Skip to main content

Abschlussarbeit zur Ausbildung Psychologische Beratung/Psychotherapie; Thema: Kranken- und Sterbebegleitung

Sie sind wichtig, weil Sie eben Sie sind. Sie sind bis zum letzten Augenblick Ihres Lebens wichtig, und wir werden alles tun, damit Sie nicht nur in Frieden sterben, sondern auch bis zuletzt leben können.

Cicely Saunders · Günderin des ersten Hospizhauses in London

 

Vorwort

Den vorliegenden Fall betreue ich als Begleiterin in einem Hospizverein. Die MitarbeiterInnen dieses Vereins arbeiten ehrenamtlich und begleiten Schwerkranke und Sterbende sowie - falls erwünscht und /oder notwendig - deren Angehörige zu Hause, im Krankenhaus oder in Alten- und Pflegeheimen. Auf diese Tätigkeiten wurden wir circa neun Monate lang vorbereitet sowohl was die Auseinandersetzung mit unserem eigenen Tod und Sterben angeht, als auch unter anderem hinsichtlich Trauerarbeit, Kommunikation und Gesprächsführung. Während der Vorbereitungszeit spielte Selbsterfahrung eine wesentliche Rolle. Wir verstehen uns als BegleiterInnen, stehen an der Seite derer, die wir betreuen. Üblicherweise wenden sich Angehörige an den Hospizverein mit der Bitte um Unterstützung für ein Familienmitglied. Der Verein delegiert an die BegleiterInnen, die daraufhin zunächst das Erstgespräch mit dem Angehörigen suchen und somit den eigentlichen Kontakt herstellen. Unsere Aufgabe ist es nicht zu therapieren. Insofern stellen wir für gewöhnlich auch keine Diagnosen. Der vorliegende Fall ist außergewöhnlich komplex. Auf alle therapeutischen Möglichkeiten, die mir dazu einfallen, einzugehen, sprengte den Umfang dieser Arbeit. Deshalb beschränke ich mich auf die Darstellung der grundsätzlichen, schwerpunktmäßigen und vorrangigen Vorgehensweise.

1. Fallskizze

M., Jüngste von drei Geschwistern (38 J., w./ 37 J., m./ 23 J., w.) bittet im August um eine Begleitung für ihre Mutter. Diese sei immer so traurig. Frau L., 59 Jahre alt, Jüngste von sechs Geschwistern, geboren und aufgewachsen in Oberschlesien, streng-katholisch, seit zweiundzwanzig Jahren in Deutschland, erkrankte im November des vorangegangenen Jahres an metastasierendem Magenkrebs. Entfernt wurden draufhin der Magen, die Milz und bis auf einen kleinen Rest das Pankreas. Eine Chemotherapie ist nicht möglich, dazu ist Fr. L. aufgrund des Magenkrebses zu schwach. Als sie Anfang Dezember aus der sich an den Krankenhausaufenthalt anschließenden Rehamaßnahme nach Hause zurückkehrt, findet sie ihren Mann in der Küche tot auf dem Fußboden liegend vor. Herzinfarkt während der Nacht. Im August werden in der einen Brust mehrere bösartige Tumore festgestellt, die Brust wird vollständig entfernt. Im übrigen befindet sich hinter einem Auge ein Tumor, der schon im November erkannt wurde aber nicht behandelt wird, da “ihn keiner kennt”. Für diese Tumorart gebe es keinen Namen. Der Tumor verursacht nicht nur ein unangenehmes Druckgefühl, sondern er führt auch zu einer erheblichen Einschränkung der Sehkraft. Der Hospizverein wird hinzugezogen, als Fr. L. sich bezüglich der Brust-OP im Krankenhaus befindet.

2. Anamnese

Da mir obige Informationen nicht ausreichen, dienen mir die ersten Gespräche primär zur weiteren Datenerhebung im Sinne einer Anamnese, oder anders formuliert dazu, ein vollständigeres Bild zu erlangen.

2.1 Gespräch mit der Tochter

Ein erstes langes Gespräch führe ich mit der Tochter.

Es wird deutlich:

- Herr L. war seit Jahren Frührentner und schwer alkoholkrank; schon morgens früh sei er sturzbetrunken gewesen und habe in der Wohnung herumgelegen. (Fr. L. bestätigt dies in späteren Gesprächen.) Mehrfach sei er gewalttätig geworden gegen die drei Kinder, in allererster Linie gegen die jüngste Tochter, nicht jedoch gegen seine Frau. Mit achtzehn Jahren verläßt die Jüngste das Elternhaus. (Von Fr. L. erfahre ich später, seine Vorstellungen von einem “besseren” Leben in Deutschland hätten sich als Illusion erwiesen. Seine Trinkerei habe erst in Deutschland begonnen.) Um ihn vor sich selbst zu schützen, ließen ihn seine Kinder während des Krankenhausaufenthaltes von Fr. L. in die Psychiatrie einweisen. Dort wurde ihm der Kontakt zu seiner Frau strikt untersagt.

- Fr. L. hat über vierzig Jahre lang gearbeitet und gerade während der Jahre in Deutschland für den Unterhalt der Familie gesorgt.

- Laut Aussage verschiedener Ärzte habe Fr. L. noch eine Lebenserwartung von eineinhalb bis zwei Jahren, Heilung sei ausgeschlossen. Über diese Prognose sei sie informiert.

- Fr. L. stehe der Naturheilkunde aufgeschlossen gegenüber, konsultiere ab und zu eine Heilpraktikerin.

- In den vergangenen acht bis neun Monaten seien außer Physiotherapie und einer Ernährungsumstellung keine therapeutischen Maßnahmen erfolgt.

- Im übrigen erfahre ich, was sich später in Gesprächen sowohl mit der Mutter als auch mit der Schwester bestätigt, daß die älteste Tochter Vaters Liebling war, über dessen Tod noch nicht hinweg gekommen ist, sich jetzt fest an die Mutter klammert (“Ich habe doch noch nichts von meiner Mutter gehabt.”) und die Prognose der Ärzte für absurd hält (“Ich kenne meine Mutter, sie ist stark, sie wird wieder gesund.”).

- Die Älteste fühlt sich als große Schwester zudem verpflichtet, sich um alle und alles zu kümmern und verantwortlich zu fühlen. Streit gebe es immer dann, wenn sie sich dirigistisch aufführe.

- Der große Altersunterschied zwischen den Schwestern führte im übrigen dazu, daß die Große die Kleine eher nicht als Schwester ansieht, sondern als ihr Kind. Sie hegt mütterliche Gefühle für diese Schwester. Auch das führt, wie beide Schwestern unabhängig voneinander im Laufe der Zeit berichten, regelmäßig zu Konflikten.

- Der Bruder (und Sohn) hat die männliche Hauptrolle im Familiensystem inne und scheint für alle der ‘Fels in der Brandung’ zu sein.

- In diesem ersten Gespräch wird außerdem deutlich, daß es ein enges, familiäres Netz gibt, das Fr. L. umfängt und auffängt. Alle Geschwister leben in Deutschland, mehrheitlich vor Ort. Allerdings stellt sich mit der Zeit heraus, daß die schwere Erkrankung von Fr. L., die damit verbundenen Ängste und Sorgen sowie die schlechte Prognose, die Möglichkeit also, daß sie in absehbarer Zeit sterben könnte, niemals thematisiert werden, auch nicht zwischen Fr. L. und ihren Kindern.

- Die drei Kinder kümmern sich intensiv um die Mutter, bemühen sich sehr, diese in jeder Hinsicht zu entlasten. Die jüngste Tochter wäre bereit, die Mutter zu Hause zu pflegen, falls dies erforderlich sein sollte, ein Ansinnen, das die Mutter strikt ablehnt. Sie möchte grundsätzlich niemandem eine Last sein.

2.2 Gespräche mit Frau L.

Nach diesem ausführlichen Erstgespräch mit der Tochter besuche ich Fr. L. zunächst im Krankenhaus, danach je nach Bedarf anfangs zweimal, später einmal pro Woche für jeweils zwei Stunden zu Hause. Später, als die zweite Brust entfernt wird, besuche ich sie täglich im Krankenhaus. Ich erlebe eine aufgrund ihres geringen Körpergewichts zerbrechlich wirkende Frau mit einer zur gleichen Zeit lebenslustigen, fröhlichen und lebhaften Ausstrahlung, die offensichtlich sehr darum bemüht ist, es allen recht und angenehm zu machen, die niemandem eine Last sein möchte. Während unserer ersten Begegnung klagt sie über Appetit- und Antriebslosigkeit, sobald sie ihre Mahlzeiten alleine zu sich nehmen oder ihren Tag alleine gestalten und verbringen muß. Sie wünscht sich Beschäftigung und Unterhaltung, Abwechslung eben. Zudem beklagt sie die mit ihrer Erkrankung einhergehenden Einschränkungen. Daß ihr körperliche Tätigkeiten verboten wurden, ist ihr ebenso ein Greuel (“Ich war doch immer aktiv und in Bewegung.”) wie schwach, kraftlos und hilfsbedürftig zu sein. Sie äußert, sie fühle sich überflüssig und nutzlos. Sie befürchte, unwichtig, unbedeutend und belanglos zu werden. Wiederholt betont sie, daß ihre Jüngste doch noch gar nicht erwachsen sei, sie als Mutter noch brauche und ohne diese nicht zurechtkomme, eine Annahme, die die jüngste Tochter, die dem ersten Gespräch beiwohnt, energisch bestreitet. Immer wieder bricht Fr. L. in Tränen aus, wenn ihre Erkrankung und die dadurch gegebene veränderte Lebenssituation zur Sprache kommen. Auffallend auch die stets unruhigen Hände, die ununterbrochen in Bewegung sind. Fr. L. betont, froh darüber zu sein, daß kein Mann mehr im Hause sei. Sie wolle nicht, daß ein Mann sie so unansehnlich, mit nur einer Brust sehe. Jetzt, da sie alleine sei, könne sie sich freier bewegen. Auf meine Frage, ob sie, H.L., als Mensch, als Person, nicht viel mehr sei als ihre weibliche Brust, bricht sie in Tränen aus. Sie erscheint widersprüchlich: einerseits tatendurstig, andererseits erstaunlich passiv. Sie stellt keine Fragen bezüglich möglicher Therapien, sie richtet keine Forderungen bezüglich Therapieangebote an die Ärzte; sie erwartet, daß diese ihr schon sagen werden, was gut für sie sei und was zu tun sei. Sie ergreift zu wenig Eigeninitiative. “Wozu haben die Ärzte denn so lange studiert, die müssen mir doch sagen, was zu tun ist, die müssen mir doch Termine machen, mich herbestellen. Ich bin schließlich krank. Um alles muß ich mich selbst kümmern! ... Vierzig Jahre lang habe ich gearbeitet, war ich für andere da, habe ich mich um sie gekümmert. Jetzt sollen sich andere um mich kümmern.” Neben der Passivität nehme ich eine große Erschöpfung, Verzweiflung und tiefe Resignation sowie Enttäuschung über das Verhalten der Ärzte wahr. Termine zu vereinbaren, überläßt sie der jüngsten Tochter ebenso, wie sie von dieser erwartet, daß sie sie zu jedem Arzt- und Therapietermin begleitet. Ihr Argument: Sie verstehe die medizinische Sprache nicht und somit nicht, was ihr die ÄrztInnen sagen. Anfangs versucht sie auch Terminvereinbarungen und -absagen, die mich betreffen, über ihre Tochter abzuwikkeln. Einerseits gibt sie sich hilflos, andererseits wirkt sie ausgesprochen zupackend und patent. Wiederholt äußert sie, sie sei ein Pechvogel, sie ziehe das Unglück an. Daß die Ärzte sie nicht unterstützten, liege daran, daß sie schon immer Pech gehabt habe. Frage ich sie in bestimmten Situationen nach ihren konkreten Wünschen und Bedürfnissen, dann antwortet sie: “Ich weiß nicht.”, “Ist mir egal.” oder sie gibt die Frage an mich zurück. Sie ist immer bereit, sich nach dem zu richten, was andere wollen.

3. Diagnostische Einschätzung

Müßte ich eine Diagnose stellen, so ginge ich von einer depressiven Reaktion aus, im ICD 10, der “Internationalen Klassifikation psychischer Störungen” der Weltgesundheitsorganisation, der Nr. F 43.21 zugeordnet: “Längere depressive Reaktion Ein leichter depressiver Zustand als Reaktion auf eine länger anhaltende Belastungssituation, der aber nicht länger als zwei Jahre dauert.” (ICD 10, S.172) Ich grenze ab gegenüber F 43.20 kurze depressive Reaktion von höchstens einem Monat Dauer. Im vorliegenden Fall dauert die depressive Phase bereits neun Monate an, als ich die Begleitung übernehme. Ein weiterer Tiefschlag drei Monate später, im November, erschwert die Situation erneut. Auch in der zweiten Brust werden bösartige Tumore festgestellt, auch diese Brust wird vollständig entfernt. Die Tumore wurden im August übersehen. Innerhalb von zwölf Monaten muß sich Fr. L. drei schweren Krebsoperationen unterziehen. Und jedes Mal handelt es sich um eine andere Tumorart - ein schlechtes Zeichen, wie die Ärzte mitteilen. Der übergeordnete Begriff ist F 43.2 Anpassungsstörungen, benannt als “Zustände von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung, die soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensänderung, nach einem belastenden Lebensereignis oder auch nach schwerer körperlicher Krankheit auftreten.” (ebenda, S. 170). Als Symptome werden unter anderem genannt: “depressive Stimmung, Angst, Besorgnis, ... Einschränkung bei der Bewältigung der alltäglichen Routine” (ebenda, S. 171). Im vorliegenden Fall handelt es sich um Trauerreaktionen, die sich - ausgelöst durch die schwere Krebserkrankung - auf Verluste in allen Lebensbereichen beziehen, zudem vor dem Hintergrund eines möglicherweise bevorstehenden Sterbens. Fr. Ls Passivität, ihre Antriebsschwäche, Unruhe und Appetitlosigkeit sowie die Tränen sind Ausdruck einer depressiven Stimmung, sind Ausdruck von Verlustschmerz. Zu betrauern sind: der Verlust der Gesundheit und damit verbunden von Leistungsfähigkeit, Aktivität, Mobilität, Kraft und Energie, Identität (insbesondere weibliche durch den Verlust der Brüste), vertrauter und gewohnter Ernährung, Eigenständigkeit, Lebensfreude, Verlust des Arbeitsplatzes zwangsweise Frühberentung auf Grund 100%iger Schwerstbehinderung und damit verbunden Verlust sozialer Kontakte und eines bestimmten sozialen Umfeldes, eingeschränkte finanzielle Möglichkeiten durch die Frühberentung. Hinzu kommt nicht verarbeitete Trauer, die sich auf die Vergangenheit bezieht und auf Ereignisse, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Krankheit stehen:

Verlust der polnischen Heimat als Spätaussiedler. Fr. L. berichtet, sie habe nicht wirklich nach Deutschland kommen wollen, sie sei ihrem Mann gefolgt, der sich von der Übersiedelung ein besseres und leichteres Leben versprach. Wäre es nach ihr gegangen, hätte keine Übersiedelung nach Deutschland stattgefunden, obwohl sie sich immer als Deutsche gefühlt habe und die deutsche Sprache perfekt spricht. Wiederholt beklagt sie das Haus und all das, was sie bereits erreicht hatten jedoch zurücklassen mußten; sie berichtet von der Landschaft und dem Leben dort., Verlust des Ehepartners durch Tod, eine am Alkoholismus des Ehemannes gescheiterte Ehe Sie sagt: Wäre er nicht gestorben, hätte sie sich von ihm trennen müssen, da sie nicht mehr in der Lage gewesen wäre, sich um ihn zu kümmern. Erst drei Monate nach Beginn meiner Begleitung erfahre ich, daß es einen weiteren bedeutenden Bereich gibt, der betrauert werden muß, da er Fr. L. noch heute quält: nicht erhaltene Mutterliebe Als Fr. L. siebzehn Jahre alt war, beichtete ihr ihre Mutter, daß sie diese Tochter nicht gewollt habe, da sie an dem Tag zur Welt kam, als der Sohn im Alter von vier Jahren starb. Die Mutter habe mit Gott verhandelt: ‘Laß mir meinen Sohn und nimm das Neugeborene.’. Fr. L. kann sich nicht daran erinnern, je von ihrer Mutter gestreichelt und in den Arm genommen worden zu sein oder auf deren Schoß gesessen zu haben. Ihre Geschwister bestätigen diese Wahrnehmung. Ganz allgemein formuliert: Es gilt, ein Leben zu betrauern, das nicht gelebt wurde, das in weiten Teilen nicht den Wünschen und Bedürfnissen, den Vorstellungen von Fr. L. entsprach. Zu betrauern sind eine völlig veränderte Lebenssituation und Wünsche, Vorstellungen sowie Träume, die sich nicht mehr verwirklichen lassen. Die Diagnose Magenkrebs führte zu dem subjektiven Empfinden: “Nichts ist mehr so, wie es einmal war.”. Zur gleichen Zeit wird das Augenmerk auf das zu richten sein, was Fr. L. geblieben und was noch möglich ist.

 

4. Die Bedeutung der Trauerarbeit für die Begleitung Schwerkranker und Sterbender

4.1. Allgemeine Überlegungen

“Trauern ist ein psychischer Prozeß von höchster Wichtigkeit für die Gesundheit des Menschen.” (Kast, Sich einlassen, S. 14) “Viele Autoren sind sich darüber einig, daß verhinderte oder unterdrückte Trauer dazu führt, die Welt als bedeutungslos, die eigene Existenz als wertlos und die Zukunft als hoffnungslos zu erleben, daß also Störungen in Richtung depressiver Reaktion erfolgen.” (dies., Trauern, S. 159) Übergeordnete Ziele der Trauerarbeit sind die Bewältigung von Verlusten und das Erreichen eines neuen Weltund Selbstverständnisses. Hauptanliegen ist die Versöhnung - mit sich und seinem Leben und letztlich dem Tod, da er Teil des Lebens ist, das Ende des irdischen Lebens markiert (vgl. Sill / Rauchalles, S. 128). Es geht darum, inneren Frieden zu finden und zur Ruhe zu kommen, sich dem zu stellen, was die Realität ist. Dazu ist es erforderlich, Vergangenes zu verarbeiten, zu bewältigen und loszulassen, Offenheit zu entwickeln für Neues, für tauglichere, sinnvollere und realistische Glaubenssätze, für frei werdende und bereits frei gesetzte Gefühle, für neue Sichtweisen und veränderte Blickwinkel in Bezug auf die Welt und etwas übergeordnetes Göttliches, das Umfeld und das eigene Selbst sowie für all das Schöne, das es trotz des Leids, der Krankheit, der Trauer gibt. Es ist notwendig, das Neue in das eigene Lebenskonzept mitaufzunehmen und es zu wagen.

Trauerarbeit und gerade die Vorbereitung auf das Sterben erfordern die Regelung unerledigter Dinge, die Klärung ungeklärter Angelegenheiten wie zum Beispiel Patientenverfügung, Testament, Bestattungsvorsorge, Beziehungsklärungen, Streitigkeiten, Kinderbetreuung usw., usf.. “Das ganze Leben über müssen wir Loslassen lernen. Die vielen kleinen Abschiede des Lebens sind ein Einüben in den einen letzten großen Abschied, den das Sterben für uns darstellt.” (Wilkening, S. 112) Es gibt drei Modelle, die den Ablauf des Trauerprozesses gliedern und schematisch darstellen. Als erste formulierte Elisabeth Kübler-Ross Ende der 60er Jahre aus ihren Interviews mit Sterbenden heraus fünf Phasen des Sterbens (vgl. dies., Interviews, S. 16 ff):

1. Nichtwahrhabenwollen und Isolierung Sterben und Tod werden verdrängt oder sogar geleugnet.

2. Zorn Auflehnung gegen das Schicksal; heftige Gefühlsregungen

3. Verhandeln Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit des Todes

4. Depression langsame Annahme des Sterbenmüssens

5. Zustimmung Der Sterbende zieht sich von den Lebenden zurück, schließt Frieden mit dem Tod.

Erika Schuchardt überarbeitete dieses Modell hinsichtlich Trauerarbeit und Bewältigung von Lebenskrisen im allgemeinen. Sie stellt es in erweiterter Form als Spirale dar (vgl. Anhang):

1. Unwissenheit, Unsicherheit, Unannehmbarkeit
2. Gewißheit
3. Aggression
4. Verhandlung
5. Depression
6. Annahme
7. Aktivität
Die Annahme der Realität setzt Kräfte frei.
8. Solidarität
"Ausdruck einer erfolgreichen Krisenverarbeitung, einer angemessenen sozialen Integration." (Schuchardt, S. 38)

Verena Kast verwendet ein Vier- Phasen-Modell, das sie unter Berücksichtigung von Träumen entwickelte (vgl. dies., Sich einlassen, S. 13 ff):

1. Nicht-Wahrhaben-Wollen Verleugnung des Verlustes; Entsetzensstarre

2. Aufbrechende Emotionen Chaos einander widerstreitender Emotionen wie Ängste, Zorn, Wut, Freude, Aggressionen, Trauer, Schuldgefühle verbunden mit Ruhelosigkeit; Suche nach einem Schuldigen

3. Suchen, Finden, Sich-Trennen Aufarbeitung von Problemen

4. Neuer Selbst- und Weltbezug Akzeptanz dessen, was ist.

Im Vergleich dieser drei Modelle für die Bewältigung von Trauer beschränke ich mich aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit auf die wesentlichen Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen: Allen gleich ist, daß die einzelnen Phasen durchlässig sind, nicht streng voneinander getrennt ablaufen und auch mehrfach durchlaufen werden können. Allen dreien gemeinsam ist auch die Vorstellung eines Prozesses, einer Dynamik, die notwendig ist zur Herbeiführung von Veränderungen. Die Modelle dienen als Hilfestellung für Angehörige, Pflegepersonal, BegleiterInnen und führen zu einem besseren Verständnis des Trauernden, Schwerkranken, Sterbenden. Sie stellen das Gefühlschaos dar, das Lebenskrisen auslösen können. Sie veranschaulichen die verschiedenen Schritte der Verarbeitung, den bisweilen mühsamen und nicht immer geradlinigen Weg der Identitätsfindung, den Weg zur Annahme des Unausweichlichen - ein Weg, der von einem steten Auf und Ab gekennzeichnet ist.

4.2. Bezug zum vorliegenden Fall

Frau L. schwankt zwischen den Phasen Verleugnung und Depression hin und her. Zwar akzeptiert sie, daß sie schwerkrank ist. Die Tragweite der Erkrankung jedoch, die Möglichkeit eines Sterbens verdrängt und verleugnet sie beharrlich, möchte diese nicht wahrhaben. So ist sie emotional hinund hergerissen, schwankt zwischen Hoffnung auf Gesundung und Verzweiflung bezüglich Unheilbarkeit und somit absehbaren Sterbens. Ihr Verhalten verstehe ich als Abwehr, als “eine Antwort des Organismus auf Bedrohung.” (Rogers, GwG, S. 30) Ihren momentanen Äußerungen entnehme ich, daß sie des Kämpfens, des Überlebenskampfes müde ist, diesen als zu anstrengend erlebt. Dennoch äußert sie keine Todessehnsucht. Sie wünscht sich, daß die Dinge sich fügen - von alleine und mit der ÄrztInnen sowie vor allem Gottes Hilfe

 

5. Anforderungen an die Begleitung

5.1. Aufgaben und Ziele

Um Trauerarbeit so, wie sie oben verstanden wurde, zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen, muß die Begleitung eines Schwerkranken oder Sterbenden - geprägt von mitmenschlicher Wärme, Akzeptanz und Wertschätzung - stützen und unterstützen, ermutigen und Ressourcen freisetzen für die Auseinandersetzungen mit der Krankheit, den intensiven, oft widerstreitenden Gefühlen, den Träumen, Wünschen, Vorstellungen und Lebensinhalten sowie dem Leben als solchem und der Möglichkeit des Sterbens. Sie muß ein ‘Ort’ des Wehklagens, des ‘Heulen und Zähneknirschens’, des Loslassens und Sich-Fallenlassens sein, in der Krise auffangen und Raum bieten für Tränen und Trauer. Sie muß dazu verhelfen, Verleugnung und Verdrängung zu verlassen und statt dessen zur Annahme der Situation einerseits und der Zukunft andererseits führen. Und nicht zuletzt muß sie unterstützen bei der Neudefinierung der persönlichen Lebensziele und -sicht sowie zu größerer Lebensfreude und nachhaltig verbesserter Lebensqualität führen - auch und insbesondere in der finalen Lebensphase. Salopp formuliert: Sie muß das Beste aus der verbleibenden Zeit machen. (vgl. Tschuschke, S. 158 ff) Aufgabe der BegleiterInnen ist es vor allen Dingen da zu sein, sich einzulassen und zuzulassen sowie Gefühle wertfreien Angenommenseins, von Wertschätzung und Akzeptanz zu vermitteln. Bezogen auf den vorliegenden Fall sehe ich drei Zielbereiche:

1. kurzfristige Ziele

- Herausführung aus Passivität und Depression

- Hinführung zu Eigeninitiative und aktiver, bewußter Lebensgestaltung

2. mittelfristige Ziele

- positive Veränderung des Selbstkonzepts und von Glaubenssätzen

- Erlangung von so viel Lebensfreude und Lebensqualität wie nur irgend möglich

- Leben im Hier/Heute und Jetzt

- bewußtes Erleben und Leben jedes einzelnen Augenblicks

- das Leben als Geschenk erleben und genießen

3. langfristige Ziele

- Annahme von Tod und Sterben

- aktive und bewußte Gestaltung der letzten Lebensphase. Es geht darum (= übergeordnetes, allgemeines Ziel), dem Tod so viel Leben abzunehmen, wie nur irgend möglich, ihn so weit es geht hinauszuschieben im Sinne gelebten und gestalteten Lebens:

Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens - bereit werden zum Tod als generelle Lebensaufgabe (vgl. dazu die angegebene Literatur).

 

5.2. Zielkontrolle

Woran erkenne ich, daß die Ziele erreicht wurden?

1. an einer zum Positiven veränderten Grundstimmung von Fr. L.: Gelassenheit, innere und äußere Ruhe, höherer Antrieb,

2. gestiegene Bereitschaft zur Annahme der Situation,

3. höhere Bereitschaft zu größerer Eigeninitiative bezüglich Maßnahmen zur

- Erlangung größerer Gesundheit

- Verlangsamung oder Verhinderung der weiteren Ausbreitung des Krebses (z.B. geleitete Imaginationen)

- Erlangung größerer psychischer und emotionaler Stabilität,

4. veränderte Glaubenssätze,

5. höhere Bereitschaft, sich selbst in den Mittelpunkt ihres Lebens zu stellen,

6. Bereitschaft, sich selbst Erlaubnisse zu geben:

- Gefühle gerade in dieser schwierigen Situation zu haben und zu zeigen

- sich selbst etwas Gutes zu tun

- sich selbst zu verzeihen

- sich selbst wichtig zu nehmen

- das Leben im eigenen Tempo zu leben

- sich deutlich abzugrenzen: - das zu tun und zu lassen, was sie will

- NEIN zu sagen

- sich selbst zum Maßstab für das eigene Leben zu machen, heißt: nicht mehr nach dem zu schielen, was andere sagen oder meinen, wie diese möglicherweise urteilen würden

- schwach und hilfsbedürftig zu sein

- zu sein, nicht zu funktionieren.

 

 

Hildegard Saupp

 


Lesen Sie weiter in Heft 3/2003:
6. Methodische Vorgehensweise
6.1. Vorüberlegungen
6.2. Die Zielorientierte Gesprächspsychotherapie
6.3. Konkrete Umsetzung und Bilanz
7. Nachwort
8. Literatur