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Fallstudien aus der Praxis

Psycho-Onkologie

Eine 43-jährige Patientin kam infolge ihrer Brustkrebserkrankung zur Anschlussbehandlung in die Fachklinik für onkologische Rehabilitation. Sie wurde mir von ihrer behandelnden Ärztin mit den Schwerpunkten Krankheitsbewältigung und emotionale Stabilisierung zur Beratung angemeldet. Darauf aufbauend erfolgte eine umfassende Anamnese nach familiären, beruflichen und psychosozialen Kriterien anhand der Patientenakte, der darin gesammelten ärztlichen Befunde und des klinikinternen Aufnahmeuntersuchungsbogens. Für ihren 4-wöchigen Rehabilitationsaufenthalt wurden die Gespräche zweimal pro Woche á 60 Minuten mit insgesamt 8 Terminen vereinbart. Die Patientin wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich um keine starren Terminvorschriften handelt, sondern Abweichungen durch zum Beispiel Zusatz- oder Ausfalltermine jederzeit möglich seien, um das Gesprächsangebot für sie recht individuell zu gestalten und weitestgehend auf ihre Wünsche abzustimmen.

Im psychosozialen Erstgespräch erschien eine zurückhaltende und antriebsgehemmte Patientin, welche zu den Folgeterminen zunehmend aufgewühlt und unsortiert wirkte. Sie äußerte mehrfach den Wunsch ausgeglichener zu werden, wieder mehr zu sich selber und zu innerer Ruhe zu finden. Ihr sei es dennoch sehr wichtig, sich dabei nicht zu sehr nach außen zu verschließen, wie sie es bisher oft getan habe. Sie berichtete zunächst zögerlich, dass ihr Kopf nicht frei sei und sie nicht abschalten könne. Nach einer längeren Sprechpause, erklärte sie, dass es ihr nach der Entfernung ihrer rechten Brust zunehmend schwer fiele, sich gegenüber ihrem Ehemann zu öffnen. Sie könne kaum noch Zärtlichkeiten zulassen, wodurch sie sich sehr „beklemmt“ fühle. Auf die Annäherungen ihres Mannes würde sie nur noch bedingt eingehen und ziehe sich, ab einer bestimmten Grenze, immer wieder zurück. Zwischen ihren Schilderungen geriet die Patientin immer wieder ins Stocken und kämpfte mit ihren Tränen. Sie wurde behutsam darin bestärkt, ihren Gefühlen und damit ihrer Traurigkeit nachzugeben. Sie leide weiterhin darunter, dass sie vieles mit sich alleine ausmachen müsse und weniger Kommunikation mit ihrem Partner möglich sei. Er könne sich kaum in ihre Lage hineinversetzen, weil er vorher noch nicht mit dem Thema „Krebs“ konfrontiert worden sei und er sie dadurch oftmals nicht verstehe. Deshalb sei es für die Patientin ein ebenso wichtiges Ziel, die Qualität ihrer partnerschaftlichen Beziehung zu verbessern. Daneben beschäftige und belaste sie die Angst vor einem Rezidiv, welche immer stärker werde, sobald sie Schmerzen verspüre.

Der Patientin wurde in den Gesprächen Zeit und Raum gegeben, um über ihre vielschichtigen Probleme und Sorgen sowie den damit verbundenen Leidensdruck sprechen zu können. Bei den dabei aufkommenden Emotionen wurde sie mittels supportiver Gesprächsführung1 entlastet. Sie wirkte in ihren Ausführungen immer wieder zurückhaltend, bemühte sich aber ihre Wünsche und Ziele zu formulieren. Es wurde ein ressourcenorientierter und selbstwertstärkender Ansatz gewählt, um den Fokus auf ihre Stärken und bisherigen Bewältigungsstrategien zu lenken und dadurch Stressbeziehungsweise Belastungsfaktoren zu vermindern. Darauf aufbauend wurde der partnerschaftliche Ist-Zustand dem Soll gegenübergestellt, um Ideen für eine gewinnbringende Kommunikation herausarbeiten zu können. In diesem Zusammenhang wurden der Patientin erst einmal Hinweise und Regeln für eine angemessene Gesprächsgestaltung vermittelt. Auch an diesem Punkt zeigte sich die Patientin eher verschlossen. Sie meldete zurück, dass das Thema für sie gerade sehr anstrengend sei.

Durch längere Pausen und das Akzeptieren ihres Schweigens, sollte ihr der Druck genommen und das Gefühl gegeben werden, dass sie allein den Augenblick bestimme, wann sie sich einbringen wolle. Ihr sollte weiterhin genug Zeit gegeben werden, um ihre Gedanken zu ordnen und entscheiden zu können, was sie mitteilen wolle. Deshalb war es auch hin und wieder angebracht, das Gespräch zu unterbrechen und einen neuen Termin zu vereinbaren.

In den darauffolgenden Sitzungen brachte sich die Patientin zwar wieder aktiver ein, stellte aber immer häufiger Gegenfragen, um von ihrer eigenen Problematik abzulenken. Sobald sie versuchte, auszuweichen, wurde sie nach vorheriger Absprache mit Hilfe des Wortes „Stopp“ darauf aufmerksam gemacht und wieder zu ihrer eigenen Thematik zurückgebracht. Es wurde der Ich-Gebrauch beim Formulieren trainiert, um Verallgemeinerungen in der Wortwahl beziehungsweise im Sprechverhalten abzubauen. Dadurch war die Patientin angehalten, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Gleichzeitig wurde sie dafür sensibilisiert, im Gespräch weniger Verneinungen zu verwenden, um automatisch mehr zu einer positiven Sicht der Dinge gelangen zu können. So wurde ihr im Weiteren die Technik des positiven Denkens näher gebracht, um sich in ihrer Partnerschaft mehr auf die Dinge zu konzentrieren, die gut funktionieren oder die Momente bewusst wahrzunehmen, in denen die Angst vor einem Rezidiv nicht auftritt. Es wurde reflektiert, wo in der Beziehung zu ihrem Ehemann bereits kleine Entwicklungen und Veränderungen erkennbar waren, auf denen sie aufbauen und welche sie möglicherweise als kleine Fortschritte umdeuten könne. Stressfördernde Einstellungen (irrationale Glaubenssätze) konnten dabei identifiziert und teilweise umstrukturiert werden. So konnte die Patientin für sich schließlich auch eine Möglichkeit finden, um ihren Mann mehr an ihren Gefühlen teilhaben zu lassen. Sie wolle ihm gegenüber beispielsweise ihre persönlichen Grenzen in bestimmten Situationen mehr ansprechen.

In Bezug auf ihre Rezidivangst konnte der Patientin durch sokratische Dialogführung2 verdeutlicht werden, dass körperliche Schmerzen alleine noch kein Anzeichen für ein Rezidiv darstellen müssen. Ihr wurde darüber hinaus ein Erklärungsmodell zur Angst vorgestellt, um verschiedene Prozesse zu visualisieren, verständlicher zu machen und auf ihre spezielle Situation zu übertragen. Die Patientin wurde gleichzeitig in ihrem Verhalten bestärkt, sich auch künftig den angstauslösenden Faktoren zu stellen. Sie habe in der Vergangenheit bereits selber die Erfahrung gemacht, dass Verdrängung oder Vermeidung häufig eine Verstärkung des Problems zur Folge haben, so dass ihr dadurch erst die Notwendigkeit der direkten Konfrontation klar geworden sei. Hinsichtlich ihres emotionalen Befindens, wurde der Patientin aufgezeigt, wie wichtig ein Aktivitätenaufbau für ihre Stabilisierung sei. Dafür wurden gemeinsam mit Hilfe eines Mind Maps unter der Überschrift „Schritte zur Ausgeglichenheit“ Ideen gesammelt, wie zum Beispiel wieder mehr auf ihren Ehemann zuzugehen und offener mit ihm zu sprechen. Die Patientin zeigte sich zwar motiviert, fühle sich aber bei der tatsächlichen Umsetzung dieses Vorhabens noch unsicher und überfordert. Sie wurde schließlich dabei unterstützt, ihre Gedanken und Pläne zu sortieren und Prioritäten zu setzen. Zusätzlich wurde ihr zur inneren Erleichterung verdeutlicht, dass es nicht immer sofort um das Finden einer Lösung gehen muss, sondern verschiedene Ansätze oder Ideen entwickelt und ausprobiert werden sollten, um dem Ziel Schritt für Schritt etwas näher kommen zu können.  Zur weiteren persönlichen Entlastung wurden gemeinsam mit der Patientin mittels des Genusstrainings konkrete Ansätze herausgearbeitet, wie sie sich selbst wieder mehr verwöhnen und etwas gönnen könnte, um ihr Unruhegefühl zu vermindern. Begleitend dazu nahm sie am Autogenen Training teil, wodurch zusätzlich Anspannungen gelöst werden konnten. Sie eignete sich auf diesem Weg Basiskompetenzen der konzentrativen Selbstentspannung an und wolle auch zu Hause wieder mehr entspannen, was ihr bereits in der Vergangenheit mit Hilfe von Spaziergängen und dem Aufsuchen von Ruheorten in der Natur gelang.

Insgesamt sei es für die Patientin hilfreich gewesen, gewisse Dinge in den gemeinsamen Gesprächen mehr zu hinterfragen und zu schauen, worin der Erfolg beziehungsweise Gewinn beim Ausführen bestimmter Tätigkeiten liegt. Sie könne sich vorstellen, mehr aus sich herauszukommen ohne dabei sofort aus dem Gleichgewicht zu geraten, wenn sie es schaffe, ihre Aufmerksamkeit mehr darauf zu richten, was ihr gewisse Anstrengungen bringen und weniger darauf, was sie ihr im Vorfeld abverlangen. Sie wolle trainieren, hinter alltäglichen Pflichten – also hinter dem „Soll“ – mehr das Ergebnis und die Belohnung zu sehen, um somit eher zum selber „Wollen“ zu gelangen und dadurch automatisch dem inneren Druck entgegenzuwirken. Die Patientin sehe darin eine wichtige Aufgabe, die aber im Moment noch wie ein unüberwindbarer Berg vor ihr stehe. Sie traue sich dies nicht alleine zu und wisse, dass sie dabei Unterstützung bräuchte.

Während der Gespräche konnte bei der Patientin zeitweilig eine Stimmungsaufhellung und emotionale Stabilisierung erreicht werden, welche aber immer wieder durch Gefühlseinbrüche gekennzeichnet waren. Die Patientin wolle sich selber wieder mehr Gutes tun und mehr genießen, um ruhiger werden zu können, benötige aber auch dafür jemanden, der sie begleite und an ihre Vorhaben erinnere. Sie sei optimistisch, dass ihr Kopf dadurch auch wieder freier werden könne und sie dann auch wieder mehr Kraft für ihre Partnerschaft habe. Sie habe dennoch Angst, wieder in gewohnte Muster oder Verhaltensweisen zurückzufallen und wolle im Anschluss an die Rehabilitation gemeinsam mit ihrem Ehemann Paargespräche beim Psychologen wahrnehmen. Sie wolle lernen, sich ihm leichter anzuvertrauen und nicht mehr alles mit sich alleine ausmachen zu müssen. Auch im Hinblick auf ihre Rezidivängste und zur weiteren Festigung, wurde der Patientin eine psychologische Weiterbetreuung am Wohnort empfohlen, was auch ihrem Wunsch entspricht. Sie wolle zeitnah einen Gesprächstermin bei einem Psychologen vereinbaren.

Obwohl die Patientin anfangs eher distanziert wirkte und zu bedenken gab, dass es ihr sehr schwer falle, sich gegenüber einer „fremden Person“ auszusprechen, sei sie rückblickend dankbar gewesen, einen „Zuhörer“ gefunden zu haben und verschiedene Denkanstöße mitnehmen zu können. Sie fühle sich nach den Gesprächen zumindest etwas „freier“ und teilweise auch „gelassener“.

Wie dieses Fallbeispiel zeigt, sollte stets berücksichtigt werden, dass es zunächst einmal eine gewisse Zeit dauert, bis ein Patient aus seinem zurückhaltenden vorsichtigen Verhalten „auftaut“. Je sensibler oder intimer sein Problem ausgeprägt ist, umso schwerer kann es sein, den Patienten für die Gespräche zu gewinnen und umso mehr Geduld und Feinfühligkeit wird dem Therapeuten in diesem Moment abverlangt. Erst dann, wenn sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt hat, kann sich der Patient immer mehr gegenüber dem für ihn „fremden“ Gesprächspartner öffnen. Dabei gilt es stets zu akzeptieren, dass die Entscheidung, was er mitteilen und preisgeben möchte, jederzeit bei ihm selber liegt. Dazu gehört vor allem auch, ein Schweigen des Patienten auszuhalten oder mit Entwicklungsrückschritten, welche nicht selten vorkommen, umgehen zu können. Eine große Herausforderung besteht nicht zuletzt darin, dem Patienten seine Unsicherheit, Bedenken oder gar Vorurteile zu nehmen und die eigene beraterische oder therapeutische Rolle als Zuhörer und Begleiter zu vermitteln. Dabei kann es hilfreich sein, dem Patienten das Gefühl zu geben, dass er zumindest für einen Augenblick die eigene Last mit einem anderen Menschen teilen und dadurch möglicherweise eine eigene emotionale Entlastung erfahren kann.

 

psycho-onko

Elisabeth Lier geboren 1981, seit 2005 Diplom-Sozialpädagogin (FH), von 02/2006 - 02/2009 in der psychosozialen Abteilung einer Fachklinik für onkologische Rehabilitation tätig, seit 10/2008 Psychologische Beraterin (VFP) und Seminarleiterin für Autogenes Training

 


1 Unterstützende und stabilisierende Gesprächsführung.

2 Eine Methode, um Behauptungen, Schlussfolgerungen und Vermutungen des Patienten in Frage zu stellen und auf ihre Richtigkeit beziehungsweise Wirklichkeit überprüfen zu lassen.