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Psychologische Beratung und Therapie von Selbstmord- und Selbstmordversuchen

PSYCHOLOGISCHE BERATUNG UND THERAPIE VON SELBSTMORD- UND SELBSTMORDVERSUCHEN

In einer Kurzbetrachtung wird hier, sozusagen als Anregung gedacht, ein Themenkreis angerissen, der weiterer Ausdeutung bedarf.

 

Zwar nimmt die Suizidrate in Deutschland seit Mitte der 80er-Jahre tendenziell ab, doch aktuelle Daten zeigen nach wie vor den großen Bedarf an Suizidprophylaxe und -prävention: Im Jahr 2000 starben in Deutschland 11100 Personen durch Suizid (8100 Männer, 3000 Frauen). Bei 1,3 Prozent aller Todesfälle handelte es sich um Suizid (Angaben: Statistisches Bundesamt). Das Verhältnis der Suizidrate von Frauen zu Männern liegt bei 1:2,7. Die Suizidraten variieren nicht nur nach Geschlecht, sondern auch nach Alter. Die Rate steigt mit dem Lebensalter: Bei jungen Menschen ist sie vergleichsweise niedrig, wohingegen sie besonders bei Männern ab dem 60. Lebensjahr erheblich ansteigt. Beinahe jede Frau, die einen Suizid begeht, ist älter als 60 Jahre. Die offiziellen Angaben über Suizide unterschätzen allerdings die tatsächliche Zahl. Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Unter den Todesarten Verkehrsunfälle, Drogen und den unklaren Todesursachen wird noch ein erheblicher Teil nicht erkannter Suizide vermutet. Suizid (S) und Suizidversuch (SV) sind häufige Vorkommnisse, die ein dringliches Aufgabengebiet der psychologischen Versorgung darstellen. Die gegenwärtigen Maßnahmen der medizinischen Versorgung beschränken sich jedoch vielfach auf die somatische Intensivtherapie der Intoxikations- oder Strangulationsfolgen usw., ohne auf die zugrunde liegenden psychologischen und sozialen Bedingungszusammenhänge einzugehen. Hier liegt mit ein Grund der häufigen Rezidivneigung der Suizidversuche. Deshalb kommt gerade der psychologischen Versorgung große Bedeutung zu. Am häufigsten kommen SV bei neurotischen Erkrankungen, Suchten und ähnlichen psychischen Fehlentwicklungen bzw. Fehlreaktionen vor (etwa 90%). Nur in etwa 10% der Fälle handelt es sich um Psychosen. Bei Suizid liegt der Anteil der Psychosen bei etwa 30%.

Eine zahlenmäßige Häufung findet sich in der Pubertät und Adoleszenzphase sowie bei alternden Menschen. Bei letzteren ist noch die zunehmende Gefährlichkeit und Ernsthaftigkeit der suizidalen Handlungen wichtig, die zu einer Häufung der Suizide führen. Eine weitere bedeutsame Rolle in der Entstehung suizidaler Handlungen spielen Suchten, insbesondere der Alkoholismus. Die wichtigsten Bedingungen suizidaler Handlungen sind verschiedene Formen der sozialen Isolierung bzw. Teilisolierung, das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, die mangelnde Entwicklung bzw. Einengung oder Verlust zwischenmenschlicher Beziehungen, das Herausfallen aus bergenden sozialen Gruppen. In engem Zusammenhang hiermit steht das Nichtvorhandensein persönlichkeitsrelevanter Zielsetzungen im Leben, Verlust der perspektivischen Möglichkeiten. Eine wesentliche Rolle hierbei spielen gestörte lebensgeschichtliche Entwicklungen, besonders Milieuschäden und Fehlerziehungen in der Kindheit, das Fe hlen einer stabilen Sicherheit und Geborgenheit vermittelnden Familienatmosphäre, die auch im späteren Leben zu Störungen der sozialen Stabilität führen. Durch äußere (soziale) und innere (Psychische) Bedingungen kommt es dann zu einer Einengung des Erlebnisfeldes, der sozialen Beziehungen, zum Auftreten autoaggressiver Impulse (präsuizidales Syndrom), das in die S-Handlung führt. Letztere ist kein in sich einheitliches psychisches Geschehen. Zwar gibt es SHandlungen, die ausschließlich und unbedingt die Selbsttötung zum Ziel haben besonders bei alten Menschen. Ebenso gibt es SV, bei denen die lebenserhaltenden Tendenzen die selbstzerstörerischen Tendenzen überwiegen, was dann häufig fälschlich als „demonstrativ" abgetan wird, ohne die eigentliche Not des Individuums zu sehen.

In der Regel ist jedoch die psychische Struktur der S-Handlung widersprüchlich: auf der einen Seite steht die Selbsttötungsabsicht, der Wunsch, aus dem Leben zu scheiden, auf der anderen Seite die sogenannte Appellfunktion an die Umwelt, das meist weitgehend unbewusste Streben, mit der suizidalen Handlung eine Reaktion der Umwelt, der Familie, der Arbeitskollegen usw. und damit eine Veränderung der als sinn- und ausweglos erlebten Situation zu erreichen. Von dem Anteil dieser beiden widersprüchlichen Zielsetzungen suizidaler Handlungen hängt wesentlich mit die Überlebenschance ab. Der tatsächliche Ausgang einer solchen Handlung lässt jedoch keinen sicheren Rückschluss zu. Es gibt rein final angelegte SHandlungen, die durch Zufall misslingen und damit als Suizidversuch imponieren und vorwiegend appelativ angelegte suizidale Handlungen, bei denen der Patient ums Leben kommt. Für die Rezidivprophylaxe ist die psychologische Analyse dieser beiden widersprüchlichen Komponenten der Handlungen notwendig. Ebenso wichtig für die Beurteilung der weiteren Gefährdung ist jedoch auch die genau Kenntnis der sozialen Situation, des Grades der Isolierung, des Verlustes zwischenmenschlicher Beziehungen von Bedeutung. Grundsätzlich sollte jeder Suizidversuch von einem Psychiater untersucht werden. Die Rezidivgefährdung ist davon abhängig, inwieweit nach dem Suizidversuch entweder durch dessen unmittelbare Auswirkung auf die Umwelt (z.B. verstärkte Zuwendung seitens des Ehepartners) oder auch durch vom Suizidversuch unabhängige Einflüsse eine Veränderung der sozialen Situation eintritt. Dies darf keinesfalls dem Zufall überlassen werden, sondern erfordert aktives Eingreifen des Arztes bzw. des psychologischen Beraters/Therapeuten oder anderer unterstützender Instanzen in die soziale Situation des Patienten.

 

Zum praktischen Vorgehen:

Grundsätzlich sind Suizid-Äußerungen immer ernst zu nehmen und erfordern sofortige und zielgerichtete Maßnahmen. Eine erhebliche Anzahl von Menschen stirbt durch Suizid, weil die Vorankündigungen von der Umwelt nicht beachtet worden sind. Die wichtigste Aufgabe ist es, durch Angehörige, Mitglieder der Wohngemeinschaft, Arbeitskollegen oder Freunde eine intensive Fürsorge, eine günstige kommunikative Situation, d.h. ein Sichgeborgenfühlen in einer sozialen Gruppe, herbeizuführen. Natürlich muss ein Teil dieser Fürsorge um den Patienten eine Art Aufsichtsfunktion sein, um den Patienten von suizidalen Handlungen abzuhalten. Jedoch ist dies nur sinnvoll, wenn es eingebettet ist in ein echtes sichbemühen um die seelische Problematik des Patienten. Unterstützend können Psychopharmaka (durch den behandelnden Arzt verordnet) angewendet werden. Es ist weiterhin erforderlich, eine exakte Analyse der sozialen und psychischen Situation vorzunehmen, um das Ausmaß der Gefährdung, den Anteil der Selbsttötungsabsicht zu ermitteln. In der Regel ist die Einweisung in das psychiatrische Krankenhaus bei dem Vorliegen eines dringlichen Verdachtes gerechtfertigt. Besonders gefährdet sind folgende Krankheitsgruppen: endogene Depressionen, schizophrene Psychosen mit depressiver Symptomatik, psychische Erkrankungen des Alters, besonders bei sozialer Isolierung, chronischer Alkoholismus. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ist eine intensive Nachsorge mit dem Ziel der Beseitigung der Konflikte bzw. der Verbesserung der sozialen Situation (Beseitigung der sozialen Isolierung) erforderlich, hier ist zunehmend psychologische Betreuung gefragt.

 

Dr. H. Gutsche
(Psychotherapeut)