf diesen Einwand, so überzeugend er auf den ersten Blick auch klingen mag, entgegnen, dass selbst der Ausdruck „es gibt" seinen Ursprung in der menschlichen Sprache hat und daher nichts meinen kann, was nicht mit unserem Verstehen zusammenhängt. Für uns „gibt es" eben nur die Welt, in der der Ausdruck „es gibt" eine Bedeutung hat." (Heisenberg, 1958, Physik und Philosophie) Es sei eingestanden, dass diese Sicht eines Physikers für unsere Wirklichkeitswahrnehmung keine Bedeutung hat: wir sind nicht nur durch die Wahrnehmungsmöglichkeiten eingeschränkt, sondern wir sind es ebenfalls im Handeln. Das Wissen um die Kugelform unseres Planeten lässt uns in kaum einer Hinsicht anders handeln, als wir es jeden Tag tun. Wir wissen, aber es macht nichts. Uns interessiert der Schneeball, was soll uns der Erdball. Wir können weder die Struktur der Moleküle wahrnehmen noch infolge unseres Wissens über sie auf ihrer Ebene im Alltag wirksam handeln. Selbst die Mikroskope sind nur Werkzeuge für unsere Augen und Übersetzer für unsere optische Wahrnehmung, die von Natur aus begrenzt ist. Die Theoretische Physik formuliert Zustände, die sich uns völlig entziehen: Relativität, Unschärfe usw. Wir brauchen Informationen, die für unsere Existenz Bedeutung haben, nicht solche, die uns philosophieren lassen können. Dass wir trotzdem über solche Informationen philosophieren können, ist ein Luxus, den wir uns hart erkämpft haben, nachdem das Überleben gesichert war. Und doch, selbst wenn uns das Ausmaß unseres Nichtwissens bewusst wird und wenn wir dann noch feststellen, dass wir gar nicht wissen, dass wir nichts wissen, leben wir in einer bemerkenswert konstanten Welt, die sich der vitalen Erkenntnis der Unentscheidbarkeit vollkommen verschließt. Dies hat natürlich seinen Sinn darin, dass unser bewusstes wie angeborenes Handeln infolge einer Wahrnehmung sich auf einer Ebene ereignet, die den Korrelationen zwischen Organismus und Milieu entsprechen muss, und das für uns wirksame Milieu, das aktives  wie reaktives Handeln erfordert, befindet sich im physikalischen Raum der Großen Einheiten. Es ist also als sinnlos für unser Überleben und die Fähigkeit zur Fortpflanzung, im molekularen Bereich bewusst wahrnehmen zu können. Somit geht es in hier um die Erweite rung der Handlungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten in dem Bereich, der für unser tägliches Handeln von Bedeutung ist.Die Sinnestäuschung

·  Die Illusion, immer recht zu haben.
·  Das Rauschen des Meeres in den Muscheln.
·  Die Meereswellen scheinen sich, vom Wind getrieben, fortzubewegen; in Wirklichkeit steigt
und fällt das Wasser jedoch nur.
·  Sich gekitzelt fühlen, noch ehe man berührt worden ist.
·  Das Gefühl, nasse Hände zu haben, wenn man beim Abwaschen Wasser über die Gummihandschuhe rinnen lässt.
·  Das Gefühl, auf schwankendem Boden zu stehen nach eine langen Bootsfahrt.
·  Wenn man eine Beule an der Lippe hat, scheint das Glas, aus dem man trinkt, einen deformierten Rand zu haben.
·  Die Leute auf dem Bahnsteig wirken klein, wenn man sie vom einfahrenden Zug aus betrachtet.
Von zwei Gegenständen mit gleichem Gewicht scheint der kleinere schwerer zu sein. Feuchte
Kälte scheint uns kälter als trockene Kälte. Ein auf die Stirn gelegter Taler kommt uns schwerer
vor, wenn er kalt ist.
·  Die Täuschung, immer in der Fahrspur zu stecken, wo man am langsamsten vorankommt.

1 Exkurs: Rote Ampel - Grüne Ampel
Warum registrieren wir die rote, nicht aber die grüne Welle? Weil im Gegensatz zur roten und im Bezug auf die Fahrt die grüne Welle eine Nicht-Ereignis ist. Von einhundert Ampeln werden im statistischen Mittel fünfzig grün und fünfzig rot sein, aber wir sind geneigt, „Nein, mehr!" zu sagen. Und doch ist die 50:50-Chance eine schlechte Relation. Im alltäglichen Leben ist das Verhältnis besser. Von einhundert Schwierigkeiten, die uns begegnen, lösen wir mindestens 90 ganz unbemerkt (grüne Ampel). Wie machen wir das? Mit den bewährten Strategien. Welche sind das? Es sind tausend verschiedene, die sich in wenige Kategorien zusammenfassen lassen: Arrangieren, Ablehnen, Zustimmen, ein Symptom entwickeln. In mehr als 90 % der Fälle funktionieren diese wenigen Strategien, unter denen wir eine beschreibbare Menge auswählen. Welche Strategien sind das? Ein Beispiel: in eine Spielzeugabteilung will ein etwa vierjähriges Mädchen unbedingt eine Barbiepuppe haben. Nach dem bekannten hin und her zwischen Mutter und Tochter fängt die Tochter an, zu hyperventilieren, bis die Mutter schließlich einwilligt. Jetzt weiß das Kind, dass ein Symptom zu entwickeln funktioniert, und es wird lernen, seine Strategie zu verfeinern. Wenn eine Strategie funktioniert, behalten wir sie bei. Warum sollten wir sie auch wechseln, sie hat ja immerhin einmal funktioniert. Wenn sie beim zweiten Mal nicht (gleich) funktioniert, versuchen wir sie mit mehr Kraft oder Aufwand. Nun eskalieren die Schwierigkeiten. Wir reflektieren nicht:
·  Was ist das Problem?
·  Was ist meine Lösungsstrategie?
·  Kann die (in dieser Situation) funktionieren?

Wir bleiben bei dem, was einmal funktioniert hat und machen „mehr desselben" Ob eine Lösungsstrategie funktioniert, wissen wir nach dem zweiten Versuch. Durch mehr desselben wir eine möglicherweise banale Schwierigkeit erst zur Belastung und dann zum Problem, das den Ruch der Unlösbarkeit trägt. Die Sinnestäuschung Es fällt uns heute schon relativ leicht, einzugestehen, dass uns unser Sinnesapparat nicht die Wahrheit über die objektive Welt vermittelt. Das Eingeständnis jedoch, wir hätten nicht einmal einen Schimmer davon, wie sie ist oder gerade eben noch war, hören wir allenfalls noch als Lippenbekenntnis. Es ist zu hart, einzugestehen, dass unsere Erinnerungen nicht korrekt sind. Die Streitereien darum, wer was wann wie gesagt und welches Gesicht er dazu gemacht habe, werden zu ernsthaft geführt, als dass wir uns nun noch einen Rückzieher und das Eingeständnis eines Irrtum gestatten würden. Und doch kommen wir nicht darum herum, an der Objektivität unserer Erinnerungen und Wahrnehmungen zweifeln zu müssen. Dies hat unter anderem lebensdienliche Gründe. Eine Reihe ontogenetischer und erkenntnisrelevanter Anthropozentrismen, die uns so selbstverständlich erscheinen, dass wir für sie quasi blind sind:

1. Wir erwarten von Gesichtern, dass sie konvex sind: die Sonne scheint von oben, Schatten sind unten. Von unten beleuchtete Gesichter sind uns unheimlich.

2. Wir entwickeln eine Sprache, die Nicht-Substanz ist: Latein, maya, japanisch. In der Sprache beschreibt der Beschreiber immer und in erster Linie auch sich selbst, und zwar vor allem anderen als Sprecher.

3. In jeder menschlichen Sprache gibt die Nachricht „Großmutter gestorben, Beerdigung Donnerstag" einen Sinn: da wir von Eltern abstammen, haben wir Großeltern. Wir alle sterben. Jede Kultur hat Beerdigungsrituale, jede eine Zeitrechnung entwickelt.

4. Wir nehmen Bewegung wahr, viel schwerer aber veränderte Zustände. Ein Stroboskop, das uns nur alle 3 Sekunden ein Bild zeigt, lässt uns Zusammenhänge oft nicht mehr begreifen.

5. Wir suchen in Dingen eine Bedeutung, die sich in korrelativer Koppelung, das heißt in Beziehung zu uns befindet. Anders interessieren sie uns nicht, ja sie entziehen sich geradezu unserer Erkenntnis. Dies erklärt, warum uns Abstraktionen einen so viel höheren Grad an Schwierigkeiten im Erkennen bedeuten.

6. Die perspektivische Einengung auf Veränderung, nicht aber auf statisch veränderte Zustände: wir nehmen bestenfalls ein Millionstel des Wahrnehmbaren wahr (siehe Kapitel Handlungsprämissen).

7. Die besondere Form des sozialen  „Bringens" in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen: Ernähren, Lieben, Trost usw. Sie resultieren aus dem aufrechten Gang, der uns die Hände freigab, Beute heim zu tragen, sowie aus dem Spracherwerb, der uns Abstraktionsfähigkeit vermittelte.

8. Soziale Kooperation und sprachliche Koordination von Handlungen. Sie resultieren aus der nicht-saisonalen Sexualität: Intimität, Namen, Selbstbild und Selbsterkenntnis sind die Folge. Damit bekommt der Sozialpartner die gleichen Eigenschaften zugeteilt. Das korrelative Gleichgewicht Mikroorganismen wie Bakterien, Viren, Pilze, wie übrigens auch unser Immunsystem und der ganze menschliche Körper reagieren auf Veränderungen, die sich unserer bewussten Wahrnehmung entziehen: Gas- und Glucosekonzentrationen, osmotische Druckverhältnisse, aromatische Molekülverbindungen, pH-Werte, Toxine, Infektionen usw. Unser Immunsystem reagiert dort ohne unsere Kenntnis, aber effektiv. Es handelt wie ein eigenständiger Organismus, wie die Bewohner eines Planeten, die für unsere Augen zu klein sind. Aber selbst dort haben wir es nicht mit einer Wahrnehmung zu tun, die sich mit der Wahrheit auseinandersetzt, sondern nur mit einer Art auf Effizienz ausgerichteter Wahrnehmung, die auf ein verändertes und sich veränderndes Milieu reagiert: was ereignet sich, worauf muss ich reagieren? Wie lange muss ich reagieren? Wann ist das korrelative Gleichgewicht wieder hergestellt, so dass ich mich wieder „zur Ruhe" begeben kann? Eine Aktion erfolgt nur in Bezug auf die Bedeutung für den Organismus, die größere Einheit. Viele Veränderungen induzieren eine Reaktion, aber noch viel mehr nicht. UV -Strahlung ja: Melanozyten produzieren in der Haut Melatonin, UKWStrahlung nein: wir haben keine Antennen. Die Einflussnahme ist gegenseitig: Veränderungen im einen Milieu haben Veränderungen im anderen zur Folge, und zwar so lange, bis sich für beide, Organismus wie Milieu, wieder ein gekoppeltes und akzeptables Gleichgewicht einstellt bzw. bis sich Milieu oder Organismus von selbst verändern. Je höher der Organismus organisiert ist, um so größer ist der Bereich der Möglichkeiten einer Einflussnahme. Ab dem evolutionären Augenblick, in dem ein Organismus ein reagibles System, ein Nervensystem entwickelt, ist ein Bereich einer gewissen Verhaltensabstimmung und damit der Modifikation des Reagierens gegeben.2 Es entwickelt sich eine höhere Komplexität des Verhaltens und ein erweitertes Milieu der Stabilität: der Organismus kann auf mehr unterschiedliche Milieus mit mehr stabilisierenden Aktionen reagieren und auf erweiterte Art und Weise Einfluss nehmen. Gerade, weil diese interaktive Koppelungen unter Beteiligung eines Nervensystems stattfinden, ist die mögliche Vielfalt des Verhaltens immens. Handlungsprämissen Indem wir erkennen, dass unsere Weltsicht anthropozentrisch ist, wird deutlich, dass wir über eine „wahre Welt" keine sicher entscheidbaren, jedenfalls aber keine relevanten Aussagen machen können. Unser Handeln ist von einer anderen Prämisse bestimmt: nur die Fragen, die prinzipiell 2 Manturana, Varela, 1987, Der Baum der Erkenntnis unentscheidbar sind, können wir entscheiden3, nur hier können wir individuell handeln. Damit stellt sich die Frage: welche Bedeutung hat unser Handeln? Die der Effizienz. Es soll uns vor Schaden im System bewahren. Was ist das System? Das Milieu, bestehend aus uns selbst, den anderen und der Umwelt. Hierbei findet eine korrelative Einflussnahme statt: Organismus und Milieu stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Milieuveränderungen werden individuell definiert: welches ist ein akzeptables Milieu, welches nicht? Neben der lebensdienlichen Frage, ab wann ein Milieu definitiv zerstörerisch ist (Toxine usw.) taucht die zweckdienliche Frage auf, ab wann ein Mensch das Milieu als zerstörerisch empfindet. Wir können sicher nicht in einer Wanne von Perchloräthylen baden, aber in einem Meer der Ablehnung. Gegen das Ebola-Virus verlieren wir zwingend, gegen einen Angstgegner nur, wenn wir seine Schwächen nicht  kennen. In diesem Augenblick ist eine Interpretation hinzu gekommen: das subjektive Empfinden. Übrigens ist dieses genauso wenig absolut und realitätsadäquat wie die Deutung des Organismus, aber einer anderen Notwendigkeit gehorchend. Während im organischen Bereich die Vorgaben der ehemisch-physikalischen Verträglichkeiten gelten, gelten im subjektiven Bereich andere Maßstäbe: die der persönlichen Integrität und Kontinuität von Mir selbst - Mitmenschen - Umwelt. In beiden Bereichen ist die Wahrnehmung bruchstückhaft und selektiv in Bezug auf die Bedeutung für das Individuum und seine Integrität, einem Begriff, der wesentlich von unseren Vorausannahmen über uns selbst, unsere Mitmenschen und die Umwelt abhängt. Dazu schreibt Tor Norretranders: „In jeder Sekunde brechen Millionen von Bits an Information von den Sinnesorganen über uns herein, unser Bewusstsein aber verarbeitet hochgerechnet um die 40 Bit4 pro Sekunde. Viele Millionen Bits werden zu einem bewussten Erlebnis komprimiert, das alles in allem so gut wie keine Information enthält. In jeder Sekunde entledigt sich der Mensch Millionen von Bits, um jenen besonderen Zustand zu erreichen, den wir Bewusstsein nennen. Bewusstsein hat an sich sehr wenig mit Information zu tun. Es bezieht sich vielmehr auf Information, die verschwunden ist. Bewusstsein hat nichts mit Information zu tun, sondern mit dem Gegenteil, mit Ordnung." (Norretranders, 190 ff)5 Zu Ihrer Information: „Das Auge sendet pro Sekunde mindestens 10 Millionen Bit ans Gehirn, die Haut 1 Million, das Ohr 100.000, der Geruchssinn weitere 100.000 [über ca. 10.000.000 Sinneszellen] und der Geschmackssinn ungefähr 1000 Bit. Alles in allem sind das mehr als 11 Millionen Bit/Sek." (Norretranders) Nach der „Auszählung" der Sinneszellen
erhalten wir sogar vielleicht 500 Millionen Bit/Sek. an Information, und in diese Zahl ist die Repräsentanz des eigenen Körpers über die vielen Millionen so genannten Propriozeptoren noch gar nicht mit eingerechnet, jener Sinneszellen, die uns beständig über den Zustand des Körpers im Raum informieren, indem sie dem Gehirn den Spannungszustand der Muskelzellen, Sehnen und der Gelenke melden. Am Beispiel des Sehens erläutert: Eine beliebige optische Information wird an 32 verschiedene Areale in Sehrinde des Gehirns weitergegeben, verteilt, und später zur Erinnerung wieder zusammengesetzt. Ein weiteres Areal speichert die Regeln, nach denen das Bild zusammengesetzt wird. Die optische Information wird weitergegeben

·  an verschiedene Winkelsektoren
·  an Sektoren, die für Bildschärfe, Schärfentiefe und das Zentrieren zuständig sind
·  an Sektoren für Farben und Kontraste
·  an einen Sektor, der lediglich Veränderungen in einem Gesamtbild registriert
·  an Sektoren, die nach Personen, Dinge, Abstrakta, Bewegung und anderen Zugehörigkeiten ordnen
·  Wiedererkennen, Vergleichen, Ergänzen
·  Kombinieren einfacher geometrischer Strukturen zu einer Ganzheit Fünf Kontrollfunktionen stehen dabei im Mittelpunkt:
·  Sinnesbedingungen: beteiligte Sinnesgebiete
·  Afferenzsynthese: Zusammenspiel von Form und Farbe, Ergänzung von Sehen und Tasten
·  Motivierung, momentane Bedürfnisse: der Hungernde sieht öfter Essbares
·  Aktivierung: bei einer Tätigkeit hebt sich das wahrgenommene Ziel spontan heraus
·  Aspektierung: auswählende Aneignung: bei mehrdeutigen Möglichkeiten wird willkürlich die eine oder andere Betrachtung bevorzugt. So ist es uns möglich, auch ein Gesicht wieder zu erkennen, das wir bei Dämmerlicht von halb hinten sehen oder aus der Kombination mit diesen unterschiedlichen Bereichen aus einer nur verschwommen hörbaren Stimme mit einiger Treffsicherheit den Sprecher zu erkennen. Eine Aufgabe, die zur Zeit noch kein Computer bewältigt: bruchstückhafte Wahrnehmung wird ergänzt, man weiß nicht genau, auf welche Art und Weise und nach welchen Regeln. Daher geht man von assoziativen Felder im Frontallappen aus, die sozusagen die Information darüber enthalten, wie Einzelinformationen, bits, zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden müssen, auch wenn wir ihre Arbeitsweise noch nicht genau beschreiben können. Eine Teilinformation aktiviert also verwandte bzw. assoziierbare Informationen und Vorkenntnisse zum Ganzen. Gespeichert werden im Gehirn die Mechanismen, mit deren Hilfe Teilinformationen verbunden wurden, sozusagen Gebrauchsanweisungen für das Puzzle der Erinnerung. Aktivitätsmuster werden aktiviert: Erfahrungskarten. Höre ich deine Stimme, so sehe ich Dein Gesicht. Permanent kommen viele Signale gleichzeitig herein, die gefiltert, geordnet und ergänzt werden müssen. Autisten können das wahrscheinlich nicht mehr. Sie stehen unter einer chaotischen Lawine von überbordenden Sinneseindrücken. Aber jede Wahrnehmung könnte auch für den Nicht-Autisten überwältigend sein, wenn uns die ganze Tiefe einer einzelnen Wahrnehmungsleistung bewusst würde, wenn uns erfahrbar würde, was in einem einzigen Augenblick, beispielsweise innerhalb unseres Gehirns oder Körpers geschieht. Wir sind davor gewissermaßen geschützt durch Wahrnehmungsfilter, die den größten Teil der augenblicklichen Wahrnehmung blockieren und wahrscheinlich nur das Wesentlichste, nämlich die Veränderungen durchlassen: der ganze Raum ist unverändert wie immer; ein Mensch kommt herein; dieses Gesicht kenne ich; kenne ich es nicht, ein Unbekannter kommt unerwartet in mein Wohnzimmer, dann sinkt die Reizschwelle und die Aufmerksamkeit steigt: etwas Unerwartetes geschieht. Das Verhältnis von möglicher Wahrnehmung zu dem, was in unserem Bewusstsein erscheint, beträgt also bestenfalls 1.000.000:1. Unvollständige Informationen ergänzen wir so lange aus der Erfahrung, der Erinnerung und den verfügbaren Puzzleteilen, bis sie ein sinnvolles Bild ergeben, das uns die Situation erkennen, verstehen und einordnen lässt. Dafür greifen wir allerdings nicht auf erfahrbare Informationen zurück, sondern auf unsere vorherigen Annahmen und Erwartungen. Unter der Prämisse, dass Informationen darüber Mitteilung geben müssen, ob existenzielle Gefahr droht oder nicht, ist das Ergänzen sinnvoll und lebenserhaltend. Hier fällt die Entscheidung darüber, ob eine Stressreaktion notwendig ist oder nicht: Kampf oder Flucht.
Erinnerungsbildung und Gedächtnis In unserem Gehirn befinden sich Erinnerungen als vielfach verwendbare Teile eines Puzzlespieles, die bei Bedarf zu bestimmten Konfigurationen, zu wiedererkennbaren und situativ verwertbaren Bildern zusammengesetzt werden. Mit einem Positronen-Emissions-Tomografen (PET) ist es möglich, die jeweils aktiven Teile des Gehirns beim Erinnern darzustellen. Dabei zeigte sich, dass der Hippokkampus (Sitz des Kurzzeitgedächtnisses), eine Hirnregion aus ca. 40.000.000 Nervenzellen, über die Inskription ins Gedächtnis entscheidet. Schäden am Hippokampus wie z.B. eine intrazerebrale Blutung, die den neuronalen Zugang zum Hippokampus zerstören kann, führen dazu, dass keine neuen Erinnerungen gebildet werden. Alte Erinnerungen und Fähigkeiten, motorische Fertigkeiten wie z.B. Schreiben, bleiben. Zur Erinnerungsbildung: Neurone wandeln,  was wir wahrnehmen, in einen elektrischen Reiz um. Die chemische Reizleitung am synaptischen Spalt, einem etwa 1/50.000 mm feinen Spaltraum zwischen zwei Nerven, aktiviert in der Zielzelle im Hippokampus verschiedene Enzyme, die die Dauerübertragung erleichtern. So wird aus dem einmaligen ein Dauerreiz. Dieser wird bei Akzeptanz, wenn es sich also Erinnernswertes handelt, ans Großhirn übertragen und dort nach Sinneszugehörigkeiten fragmentiert gespeichert: die Aktivierung eines Fragmentes aktiviert das ganze Bild: ich höre Deine Stimme am Telefon und sehe Dein Bild vor meinem inneren Auge. Erinnerung ist also die Verknüpfung einer ungeheuer großen Zahl von Einzelbestandteilen. Es werden keine neuen Nervenzellen gebildet, die neue Erinnerungen einlagern, wohl aber neue synaptische Verbindungen, die vorhandene Hirnregionen miteinander verbinden. Es sind ca. 100 Milliarden Nervenzellen im Gehirn, an jeder Nervenzelle können mehrere zehntausend Synapsen andocken. Wer oder was entscheidet, was erinnernswert ist? Es handelt sich um ein Kriterium der Zweckdienlichkeit und damit um eine Konstruktion unserer Wirklichkeit. Über die Erinnerung an lebensdienliche Inhalte gibt es keine Entscheidung: wir müssen atmen, auch im Tiefschlaf und in der Bewusstlosigkeit. Wahrnehmung im
systemischen Bereich Das System ist die Gesamtheit der Erfahrungswelt, die mich umgibt: Ich selbst, meine Mitmenschen und die Umwelt. Die Bruchstückhaftigkeit der Wahrnehmung im zwischenmenschlichen Bereich ist einer besonderen Betrachtung wert. Es stellt sich die Frage, was unser Bewusstsein herausfiltert und nach welchen Regeln wir Teilinformationen ergänzen. Wenn wir annehmen, dass die Prämisse die der persönlichen Integrität unter der Prämisse der Zweck- und Lebensdienlichkeit ist, dann stellt sich die Frage, was wir dafür halten. Zunächst einmal sei angemerkt, dass wir nicht in der Lage sind, die Veränderungen, wie sie sich tatsächlich ereignen, wahrzunehmen, auch im zwischenmenschlichen Bereich nicht: was weiß ich über mein Gegenüber? Nicht mehr als ich über mich weiß. Was weiß ich über mich? Nur das, was mir meine Erinnerung, meine Vorstellungen, Wünsche und Träume vorspiegeln. Damit bekommen Aussagen über andere oder anderes immer eine untergründige zweite Bedeutung: wir können hinter ihnen jeweils einen selbstrekursiven Aspekt erkennen. Mit anderen Worten: was ich über andere aussage, sage ich im Grunde über mich selbst aus. Fragen Sie einen Physiker nach der Entstehung der Welt und er wird Ihnen den Big Bang erklären. Fragen Sie einen gläubigen Christen und er wird die Genesis zitieren und fragen Sie einen Indianer, so
wird er den Entstehungsmythos von seines Volkes wiedergeben. Wir erfahren damit nichts über die Entstehung der Welt, sondern über den Menschen, der zu uns spricht.6 Dazu Varela: „Indem wir die
Welt finden, wie wir sie finden, vergessen wir alles, was wir unternommen haben, um sie als solche zu finden, und wenn wir wieder daran erinnert werden, wenn wir unseren Weg bis zur Bezeichnung zurückverfolgen, finden wir wenig mehr als ein gespiegeltes Spiegelbild unserer selbst und der Welt. Im Gegensatz zu dem, was gewöhnlich angenommen wird, enthüllt die Beschreibung, wenn sie
sorgfältig unter die Lupe genommen wird, die Eigenschaft des Beobachters. Wir, die Beobachter, erkennen uns selbst, indem wir erkennen, was wir anscheinend nicht sind, die Welt."7 Wie sehen die Erinnerungen, Wünsche und Träume nun und aus? Nach welchen Regeln ordnen und ergänzen wir die Flut der Informationen, denen wir zuvor und danach eine individuelle Relevanz beimessen? Wie definieren wir persönliche Integrität? Hier fällen wir Entscheidungen, die nicht oder nur zu einem schwer bestimmbaren Teil von den Möglichkeiten der Biologie vorgegeben sind. Was immer hier geschieht, ist nicht ontogenetisch bestimmt, sondern erlernt und nach individuellen Maßstäben moduliert. Informationen innerhalb eines Ameisenstaates werden durch Austausch von Stoffen weitergegeben, es findet ein ständiger Fluss von Absonderungen statt, die so genannte Tropholaxis, die auch für die Differenzierung und Spezifizierung von Rollen vom Arbeiter bis zur König innerhalb des Ameisenstaates zuständig ist. 8 Diese Art der Informationsvermittlung ist ein praktikabler und effektiver Weg, den die Evolution eingeschlagen hat. Informationen zwischen Menschen werden unter anderem durch Geruchsmolküle weitergegeben, die über Angst, Spannung oder Zuneigung informieren können. Wussten Sie das? Diese Information stammt aus der Biologie, die in den letzten Jahren ungeheuer viele und überraschende Erkenntnisse gewonnen hat. Aber sie ist noch nicht am Ende angelangt und es stehen uns mit Sicherheit noch einige Überraschungen bevor. Allerdings beschäftigt sie sich vor allem mit dem, was wir als lebensdienlich für das organische Leben betrachten müssen. Von Interesse bei der Beantwortung der Fragen, welchen Informationen wir eine individuelle Relevanz bei der Entscheidung über unsere Handlungen beimessen, ist die Betrachtung dessen, was wir als zweckdienlich betrachten. Der Zweck, dem wir eine Handlung unterstellen, bestimmt, was wir als Handlungsprämissen und - notwendigkeiten wahrnehmen und als relevante Information aufnehmen und verarbeiten. Generell ist der Zweck, einfach gesagt, die bereits erwähnte Integrität. Nur was wir im Einzelfalle für Integrität halten, unterliegt sehr persönlichen Entscheidungen. Wesen und Verhalten Wir sind an dieser Stelle mit der Frage nach der Grenze zwischen Wesen und Verhalten konfrontiert. Wesen: das an uns unveränderliche, was wir hinnehmen müssen, wie es ist; Verhalten: das was wir entscheiden und was damit mehr oder weniger willkürlich veränderbar ist. Wesentlich ist uns natürlich zunächst, was unserem Überleben dient. Wir können nicht beliebig darauf verzichten, zu atmen oder zu schlafen. Und „Verhalten" im weitesten Sinne sind z.B. Geschmacksvorlieben 7 Francisco Varela, 1975, A Calculus for Self - Reference 8 Manturana, Varela, 1987, 202 Erwachsener, da sie kulturell determiniert werden. Welcher Europäer möchte schon gebratenen Affen essen wie einige zentralafrikanische Stämme. Viel schwieriger wird es bei der Betrachtung angeborener Begabungen. Hatte Mozart eine Alternative? Wir könnten so antworten: in seiner Begabung nicht, aber in ihrer Verwirklichung. Nur das ist nicht die Antwort, nach der ich gesucht habe, denn damit setze ich zugleich zweierlei: dass es angeborene Begabungen (welche sind das?) bis zu einem wiederum unbestimmbaren Grade gibt, sowie dass es unwesentlich sei, ob ein Mensch gemäß dieser Begabungen handelt. Wir müssen anerkennen, dass es besondere Begabungen zweifellos gibt, und ich spreche nicht nur von Sonderbegabungen, sondern von den individuellen Besonderheiten jedes einzelnen Menschen. Und es lässt sich erkennen, dass Handeln entsprechend einer Begabung allenfalls über das Ausmaß persönlichen Wohlbefindens entscheidet, nicht aber über die Existenz. Zudem erkennen wir Begabungen erst, wenn sie sich im Verhalten manifestieren, also auch bei uns selbst erst im Nachhinein. Wir sehen, dass es ausgesprochen schwierig zu sein scheint, die Grenze zu bestimmen. Die Unbestimmbarkeit dieser Grenze beruht aber auf einer Verwechslung der Perspektiven, auf die diese Frage sich bezieht: frage ich als Beobachter oder in Konfrontation mit mir selbst? Wesen ist von außen betrachtet Wesen, das zu Verhalten führt, Verhalten ist von innen her betrachtet Verhalten, das mein Wesen ausmacht, je nach der Perspektive, die ich wähle. Damit unterläuft uns der fehlerhafte Versuch, zwei unvereinbare Perspektiven innerhalb einer Fragestellung zusammenzubringen. Das geht natürlich nicht. Daher die nächste Frage: Habe ich eine Alternative zu meinen Verhaltensweisen? Wenn es darum geht, entsprechend einer wie auch immer vorgefundenen Persönlichkeit zu handeln, dann müssen wir anerkennen, dass es uns und unseren Möglichkeiten überlassen bleibt, ob wir das tun oder nicht. Mit dem Atmen ist das nicht so, das muss ich. Damit finde ich die Alternative vor. Sie sind gleichwohl kulturell determiniert. So gibt es in jeder Kultur zwar Ekstase-Erlebnisse, die besonderen Inhalte eines solchen Erlebnisses unterscheiden sich jedoch, wenn ich die eines Sufi, eines sibirischen oder indianischen Schamanen, eines Kalahari - Buschmannes oder eines christlichen oder buddhistischen Mönches betrachte. Daraus können wir schließen, dass die Möglichkeit zur Ekstase zwar uns Menschen zu Eigen ist, nicht aber, was geschieht, wenn wir in diesen Zustand eintreten. Es hat in der vorchristlichen Zeit keine Marienerscheinungen bei den Heiligen der verschiedenen Völker gegeben, zumindest ist nichts von ihnen berichtet. Danach wohl, davor nicht. Die  Möglichkeiten wurden immer genutzt, der Reichtum an Möglichkeiten vergrößert sich mit der Kenntnis der Welt. Indem der Blickwinkel erweitert wird, vergrößert sich das Repertoire unseres Handelns.
So wird von den Aboriginals berichtet, sie seien in der Lage, mentalen Kontakt zu einander aufzunehmen, sie hätten sozusagen telepathische Fähigkeiten. Gesetzt, die Information sei zutreffend, dann stellt sich die Frage, ob sie einen evolutionären Sonderweg eingeschlagen haben, oder ob sie „nur" das menschliche Potenzial anders genutzt haben. Diesen zweiten Fall gesetzt, bedeutet dies, dass unsere Informationen über das menschliche Potenzial unvollständig sind. Dieser Aussage können wir aber auch ohne Kenntnis metaphysikalischer Fähigkeiten bei unterschiedlichen Menschen zustimmen. Nun
sind aber neben den vielen unzuverlässigen Meldungen hinreichend zuverlässige Belege für solche Fähigkeiten vorhanden.9 Aus allen Kulturen und allen Zeiten aller Kontinente mit eigener
Geschichtsschreibung oder Tradition sind immer wieder Menschen beschrieben, die meta-physikalische Fähigkeiten manifestieren, ohne dass sie deswegen anders wären als wir. Diese umfassen:

1. Außergewöhnliche Fähigkeiten der Wahrnehmung von Dingen außerhalb des Organismus. Dies beinhaltet das Erkennen einer Schönheit in vertrauten Gegenständen; bewusstes Hellsehen und den Kontakt mit Wesenheiten oder Ereignissen, die den normalen Sinnen nicht zugänglich sind.

2. Formen außergewöhnlicher somatischer Bewusstheit und Autoregulation, Biofeedback.

3. Außergewöhnliche Fähigkeiten des Kommunizierens, einschließlich der Übertragung von Gedanken, Willenskraft und ekstatischen Zuständen durch etwas außerhalb des Körpers.

4. Ein Überfluss an vitalen Kräften, der sich nur unzureichend durch gewöhnliche körperliche Vorgänge erklären lässt und der bisweilen als pathologisch erklärt wird.

5. Außergewöhnliche Fähigkeiten der Bewegung.

6. Außergewöhnliche Fähigkeiten, auf die Umgebung einzuwirken, einschließlich ungewöhnlicher manuell-visueller Koordination und der Fähigkeit, auf Dinge aus der Ferne ohne direkte physikalische Einwirkung Einfluss zu nehmen, wie etwa beim Geistheilen.

7. Eine Seins-Seligkeit, die nicht wie gewöhnliches Vergnügen von der Befriedigung der Bedürfnisse oder Begierden abhängig ist und bei Krankheit und unter schwierigen Umständen weiterbesteht.

8. Überragende geistige Fähigkeiten, durch die große künstlerische oder andere Werke in ihrer Ganzheit, erfasst werden, und das allumfassende Wissen mystischer Erfahrung, das sich radikal vom normalen Denken unterscheidet.

9. Eine über das normale Maß hinausgehende Willenskraft, die verschiedene Triebkräfte vereinigt und so zu außergewöhnlichem Handeln befähigt.

10. Eine Personalität, die gleichzeitig die eigene, normale Selbstwahrnehmung transzendiert und erfüllt, während sie sich ihres fundamentalen Einsseins mit anderen bewusst ist und eine auf den oben angeführten, außergewöhnlichen Fähigkeiten gegründete Individualität.

11. Liebe, die gewöhnliche Bedürfnisse transzendiert und das fundamentale Einssein mit anderen offenbart.

12. Veränderungen der Vorgänge, Zustände und Strukturen des Körpers, die die genannten Erfahrungen und Fähigkeiten unterstützen. Aus allen Kulturen und allen Zeiten aller Kontinente mit eigener Geschichtsschreibung oder Tradition sagte ich. Das dürfte in etwa der evolutionären Entwicklungs- und Veränderungsgeschwindigkeit des Menschen entsprechen: Jahrzehntausende. Was hat das zu
bedeuten?

Erwartungen
Die Regeln des Filterns und der Ergänzung werden uns noch beschäftigen müssen, sagte ich. Nach welchen Regeln nehmen wir wahr, ergänzen wir unvollständiges und filtern unnötiges oder unverständliches
aus? Es sind die Regeln unserer Erwartungen. Die Erwartung ist, in allem, was uns begegnet, zunächst einmal bekannte, vertraute, wiedererkennbare Strukturen zu finden, jedenfalls aber kompatible und mit dem Weltbild übereinstimmende Strukturen. Anders gesagt: wir sehen zunächst, was wir erwarten. Wenn alles wie erwartet läuft, sinken unser Wahrnehmungsapparat und Gehirn auf ein Aktivitätsniveau relativer Ruhe und Entspanntheit hinab, die Reizschwelle steigt an bis hin zum relativ hohen Niveau des Schlafens, so dass uns unter Umständen minimale Veränderungen in einer vertrauten Umgebung sogar
entgehen können. Ist alles, wie es sein sollte, dann ist ja gut. Befinden sich die kleinen Veränderungen im Bereich des assimilierbaren, dann bedürfen sie keiner Aufmerksamkeit. Aber plötzlich: Alarm! Etwas unbekanntes, fremdes ereignet sich: die Reizschwelle sinkt, wir werden wach oder aufmerksam. So ist es zu verstehen, dass eine Mutter, deren Schlafzimmer neben der Autobahn liegt, das Schreien ihres Kindes gleichwohl registriert und wach wird. So schaffen wir uns ein Milieu der Vertrautheit, der Gewöhnung, das uns bei einem Minimum an Aufmerksamkeit die irrelevanten Informationen ausfiltern hilft. Erst das ungewöhnliche Ereignis aktiviert innerhalb kürzester Zeit beinahe reflexartig Handlungssequenzen und wir haben reagiert, bevor wir überhaupt genau wussten, was vor sich ging. Hierbei stellt es sich als unbedeutend heraus, ob das Ereignis differenziertes Handeln oder einen einfachen Reflex erfordert. Von den „Höheren Zentren" der „bewussten" Entscheidungen mehr oder weniger unbeaufsichtigt, reagieren wir erst einmal, wie wir es gewohnt sind, bzw. wie es in unsere neuronalen Bahnen und ihre synaptischen Verbindungen eingeschrieben ist. Die Metapher von der Landkarte der Welt in unserem Gehirn erweist sich hierbei als unzutreffend, vielmehr können wir von Reiz - Reaktions - Mustern reden, deren Aufgabe es ist, bei Diskontinuität eine Abstimmung von innerem und äußerem Milieu bis zur Kompatibilität zu bewirken: kompatible Zustandsveränderungen10 sind das Ergebnis. Das ist es, was wir von der Welt erwarten und ja übrigens auch erwarten können. Ist wieder alles wie gewohnt, begibt sich das alarmierte Nervensystem wieder zur Ruhe. Nun ist aber auch von einem inneren Milieu die Rede. Wir haben eine Vorstellung über unsere gewohnte Umgebung, die sich aus einer Kette von relativ gleichförmigen Erfahrungen entwickelt. Wir sind geneigt, Abweichungen von der Kontinuität als Störung wahrzunehmen und homöostatische Regulationsmechanismen einzuleiten. Abweichungen werden solange durch Interaktion mit der Umgebung beeinflusst, bis sich der uns vertraute Zustand wieder eingestellt hat. Eine Überprüfung, ob der vertraute Zustand optimal oder effizient ist, findet bei der Mehrzahl unserer halbbewußten Interaktionen nicht statt. Es ist uns offensichtlich wichtiger, uns in einem vertrauten Kontinuum zu befinden als das Risiko ungewohnter Handlungen mit offenem Ende einzugehen. Wir können zwar jederzeit zum Kap der Guten Hoffnung aufbrechen, allein, wir tun es nicht. Wenn wir uns also fragen, warum wir unter dem Gesetz der Äquifinalität stehen, das uns in immer gleiche Endzustände hinein manövriert, selbst wenn diese leidvoll sind, so können wir antworten: weil korrigierende Handlungsweisen nicht unseren Erwartungen an Kontinuität entsprechen und ungewohnte Zustände erzeugen könnten. Das kann so weit führen, dass ein Mensch Zustimmung nicht ertragen kann, da er auf Ablehnung und Kampf eingestellt ist. Das erklärt, warum gestörte Systeme wie Familien die Tendenz haben, durch Interaktion einen leidvollen Zustand wieder herzustellen, auch wenn ein anderer Ausgang aus einer gegebenen Eingangssituation möglich wäre. Das lässt uns zunächst
so erscheinen, als seien wir „triviale Maschinen11, die auf immer gleiche Zustände hinarbeiten: tue ich vorne einen so und so gearteten Menschen hinein, so kommt hinten ein definierbar anderer Mensch heraus, dessen sämtliche Schritte von einer automatenhaften Ferngesteuertheit zu zeugen scheinen. Es wird uns leicht gemacht, an dieses mechanistische Menschenbild zu glauben, denn es sprechen viele Beobachtungen dafür. Es werden „kulturelle Wahrheiten" geschaffen, die sich im Grunde als nichts anderes als Erwartungen an Kontinuität herausstellen. Die Macht einer Kultur, eine Art Hypnose zu induzieren, ist beherrschender, länger anhaltend und wirksamer als die eines einzelnen Hypnotiseurs, denn die beschränkt sich nicht auf wenige Sitzungen und kann unzählige Bestrafungen und Belohnungen einsetzen, um ihre Wirkungskraft zu verstärken. Ihre Versuchspersonen fügen sich in ihre Induktionen, wenn sie zu klein sind, um sich gegen sie zu wehren. Nahezu alle Mitglieder einer gegebenen Kultur sind Wir sind grundsätzlich in der Lage, einfach stehen zu bleiben und in einer ganz anderen Richtung weiter zu gehen, wenn die besonderen Eigenschaften einer leidvollen Situation dies erforderlich machen, wenn es effizienter ist und zu besseren Ergebnissen führt. Wir können das ganz andere tun.

Nun stellen sich zwei Fragen:
1. Unter welchen Bedingungen handeln wir unerwartet, nicht-trivial?
2. Nach welchen Regeln funktionieren diese Veränderungen?

Die Bedingungen Es gibt Bedingungen, unter denen sich in unserem Verhalten gegenüber dem alltäglichen gewissermaßen ein Quantensprung
ereignet. Diese Bedingungen sind häufig gekennzeichnet durch maximalen Stress. Solcher Stress ist uns bekannt aus Beispielen, in denen das eigene oder das Leben eines eigenen Kindes in Gefahr schwebt: plötzlich sind wir in der Lage, Dinge zu vollbringen, von denen wir bisher keine Ahnung hatten. Eine andere Art von Stress, obwohl dieser Begriff hier vielleicht etwas despektierlich ist, ist die Situation eines Zen-Mönches, der auf der Suche nach Sartori im Sesshin sitzt und sitzt, der Schnee häuft sich an seinem Rücken an, und er versteht einfach nicht, wie die Frage des Meisters zu beantworten ist: wie klingt das Klatschen einer Hand? Der Verstand weigert sich standhaft, seine Vorherrschaft aufzugeben und lässt keine vernünftige Antwort zu. Dann gibt es einen Bruch und alles ist ganz klar. Oder in einer Situation gesammelten, aber gewissermaßen absichtslosen Handelns schaffen wir plötzlich den Sprung und es ist geschafft, was wir uns nie zu träumen wagten. Andere Menschen träumen nach qualvoller Zeit die Lösung, stehen auf und tun es. Über solche Bedingungen schreibt Hermann Melville in Moby Dick: "In diesem kuriosen, abenteuerlichen Durcheinander, das wir Leben nennen, gibt es bisweilen wunderliche Stunden. Die ganze Welt kommt uns dann wie eine Posse vor, deren Witz wir nicht recht einsehen; wir haben nur den stillen Verdacht, dass all der Unfug auf unsere Kosten geht. Allerdings bringt uns dann auch nichts aus der Fassung, alles erklärt sich von selbst. Wir schlucken jede Begebenheit, jedes Credo, jeden Glauben, jede Weltanschauung, jeden harten Gegenstand, einerlei ob sichtbar oder unsichtbar, wie ein Vogel Strauß mit robuster Verdauung, der auch Gewehrkugeln und Feuersteine gierig hinunterschlingt. All den kleinen Ärger und Verdruss, drohendes Ungemach, Leibes- und Lebensgefahr, ja selbst den Tod nehmen wir hin als einen freundschaftlichen Tip, einen vergnügten Rippenstoß, den uns der unsichtbare, unbegreifliche alte Schalk mit List und Schläue verabreicht. Diese getroste Verzweiflung kommt uns aber nur in den düstersten Augenblicken an, nur wenn's bitter ernst wird, und was wir eben noch zentnerschwer genommen haben, gehört dann auf einmal mit zur allgemeinen Posse."

Die Regeln I
Die Regeln dieses persönlichen Quantensprunges sind zunächst recht einfach erklärt: wir verlassen unter den besonderen Bedingungen der Situation unseren gewohnten Denk- und Handlungsrahmen, der Blick erweitert sich, allerdings, ohne dass wir dies bewusst wahrnehmen, die Perspektive ändert sich und wir verlieren die alltägliche Selbstdefinition aus den Augen. Was wir bei uns selbst für unmöglich hielten, erweist sich als Beschränkung lediglich durch das Denken über uns selbst. Erweiterter Blick, veränderte Perspektive, ein Zugewinn an Kraft oder Möglichkeiten: unser Handlungspotential erweist seine ganze und notwendige Kreativität. Zunächst recht einfach, sagte ich, denn es ist uns kein Weg bekannt, vorsätzlich absichtslos zu sein. Wir können beschreiben und nachmachen, wie ein Computer zu bedienen ist. Wir können aber noch immer nicht einfach beschreiben, welche Regeln zu befolgen sind, um  plötzlich und einfach den Alkohol oder das Rauchen sein zu lassen. Das aber ist offensichtlich eine der Regeln. Es geht nicht auf dem Wege, den wir als „einfach" empfinden. Es ist einfach und trivial, einen Computer zu bedienen, weil seine Regeln einem deduktiv arbeitenden, digitalen System und Denken folgen: wenn - dann. Wir verlassen aber die beschreibbaren Regeln dieses Systems, wenn sich der Quantensprung ereignet. Um dieses System zweiter Ordnung zu verstehen, müssen wir uns die Komponenten anschauen, die üblicherweise unser Handeln bestimmen. Körper, Seele und Geist Unser Handeln ist von einer Reihe von Faktoren beeinflusst, die in unterschiedlichen Situationen eine unterschiedliche hierarchische Reihenfolge aufweisen. Diese Situationen lassen sich einteilen in alltägliche Situationen, die den größten Teil unserer Lebenszeit ausmachen, der übliche Stress, den wir gewohnt sind und dem wir mit den uns bekannten Strategien begegnen, sowie die außergewöhnlichen Belastungen, die im Leben mancher Menschen nie oder so gut wie nie eintreten. Handeln nach den Regeln der Gewohnheit Dieses Handeln ist bestimmt von dem Prinzip „kenne ich schon': Wir tun, was wir in dieser Situation schon immer getan haben, wir denken nicht weiter darüber nach und müssen das auch gar nicht. In den alltäglichen Situationen, die triviales Handeln von uns erfordern, können wir froh sein darüber, dass nicht jede möglicherweise noch so kleine Veränderung auch ein erneutes Nachdenken und Entscheiden von uns erfordert. Das lässt uns zum größten Teil unserer Zeit relativ reibungslos funktionieren und erspart uns viel Aufmerksamkeit. Wir nehmen die Gabel in die linke Hand, wir treten auf die
Kupplung, wir halten die Tür auf, wir grüßen oder grüßen nicht, je nachdem, wer's ist und wen wir kennen. „Ist dir aufgefallen, dass die Bäume schon ganz kahl sind?" - „Nein." Handeln nach den Regeln des programmierten Verstandes Nicht immer geht das so reibungslos, denn plötzlich kommt eine Irritation herein, für die ich noch kein Handlungskonzept habe. Nun erfolgt eine Kombination bewährter Strategien nach bewährten Regeln: das hat früher geklappt, mal sehen ob es jetzt auch klappt. Wir versuchen es wieder und wieder, und wenn es mit dem Einsatz von zehn Prozent unserer Möglichkeiten nicht klappt, dann muss eben mehr eingesetzt werden. Kombinationen weisen einen höheren Grad von Organisation auf, der uns eine gewisse Aufmerksamkeit abverlangt. Es kann sein, dass wir plötzlich hellwach werden und alarmiert sind. Aber wir kombinieren im allgemeinen nur Strategien, die wir schon als einzelne Handlungselemente kennen gelernt haben. Ob diese Gesamthandlung effizient ist, das heißt ob sie überhaupt zum Erfolg führen kann, bedenken wir so gut wie nie. Es ist im Grunde immer noch triviales Handeln, nur auf einer höheren Komplexitätsebene. Das ist der Unterschied zwischen einem Hammer und einem Computer. Und wir handeln nach dem fatalen Prinzip „mehr desselben': Handeln nach den Prioritäten des Gefühles Somatische Dimension Genauer betrachtet sind bei der Kombination verschiedener Handlungselemente nicht die Maßgaben der Effizienz  und schon gar nicht die eines klar arbeitenden Verstandes ausschlaggebend, sondern zunächst unsere somatischen
Notwendigkeiten. Die schalten sich jedoch so häufig in den primär affektiven Kontext ein, dass wir psychosomatische Regulationsstörungen beobachten können, die sich unter Umständen mit unschöner Regelmäßigkeit in vielen emotionalen Krisen manifestieren: Herzklopfen, Übelkeit, Schlafstörungen, Schweißausbrüche, Heißhunger... Da sagt uns der Körper ganz klar, wo's langgeht, und wir haben auf der affektiven Ebene das Gefühl der Ausweg- und Hoffnungslosigkeit. Dem entkommen wir nicht so ohne weiteres. Wir pflegen zu sagen: ich kann nicht anders. Affektive Dimension Hier haben wir den Bereich, der dokumentiert, was uns unsere Gewohnheiten, Vorlieben und vertrauten Verhältnisse zwingend abverlangen, selbst wenn sich der programmierte Verstand einschaltet. Das tut er lediglich in der
Kombination, nicht aber bei den Regeln der Kombination. Das vertraute Unglück ist uns eben lieber als das Risiko des Neuanfanges. Bevor wir überhaupt mit der Kombinationsarbeit beginnen, hat sich das Gefühl schon mit seiner Forderung nach beruhigend Altbekanntem eingeschaltet  und bestimmt fortan unser Handeln. Nach den Prämissen der gefühlsmäßigen Vertrautheit bleiben wir bei Handlungsmustern, auch wenn sie geradezu geeignet sind, Scheitern, Misserfolg und angehäuftes Unglück zu produzieren. Wir müssen jedoch diese dominierende Forderung anerkennen und können nicht einfach den Weg über das Argument , den Verweis auf die Unsinnigkeit oder die Tröstung einschlagen, die dem Einsichtsvermögen ja ohne weiteres klar sind. „Das weiß ich ja auch", wird die regelmäßige Antwort sein. Die Kraft der affektiven Handlungssteuerung hat bisher noch jeden Gegenangriff des Verstandes abgeschlagen. Da die Abgrenzung zwischen somatischer und affektiver Dimension sowieso  her konstruiert ist, wird die Kraft der affektgesteuerten Reaktion der einer instinktiven, reflexartigen Abwehrbewegung gleichen. Hier ist das Handeln nach den Prioritäten des Gefühls in seinem Element: es hat uns vor Schaden zu bewahren, die Hauptsache ist, dass wir mit dem Leben davonkommen. Die Unbedingtheit dieser Steuerung lässt sich auch physiologisch daran erkennen, dass in echter oder vermeintlicher Gefahr, unter Stress und Sympatikotonus also die Blutzufuhr zum Großhirn sogar gedrosselt wird und nur noch die so genannten subcortikalen Zentren des Hirnstammes optimal durchblutet sind. Anders gesagt: Gefühl schlägt Verstand, ob das sinnvoll ist oder nicht.

Die Regeln II
So wird nun also langsam klar, warum die Regeln der Veränderungen zweiter Ordnung so schwer zu beschreiben sind: Die Veränderungen zweiter Ordnung sind überraschend, unerwartet, unvorhersehbar, paradox, nicht-deduktiv und spotten oft jeder Beschreibung. Hier ereignet sich das, was uns nur noch die analoge Sprache vermitteln kann, die Sprache der Poesie, des Gefühls: das unklare und unpräzise Regelwerk des Instinktes und der Emotionalität. Der Gebrauch des analogen, emotionalen Vokabulars verändert die Bedeutung der Begriffe und ihren Hintergrund oft innerhalb weniger Jahre. Wir haben keinen verbindlichen und einheitlichen Katalog für die Verwendung des affektiven Vokabulars. Das macht die Schwierigkeit aus, diese Sprache in einem einheitlichen Code, in einer definierten Semantik zu sprechen und uns über das Unerwartete zu verständigen. Wir sind auch noch mit einer permanenten, subtilen Veränderung des sozusagen emotionalen Inventars konfrontiert. Nicht zuletzt haben wir es mit einer noch viel fundamentaleren Schwierigkeit zu tun: der, eigene Gefühle überhaupt klar zu erkennen und so in Worte zu fassen, dass wenigstens wir selbst wissen, woran wir sind. Somit potenzieren sich die Schwierigkeiten, überhaupt erst einmal zu einem einheitlichen und allgemein verständlichen Vokabular über unseren Gegenstand zu kommen. Wenn wir aber die Vorherrschaft des Gefühls in belastenden Situationen ignorieren und auf den Verstand verweisen, verschlimmern wir zumeist nur die Situation für den Angesprochenen, weil die Konfrontation mit der vermeintlichen eigenen Uneinsichtigkeit uns zusätzlich belastet. Wir sind in einer merkwürdigen Situation. Als die ersten Fernsehprogramme ausgestrahlt wurden, hielten sie nicht an unseren Antennen an, sondern verließen unseren Planeten. Heute sind diese Fernsehprogramme seit 1936, seit sechsundsechzig Jahren unterwegs. Sie sind schon weit über unser Sonnensystem hinaus: all die Charaktere, Komiker, Helden und Kreaturen. Sie sind die ersten wahren Reisenden in die Tiefen des Weltraums, unsere ersten Abgesandten, und sie segeln weiter und weiter hinaus; sie sprechen und handeln noch immer. Und während wir lernen, in den Weltraum hineinzuhorchen, können wir sie hören, sie belegen unsere Kanäle. Weil aber unsere Instrumente immer besser werden, können wir auch sie immer besser hören auf ihrer Reise in immer größere Ferne. Aber wir hören nichts als die Stimmen unserer Vergangenheit. Wir hören nichts als unsere Geschichte. Wir hören nichts als uns selbst. Koordination des Verhaltens Wir sind soziale Wesen und durch die
immense Vielzahl an Verhaltensmodulation zu den unterschiedlichsten Interaktionen fähig. Das erzeugt jeweils eine besondere innere Phänomenologie. Dies beruht darauf, dass wir unsere individuelle Entwicklung als Teil eines Netzwerkes von Ko- Entwicklungen verwirklichen. Interaktion  erfordert individuelle Reaktion. 300 Millionen Tropfen „Stellen wir uns einen spitzgipfeligen Berg vor. Stellen wir uns weiter vor, dass wir auf dem Gipfel sitzen und Wassertropfen in immer die gleiche Richtung hinunterwerfen, wobei jedoch durch die Mechanik des Werfens geringfügige Abweichungen auftreten. Stellen wir uns schließlich vor, dass diese Wassertropfen eine Spur auf dem Boden hinterlassen, sozusagen einen historischen Abdruck ihrer Abwärtsbewegung. Offenbar werden wir bei mehrmaliger Wiederholung unseres Experiments leicht unterschiedliche Ergebnisse bekommen.... Wer kann die leichten Veränderungen der Windstärke, der Reibung, des Gefälles oder der elektrostatischen Entladungen beobachten, die wiederum Veränderungen im Verlauf der Wassertropfen auslösen? Der Physiker verzweifelt, zuckt mit den Schultern und spricht einfach von Zufallsfluktuationen. Dennoch weiß der Physiker, dass, obwohl vom Zufall die Rede ist, in jeder beobachteten Situation vollständig determinierte Prozesse ablaufen, die dem Geschehen zu Grunde liegen. Das heißt, er weiß, dass er für die Beschreibung der Situation auf der Ebene des Wassertropfens eine ihm praktisch unzugängliche Ausführlichkeit benötigt. Er kann dies aber vernachlässigen, wenn er sich mit einer statistischen Beschreibung begnügt, mit der unter der Annahme einer deterministischen Gesetzlichkeit zwar die Klasse der eintretenden Phänomene, aber kein Einzelfall vorausgesagt werden kann."16 Die reine Zufälligkeit des Daseins, in die uns dieses Bild entlässt, ist ähnlich wie die Lehre von Kopernikus, Darwin und Freud ein Schlag ins Gesicht der Menschheit, die nach tieferem Sinn hinter allem sucht, und
sei es zuletzt in der Trostlosigkeit unserer selbst, die uns Freud noch ließ. Das kann uns aber nicht davon abhalten, das Bild ernst zu nehmen. Wenn in dieser Zufälligkeit unser Werden  wie unser Verhalten wieder zu finden ist, dann sind wir nur noch auf unsere Entscheidungen angewiesen. Statistisch gesehen war es wohl nötig, dass es einmal so kommen musste mit uns, aber diese Notwendigkeit besitzt die zwingende Schlussfolgerung eines, der auf ein Tor schießt, es trifft und hinterher sagt, genau hierhin habe er treffen wollen. Jede Kultur fördert bestimmte Fähigkeiten und vernachlässigt andere, die gleichwohl von Anfang an gegeben sind, aber nicht ausgebildet werden. So können wir die Prämissen unseres Handeln auch in den momentanen Gegebenheiten wieder finden, auf die wir einzugehen
gezwungen sind. Auf die eine oder andere Weise werden wir leben, mindestens aber überleben müssen.

1 Jaques Ninio, 1999, Macht schwarz schlank?
3 Heinz von foerster, 1993, KybernEthik
4 Diese Zahl wurde inzwischen auf ca. 90-120 revidiert
5 Tor Norretranders, 1994, Spüre die Welt,
6 Heinz von Foerster 1999, 2x2=grün, Doppel-CD
7 Francisco Varela, 1975, A Calculus for Self - Reference
8 Manturana, Varela, 1987, 202
9 Michael Murphy, 1994, Der Quantenmensch
10 Manturana, Varcla, 1987
11 Heinz von Foerster, 1999
12 Heinz von Foerster, 1999
13 Watzlawick, Beavin, Jackson, 1974, Menschliche Kommunikation
14 Jose Ortega y Gasset, 1952, Geschichte als System
15 Watzlawick, Weckland, Fisch, 1979, Lösungen; Nardone, 1997, Systemische Kurztherapie bei Zwängen und Phobien u.v.a.m.
16 Manturana, Varela, Der Baum der Erkenntnis