Reinkarnationstherapie
Wohin geht die Seele? Ist sie unsterblich? Zu allen Zeiten und überall auf der Welt haben sich Menschen diese Frage gestellt: Die eigene Sterblichkeit und der Wunsch, sie zu überwinden, ist ein klassischer Traum des Homo sapiens, und die vorläufigen Antworten darauf sind Grundlagen der Weltreligionen.
Heute ist vor allem die hinduistische und buddhistische Weisheit bezüglich der Seelenkunde in Europa sehr beliebt. Laut des Online-Informationsdienstes "Informationsplattform Religion" leben in Deutschland über 100.000 Hindus, aber auch mehr als 50.000 deutsche Anhänger hinduistischen Glaubens. Insbesondere das ursprünglich religiöse Konzept der Wiedergeburt fasziniert heute auch Europäer in zunehmendem Maße und findet zudem auch Eingang in die Therapiekultur. Die sogenannte Reinkarnationstherapie gründet auf westlich und östlich geprägten Vorstellungen vom unsterblichen Wesen der Seele und arbeitet mit Trance, um Erinnerungen an vergangene Leben abzurufen – ein umstrittenes Konzept.
Während Anbieter damit werben, "Traumaknoten aus der Vergangenheit" auflösen zu können, halten Kritiker diese Methode für kommerzialisierten Aberglauben. Die "Gesellschaft für Wissenschaft und Parapsychologie" (GWUP) warnt ausdrücklich vor einer Überschätzung von Reinkarnationstherapien: "Reinkarnationstherapie ist – unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt – zur Behandlung seelischer Probleme und Störungen nicht geeignet, da sie mit einem hohen Risiko verbunden ist", heißt es in ihrer Zeitschrift "Der Skeptiker". Kann man dem "Rad des Lebens" überhaupt in die Speichen greifen und es anhalten? Diese Frage bleibt ungelöst. Doch nicht nur die Wirksamkeit, sondern auch das Konzept solcher Therapien ist strittig. Welche Ideengeschichte steht dahinter, was sind die weltanschaulichen Wurzeln von Reinkarnationstherapien? Gründen sie auf exotischer Religion oder auf uralten "Glaubenssätzen" auch westlicher Philosophie?
AUF DER REISE NACH INNEN
Susanne P., eine Mittvierzigerin aus einer Kleinstadt nahe Frankfurt, ist Angstpatientin und hat, ihren Aussagen zufolge, bereits eine lange "Odyssee" durch Therapieverfahren hinter sich. Immer wieder kann es ihr passieren, dass sie durch Sozialangst unfähig wird, einen Bus in die Innenstadt zu nehmen oder gar schon, das Haus zu verlassen. Depressionen stellen sich ein, weil sie sich immer weniger zutraut und sich von ihrem Umfeld isoliert. Eine, von ihrer Krankenkasse genehmigte, Verhaltenstherapie erwies sich als nur kurzzeitig wirksam.
Als ihre Angstzustände wieder akut wurden, suchte sie eine heilkundliche Psychotherapeutin auf, mit der sie zunächst gut zusammenarbeitete. Aber auch diese Therapie brach sie enttäuscht ab, weil sie dabei das Gefühl hatte, nicht an den eigentlichen "Kern" ihres Problems zu gelangen, sondern ihn sozusagen nur gesprächsweise zu umkreisen. Zuletzt ließ sie sich von ihrer Freundin Anne, die sich stark mit Esoterik beschäftigt, einen Reinkarnationstherapeuten vor Ort empfehlen. Dieser wirbt damit, die Ursachen seelischer Konflikte aufzudecken – Susanne fühlt sich angesprochen. Auf der Praxisliege, unter den suggestiven Worten des Therapeuten, sinkt sie sofort in einen tranceartigen Halbschlaf. Bilder steigen auf, die ihr seltsam vertraut scheinen … Ist das die Lösung ihrer Probleme? Gibt es überhaupt so etwas wie Wiedergeburt?
HINDUISMUS: DAS RAD DES LEBENS
Lange bevor wir in Europa etwas von Wiedergeburt wussten, existierte in Indien schon eine ausführliche Philosophie über das Leben, Sterben und Wiederverkörpern. Schon ab 700 v. Chr. entstanden die die Bücher der Upanishaden, kleine Lehrstücke über Naturphilosophie, Erkenntnis und Moral. Ein zentraler Bestandteil der Upanishaden ist die Bhagavad Gita, eine Erzählung über einen Brüderkrieg, in dem sich die Kämpfenden bis aufs Blut bekriegen, aber auch ihre Verzweiflung angesichts des Todes darlegen.
Die Sterblichkeit ist die Frage dieses religionsphilosophischen Märchens. Auf dem rauen Schlachtfeld überdenken die verfeindeten Brüder plötzlich Sinn und Ziel des Lebens. Gibt es etwas nach diesem Leben? Wohin geht die Seele? Hier wird erstmals in der Literatur klar Stellung für die Unsterblichkeit der Seele und ihre Wiedergeburt bezogen. "Die Seele ist unsterblich, Feuer brennt sie nicht, ein Pfeil trifft sie nicht …" erkennt Ardjuna, eine Hauptfigur des Lehrstücks. Die Seele ("Atman") ist todlos.
Diese Idee der Unsterblichkeit der Seele findet sich in vielen anderen Teilen der Upanishaden wieder und wird Grundlage einer vielseitigen Reflexion über die menschliche Existenz, ihre Ziele und Aufgaben. Da die persönliche Seele nicht stirbt, ist ein ewiger Kreislauf von Leben, Tod und Wiedergeburt nur folgerichtig. Das Rad des Lebens, samsara genannt, ist verknüpft mit der moralischen Lehre vom Karma. Karma heißt in der alten indischen Gelehrtensprache Sanskrit "Tun, Machen" und bezeichnet das Gesamt aller menschlichen Handlungsformen, die Konsequenzen haben.
"Wie einer handelt, wie einer wandelt, ein solcher wird er. Aus guter Handlung entsteht Gutes, aus schlechter Handlung entsteht Schlechtes", lehren die Upanishaden. Das Tun des Menschen offenbart aber nicht nur seinen Charakter, sondern macht auch Wiedergeburten notwendig, um eine Schuld zu begleichen, und hält somit das Lebensrad in Bewegung. Dem endlosen Kreislauf entkommen kann nur der, der zuletzt die Erlösung erlangt – durch Gebet und Meditation, aber auch durch tadellosen Lebenswandel.
"SEELENSPIELE" IN DER ANTIKE
Die frühe Antike kannte noch keine Wiedergeburtslehre. Der Dichter Homer ist um 800 v.Chr. mit seinen Zeitgenossen der Ansicht, nach dem Tode käme die Seele in die Unterwelt (Tartaros), wo sie ein Fährmann über den Unterweltsfluss Acheron zu den Ländern der Toten bringt. Dort erwarten sie andere Verstorbene – Freund und Feind – aber nicht die Chance, wieder ins Reich der Lebenden emporzusteigen. In seinem berühmten Heldenepos, der Ilias, lässt Homer einem von seinem Freund verlassenen Mädchen den Rat geben "Gräme dich nicht, Jungfrau, liebe wieder – im Totenreich findest du keinen Verehrer!" Die frühe griechische Denkweise war sehr weltlich: Es galt einfach, das Leben im Hier und Jetzt zu genießen, denn der Tartaros war die Endstation.
Anders verstehen Empedokles, Pythagoras und Platon die Seelenkunde. Die ersten beiden waren Naturforscher und fanden, dass nichts in der Natur verloren gehen könne – also auch nicht die Seele, die sie für eine Art Energie hielten. Der Athener Philosoph Platon (5. Jahrhundert v. Chr.) hingegen sieht die Seele wie einen Schauspieler, der sich in wechselnde Gewänder kleidet, um unterschiedliche Rollen zu spielen. In seinem berühmten Dialog "Phaidon" beschreibt er, dass die Seele vor ihrer Verkörperung an einem Ort der rein geistigen Ideen (kosmós noetós) verweilt, wo sie sich selbst eine Existenzform aussucht. Ihr werden in einer Vision verschiedene Personen mitsamt ihrem Schicksal gezeigt und sie darf sich aussuchen, wie sie sich verkörpern möchte: als schöne, aber unglücklich verliebte Frau, als ein schwerreicher Mann, der früh stirbt, als armer Wissenschaftler … Erst nach dieser Wahl – einer Art Vertrag mit Gott – verkörpert sich die Seele. Diese philosophische Idee hat zur Folge, dass ein jedes Schicksal nicht nur vorherbestimmt, sondern auch herbeigewünscht ist, denn in der vorkörperlichen Existenz hatte die Seele Platon zufolge schon Kenntnis von den Fehlern und Schicksalsschlägen der Personengestalt, die sie annimmt. Dürfen wir uns dann also darüber beklagen, wenn ein anderer mehr Vermögen hat oder wenn wir uns ein Bein brechen? In der platonischen Philosophie nicht, denn wir gingen den Handel mit dem Schicksal bewusst ein und haben im Geistreich gleichsam einen "Arbeitsvertrag" für unsere menschliche Rolle mitsamt Dauer, Aufgaben und Gage unterschrieben.
Warum und wie oft die Seele nun aber lebt, dann in die rein geistige Welt zurückkehrt und wiederkommt, ist bei Platon nicht ganz eindeutig beschrieben. Klar ist jedoch, dass die Moral eine große Rolle spielt und das Leben auf der Erde als ein Läuterungsprozess angesehen wird. Nach Platon hatte vor allem auch Plotin die Idee, dass Menschen zum Zweck der moralischen Vervollkommnung und der Erkenntnis ins Erdendasein geschickt werden. Ähnlich wie Platon glaubt auch dieser Denker, es gäbe einen Ort rein geistiger Existenz, von dem aus die Seele sich eine Daseinsform wählen kann. Die Verkörperung selbst wird jedoch als "Fallen" aus der idealen Vorexistenz heraus verstanden, denn dieser Philosoph war der Meinung, die Erde sei gar nichts so Besonderes und die reine Geistigkeit viel wertvoller. Der Spötter und Biograph vieler antiker Prominenter, Diogenes Laertius, hält Plotin jedoch für ein Muttersöhnchen und für sehr versponnen. Insbesondere seine Idee, Menschen könnten als Tiere wiedergeboren werden, wurde viel belächelt. Ein anderer Philosoph, Porphyrius, greift diesen Gedanken auf und meint, man würde nur im sinnbildlichen Sinne "zum Tier" – indem man in der nächsten Verkörperung vielleicht listig sei wie ein Fuchs, aber keinesfalls als Rotpelz durch den Wald laufe…
MITTELALTER:
KETZER UND KIRCHENFÜRSTEN
Ob Tiere eine Seele besitzen, die sich reinkarnieren könne, oder ob Menschen als Tiere wiedergeboren werden – egal, ob sinnbildlich oder tatsächlich – ist keine Frage, die ein kluger Mensch im Mittelalter öffentlich gestellt hätte. Zu groß war die allgemeine Angst, als Ketzer abgestempelt zu werden. Die offizielle kirchliche Lehrmeinung war rigoros: Es gibt keine Wiederverkörperung, und wer solches annimmt, ist ein Ungläubiger, und wer solches lehrt, ein Irrlehrer. Das Konzil von Konstantinopel (553) hatte mit der Verfemung des Philosophen Origines festgesetzt, dass der Gedanke einer vorkörperlichen Existenz der Seele unvereinbar mit der christlichen Theologie sei – und das freimütige Bekenntnis zu Reinkarnationsgedanken führte unweigerlich zum Kirchenbann oder auch auf einen brennenden Scheiterhaufen.
Kann man sich vorstellen, dass nicht nur die Wiedergeburt, sondern auch die Existenz der Seele selbst bestritten wurde? Es gab tatsächlich auch die theologische Lehrmeinung, nicht alle Menschen seien beseelt – nicht einmal für ein Erdenleben, geschweige denn mehrmals wiederkehrend. Der Kirchenfürst Thomas von Aquin war im dreizehnten Jahrhundert der Meinung, die Seele sei laut der Bibel ein Abbild Gottes; da Gott jedoch als männlich gedacht wurde, hätten Frauen möglicherweise gar keine Seele. "Habet feminam animam (ist die Frau beseelt)?", konnte nur deshalb eine Lehrfrage an theologischen Fakultäten werden, weil die "Gottförmigkeit" der Seele stereotyp nur dem männlichen Geschlecht zugeordnet wurde.
In diesen dunklen Zeiten hielten nur Mystiker und einige von der christlichen Lehre Abtrünnige eine Fackel des alten Wissens hoch. Die Äbtissin Hildegard von Bingen beschreibt Gott in ihren Visionen als den Urgrund der Seele und als ein feuriges, sich ewig drehendes Rad (rota), und man munkelte, dass die Anhänger der südfranzösischen Sekten der Katharer in den Untergrund abtauchten und dort die antike Lehre der Seelenwanderung vermittelten …
MASCHINENMENSCHEN UND "EWIGE WIEDERKEHR"
Auch wenn nun eine ganze Epoche den Namen der Wiederverkörperung trug – die Renaissance heißt übersetzt "Wiedergeburt" – ging es im Anschluss an das Mittelalter nicht um eine größere Verbreitung der ehemals ketzerischen Reinkarnationslehre, sondern um ein Neuentdecken der klassischen Antike in Kunst und Philosophie. Der Aufschwung der Naturwissenschaften, die auf Erfahrung und Messbarkeit gründen, drängte den Glauben an die Wiederkehr und an die Seele selbst in eine gesellschaftliche Nische. Lediglich auf den ersten italienischen Tarotdecks spielt die Arkana-Karte "Das Rad" auf die indische Vorstellung vom samsara, der Wiederkehr der Seele, an. Doch der Zeitgeist ab 1600 war ungünstig für Zartfühlende. Am Anatomie-Institut Leyden schnitt man Leichen auf, um den Sitz der Seele zu finden – und da man sie nicht fand, glaubte man nicht mehr an sie. Noch im 18. Jahrhundert, als in Frankreich die Revolution ausgerufen wurde, betrachtete man den Menschen als seelenlos. Modephilosophen sprachen vom "homme machine", dem Maschinenmenschen, der nichts ist als ein Stück gehende, sprechende Materie.
Eine neue Weltanschauung, die nur mehr die Materie als existent ansah, eroberte Europa: der Materialismus. Wenn aber nur der Körper und die Gegenstände ein Leben haben, gibt es dann noch Seele, Fantasie, Spiritualität und moralische Normen? Nein, strenggenommen gibt es für das Leben weder Inhalt noch Richtlinie. Die extremste Konsequenz daraus ist der Nihilismus (von lat. "nihil" = nichts), der den Menschen als seelenloses Wesen in einem sinnlosen Kosmos ansieht, der jedoch dazu verdammt ist, immer wieder in neuer Zusammensetzung zu erscheinen. Der Grund ist kein religiöser, sondern einfach ein physikalischer. Erinnern Sie sich noch an die griechischen Naturforscher, Empedokles und Pythagoras? "Nichts geht verloren", meinten sie, der Mensch kehrt immer wieder, da er als unzerstörbare Energie gedacht wird. Ähnlich denkt auch der Anhänger des Nihilismus über zweitausend Jahre später, nur mit dem Unterschied, dass die Welt im 19. Jahrhundert oft nicht mehr als schöner, lebensfroher Ort gedacht ist wie in der Antike, sondern als ein sinnentleertes Allerlei an Erscheinungen – und die Wiederkehr als Qual.
Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche formulierte das Konzept der "ewigen Wiederkehr" der Dinge und Menschen, an das er auch persönlich glaubte. Ab und zu hatte er leise Bedenken: "Es gibt zwei Argumente gegen die ewige Wiederkehr – meine Mutter und meine Schwester." Diese beiden Damen waren ihm nämlich spinnefeind. Was für eine bedrückende Vorstellung, wenn nicht nur unsere Freunde, sondern auch die Gegner uns immer wieder begegnen müssen …
PSYCHOLOGIE IN DER POSTMODERNE
"Die Seele ist nicht totzukriegen", witzelte man vor dem Zweiten Weltkrieg. Am Vorabend des großen Krieges hatte sich die philosophische Mode gewandelt und der Materialismus war in weiten Kreisen schon wieder abgelöst durch ein Interesse an dem unsterblichen geistigen Gehalt des Menschen. Während die aufstrebende Psychoanalyse nach Freud die Seele zwar als existent, aber nicht mehrmals wiederkehrend ansieht, geht der beliebte Spiritismus von unsterblichen, reinkarnierenden Seelen aus. Überall in Europa wurden geistliche Logen gegründet und Séancen abgehalten, um mit Verstorbenen zu kommunizieren. Auch die Strömung der Theosophie bringt die hinduistische Seelenlehre wieder in westliche Wohnzimmer, oder, in einer Abwandlung, in die (Waldorf-)Schulen. So manches, was wir aus der Bhagavad Gita kennen, taucht in den Schriften der Theosophin Helena Blavatsky und des Anthroposophen Rudolf Steiners wieder auf: Hier wie dort ist die Seele "durch kein Feuer zu verbrennen, durch keinen Pfeil zu treffen", sie bleibt todlos und entwickelt sich in ihren vielen Inkarnationen persönlich und moralisch immer weiter.
Sowohl Frau Blavatsky als auch Rudolf Steiner waren jedoch umstritten, weil ihre Vorstellungen von der Seelenwanderung sich mit den, für die damalige Zeit typischen, Vorstellung von Rasse und Nation mischten. Nach dem Zweiten Weltkrieg distanzierte man sich in Europa wieder von "welt-erklärenden" Konzepten über die Seele und ihre Wiederkehr und wandte sich eher den realen Bequemlichkeiten des Lebens zu: Ein aussichtsreicher Job in Zeiten der Hochkonjunktur, das neueste Automodell und ein schöner Urlaub galten vielen Bürger als genug "Philosophie". Die 68er-Revolution brachte dann nicht nur mehr rebellischen Geist an die Hochschulen, sondern auch alternative Lebenskonzepte ins Bewusstsein der Bevölkerung. Eine große Inspiration der Hippie-Bewegung war die indische Kultur und Religion und somit auch die Wiedergeburtslehre. Diese gab auch Anreize für ein neues therapeutisches Handeln.
In den siebziger Jahren kam durch Thorwald Dethlefsen und seine sogenannte Münchner Schule die Reinkarnationstherapie auf, die verspricht, in Trance Kernursachen von Konflikten in vergangenen Leben zu ergründen. Dethlefsen verstand seine neue Form der Therapie gleichsam als eine Art gründlichere, radikalere Psychoanalyse, die nicht bei der Geburt und dem frühen Kindesalter beginnt, sondern die Ursachen für neurotische Konflikte und Traumata bereits in früheren Verkörperungen sucht.
SEHEN, WAS IST, ODER SEHEN, WAS MAN GLAUBT?
Inzwischen gibt es im deutschsprachigen Raum mehrere hundert Anbieter, die von den Erfolgen ihrer Methode berichten. Kritiker der Reinkarnationstherapie halten sie jedoch für unbegründeten Aberglauben, für irrational und methodologisch unsicher. Anhänger Freuds deuten die in Trance aufsteigenden Bilder als rückwärtsprojiziertes Fantasiematerial, gleichsam als "freie Assoziation", die auf imaginäre Orte der Vergangenheit gerichtet ist. Dem widersprechen allerdings Studien, wie die des Arztes Ian Stevenson, der schon 1950 viele authentische Fälle von Rückerinnerungen bei Kindern beschreibt, die nachweislich ihre frühere Identität, ihre Familie, sogar ihre Todesart beschreiben konnten – und deren Erzählungen durch Nachforschung am Ort bestätigt wurden! Andererseits gab und gibt es Fälle sensationeller "Rückerinnerungen" wie den der Hochstaplerin Bridey Murphy, Fälle, die eindeutig der Selbstprofilierung einer neurotischen Persönlichkeit dienen und keinesfalls als authentisch einzustufen sind. Erfahrene Anbieter dieser Therapien gehen heute davon aus, dass nur ein Drittel der "Erinnerungen" durch Nachforschung anhand empirischer Daten validierbar ist, ein Drittel fragwürdig und ein letztes Drittel frei erfunden.
Eins steht jedoch für Befürworter und Kritiker gleichermaßen fest: Man sieht in diesem Trance tatsächlich Bilder aufsteigen. Wie kann aber etwas funktionieren, das es eigentlich nicht geben kann? Manches Erinnerte mag auf Täuschung oder Selbsttäuschung beruhen, aber nicht alles. Forscher sprechen hier von "Kyptomnesie". Dieser Zungenbrecher bezeichnet die Eigenschaft unseres Gehirns, Bruchstücke von Informationen verdeckt zu speichern und sie bei Gelegenheit wieder abzurufen. Reinkarnationserinnerungen seien also nichts anderes als verdeckte eigene Erinnerungen, die durch die Suggestivfragen des Therapeuten, oft eingebettet in Praktiken des katathymen Bilderlebens, plötzlich wieder hervorgebracht werden.
Das ist nicht immer ein angenehmer Prozess! Tatsächlich darf eine "Rückführung", wie die Reinkarnationstherapie auch volkstümlich genannt wird, im akuten Krisenfall keinesfalls als ein Ersatz für eine fundierte Psychotherapie mit verhaltens- oder gesprächstherapeutischem Schwerpunkt überschätzt werden. Für psychotische Patienten wäre dies einfach unverantwortlich, für emotional instabile Menschen ebenfalls eine Gratwanderung.
Die Angstpatientin Susanne P. aus unserem Beispiel etwa sollte nicht die Erlebnisse der Reinkarnationstherapie als ultimative Lösung ihrer Phobie missverstehen, sondern als eine Zutageförderung von seelischem Material, das zum Gegenstand einer seriösen therapeutischen Gesprächspraxis werden sollte. Ein verantwortungsvoller Therapeut bietet daher auch immer Vor- und Nachgespräche an, um die teils emotional sehr belastenden aufwühlenden Erlebnisse während einer Rückführung besser zu verarbeiten. Zuletzt ist eine Rückführung aber auch für viele psychisch gesunde, mitten im Leben stehende Menschen einfach ein spannendes Experiment. Auch wenn weder Buddha noch Nietzsche die Grundfrage des Lebens zufrieden stellend lösen konnten, möchten wir uns selbst radikal erforschen. Wer würde nicht gern eine uralte philosophische Faszination östlicher und westlicher Kultur an sich selbst ausprobieren?