Coaching versus Psychotherapie
Coaching in der Wirtschaftswelt – Überblick und ein Prozessbeispiel
"Seit letzter Woche bin ich Chef der Abteilung. Wie Sie von meinem Vorgesetzten wissen, kam das für mich sehr überraschend und plötzlich. Natürlich bin stolz darauf! Nur, wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht so recht, was da auf mich zukommt. Sicher, fachlich ist das klar, aber jetzt muss ich immerhin zwölf Leute führen! Das ist mal die eine Seite. Die andere ist: Ich muss Leute führen, die immerhin zweieinhalb Jahre meine Kollegen waren! – Und da finde ich es sehr gut von meinem Chef, mir ein Coaching bei Ihnen vorzuschlagen", kündigt der Klient, Herr Neu, an.
ANLÄSSE UND ZIELRICHTUNGEN VON COACHING
Ein typischer Coaching-Auslöser: Eine Beförderung führt zu einem neuen Aufgabenund Funktionsbereich, der es nötig macht, die eigene Rolle und das persönliche Handeln im Licht neuer Anforderungen und Erwartungen zu überdenken.
Allgemein wird in Situationen, die verändertes Verhalten erfordern, gern auf einem externen Coach zurückgegriffen, der den Klienten (Coachee) unterstützt. In der inzwischen unübersichtlich gewordenen Literatur zum Thema Coaching rangiert ein solcher Anlass unter den Kategorien "Führung verbessern" und "Persönlichkeitsbildung". Weitere typische Anlässe zitiert etwa Christan Schiede in seiner Studie "Wettbewerbs- & Branchen-Struktur-Analyse. Der Coachingmarkt im deutschsprachigen Raum" (2004). Dort wie andernorts kreisen die Themenbereiche, die externes Coaching initiieren, um zwei Grundanliegen: Verbessern oder Optimieren und Potenzial entfalten.
Im ersten Fall geht es darum, eine Fertigkeit zu perfektionieren: "Was kann ich tun, um xy noch besser zu machen?" Wenn Herr Neu bisher als jemand agiert hat, der in seiner Abteilung schwelende Konflikte "auf den Tisch" bringt und konstruktiv zu Lösungen beiträgt, wird er mit seinem Coach die Frage stellen: "Wie kann ich diese Kompetenz in meine neue Position effektiver einbringen?"
Die zweite genannte Zielrichtung überprüft, ob eine Fähigkeit vorhanden ist, die entwickelt werden kann: "Was muss ich lernen, um xy leisten zu können?" Nehmen wir an, Herr Neu wirkte bisher vor allem als "guter Kumpel", an dem sich andere durchaus gern orientierten. (Der Coach wird hier Potenzial diagnostizieren, das mit Führung zu tun hat; in der Fachsprache werden solche nicht inthronisierten Wortführer "informelle Leader" genannt.) Seine neue Rolle gibt ihm auf, dieser Kumpel-Identität zu entwachsen sowie zu zeigen, dass er auch formell, also als Abteilungschef, Führungsqualitäten entfalten kann. Die Anschlussfrage des Coachs könnte also lauten: "Kann und will sich Herr Neu so unabhängig von der Kumpel-Identität und den damit verwobenen psychischen Vorteilen machen, dass ihm der Schritt zur Führungskraft gelingt? An welche Potenziale lässt sich anknüpfen, um diese Entwicklung einzuleiten?"
Spätestens hier stellt sich die Frage, wo Coaching angewandt wird, was es ist und wie man sich einen Coaching-Prozess vorstellen kann. Um dies möglichst konkret nahe zu bringen, führen wir das Eingangsbeispiel fort.
ARTEN -VIELFALT
Coaching ist reserviert für den privaten und öffentlichen Wirtschaftsraum, den es seit den 80er Jahren erobert. Es ist die Welt privater und öffentlicher Organisationen (Unternehmen, Institutionen), die diese Dienstleistung nutzt.
Ursprünglich als vertrauensvoller Dialog zwischen Coach und Klient angelegt, ist Coaching heute ein (rechtlich ungeschützter) Begriff, der zwar ganz allgemein eine vor allem in Gesprächen (Coaching-Sitzungen) realisierte individuelle Begleitung und Unterstützung in Veränderungsprozessen bezeichnet, der jedoch unterschiedliche Arten, personelle Konstellationen und verschiedene Verfahren und Methoden in sich versammelt.
Konsens besteht im formalen Ablauf. Der gemeinsamen Analyse des Anlasses folgt eine Bestimmung der Ziele, Maßnahmen und Kontrollmodi. Sie unterliegen im fortlaufenden Prozess einer permanenten Überprüfung. Die Ergebnisse dieser Feedbacks können Korrekturen und Veränderungen in den Prioritäten nahe legen. Die Kombination aus Anlass, Zielen und Veränderungsschritten, immer eingebettet in den beruflichem Alltag, legt nahe, wie Coach und Klient zusammen arbeiten, das heißt, mit welchen Interventionsmethoden der Coach dem Klienten hilft und wie beide Fortschritte kontrollieren.
Artenvielfalt, Start und Prozedere eines Coachings lassen sich am Eingangsbeispiel illustrieren. Herr Neu beginnt seinen Coaching- Prozess als klassisches Einzel-Coaching, das sich durch eine Abfolge an Sitzungen kennzeichnet. Das erste Gespräch dient zwei Zwecken. Coach und Herr Neu lernen einander persönlich kennen und beurteilen, ob sie zusammenarbeiten möchten. (Diese Entscheidung ist bereits gefällt.) Außerdem sprechen sie über das auslösende Ereignis, markieren (noch vorläufig) Problemfelder, Zielsetzungen und wechselseitige Erwartungen.
ARTEN KOMBINIEREN – EIN BEISPIEL
Im Anschluss an den Einstieg von Herrn Neu könnte der Dialog so fortgesetzt werden: "Worin sehen Sie denn den Sinn und Nutzen in einem Coaching, Herr Neu? Was erhoffen Sie sich?" "Nun ja", erwidert Herr Neu, "ich möchte mich natürlich weiterentwickeln. Vor allem geht’s mir darum, meine Abteilung professionell zu führen. Da erhoffe ich mir sicher Tipps von Ihnen. Außerdem würde ich gern Konflikte, die entstehen, mit Ihnen diskutieren, damit ich mich richtig verhalten kann." Der Coach knüpft an: "Wenn ich Sie richtig verstehe, geht es Ihnen um persönliche Weiterentwicklung als Führungskraft, also um Führung, und um Konfliktfähigkeit?" (Diese Paraphrase aus dem Repertoire der Gesprächstherapie dient dazu, ein gemeinsames Verständnis herzustellen.) "Das sind große Felder mit zahlreichen Implikationen. Wir werden sie im weiteren Verlauf konkretisieren und in Ziele verpacken. Im Zuge dieser Klärung und Anpassung an Ihre Bedürfnisse legen wir fest, womit und wie wir beginnen. Doch bevor wir uns in Inhalte vertiefen, lassen Sie uns das Vorzeichen unserer Zusammenarbeit klären …"
Nehmen wir an, Herr Neu klagt nach etwa drei Wochen: "Ich weiß nicht, was los ist. Irgendwie kriege ich keinen Zugang zu den Leuten. Ich versuche, herauszukriegen, was die von mir erwarten – aber nichts. Ich glaube, die haben noch nicht akzeptiert, dass ich jetzt der Chef bin und mauern deshalb." Coach und Herr Neu betrachten Situation, Problematik und Ziele (hier: sich respektiert fühlen als Chef, Vertrauen der Mitarbeiter und ihre Wünsche kennen) aus diversen Perspektiven. Beim Einkreisen der Variablen, die die Situation ausmachen, kann der Coach beispielsweise Frageformen wählen, die er dem Repertoire der Systemischen Therapie und des NLP (Neurolinguistisches Programmieren, vgl. G&G 7/04) entnimmt. Etwa: "Wo sehen Sie sich in der Abteilung?", "Welche Wirkungen, meinen Sie, gehen von Ihnen aus?", "Welche Interaktionen pflegen Sie besonders, welche beobachten Sie und welche Wirkungen gehen von diesen aus?"
Die Analyse mündet in unterschiedliche Maßnahmen. Eine der erwogenen Initiativen ist ein Abteilungs-Workshop, der vom Coach moderiert wird. Der Coach muss hier aufpassen, nicht eine eigene Agenda zu verfolgen. Im Zentrum stehen die Bedürfnisse von Herrn Neu und seiner Abteilung. Deshalb und um die Verantwortung für den Prozess bei Herrn Neu zu lassen, fragt der Coach nach den gewünschten Ergebnissen. Das kann er in einer offenen Frage tun: "Welche Ziele verfolgen Sie mit dem Workshop? Was möchten Sie erreichen?" Den oben genannten Methoden gemäß kann er auch fragen: "Was genau soll anders sein, wenn der Workshop vorbei ist?"
Coach und Klient führen den Workshop durch und in der Nachbesprechung äußert die Gruppe den Wunsch, der Coach möge die Umsetzung der Ergebnisse über einige Wochen begleiten. In diesem Fall wird das Einzel- Coaching um die Variante des Team-Coachings erweitert.
Nehmen wir weiter an, Herr Neu fühlt sich innerhalb der nächsten 12 bis 15 Monate als Führungskraft wohlwollend respektiert und leitet seine Gruppe zur allgemeinen Zufriedenheit. Von zwei seiner Grundanliegen entlastet, kümmert er sich vermehrt um die direkte Personalführung: die Beziehung zwischen ihm als Chef und jedem einzelnen Mitarbeiter. "Meine Führungsphilosophie ist ja die", erklärt er seinem Coach, "den Leuten möglichst viel Verantwortung zu lassen. Soll man ja auch! Das klappt mit einigen Leuten ganz gut, mit anderen aber gar nicht. Ob die nicht wollen oder nicht können, tja, das ist eben die Frage. Ich möchte nämlich jeden gleich führen – nicht, dass da Eifersucht aufkommt und so weiter! Und außerdem begreife ich mich nicht als Vater der Abteilung!"
Als Coaching-Arten werden also differenziert: internes und externes Coaching, Einzel- und Team-Coaching. Gemeinsam ist ihnen die Idee der individuellen Betreuung und Begleitung in Veränderungsprozessen innerhalb der Organisation.
Bereits diese Arten-Vielfalt lässt erahnen, warum Begriffsverwirrung herrscht, zumal häufig nur von "Coaching" die Rede ist. Daher sollten Zahlen, die die Verbreitung von Coaching als einer neueren Form der Weiterbildung demonstrieren sollen, mit Vorsicht genossen werden. So wenig aussagekräftig diese Zahlen auch sein mögen, klar ist: Externes Einzel-Coaching wird heute unabhängig von der Branche als eine qualitativ hochwertige und höchst effektive Maßnahme genutzt, um individuell gezielt Entwicklungen zu fördern. Es hat einen guten Ruf und transportiert (wegen der hohen Kosten) häufig die Konnotation der besonderen Wertigkeit (weshalb es oft als Auszeichnung empfunden wird, einen Coach zu haben).
METHODEN-VIELFALT – WEITER IM BEISPIEL
"Wie läuft so ein Coaching eigentlich ab?", fragen Klienten in der Regel im Erstgespräch. "Nun ja", könnte ein Coach antworten, "möchten Sie einen Überblick über all die Möglichkeiten, die wir nutzen könnten – oder wie wir in unserer Zusammenarbeit wahrscheinlich verfahren werden?” Während der Coach die zweite Frage zumindest annäherungsweise beantworten kann, muss er diesen Ehrgeiz bei der ersten aufgeben.
Die Methoden-Vielfalt ist enorm und auch in einem Artikel nicht einmal kursorisch darstellbar. Verbandsinteressen, das Bemühen, Coaching als Profession zu etablieren und die Notwendigkeit, sich als Coach auf dem Markt zu profilieren, haben zu Differenzierungen und einem Variantenreichtum geführt, die sich in (von Praktikern geschriebenen) Hand- und Tool-Büchern niederschlagen. Sie demonstrieren eindrücklich wie einheitlich, dass externes Einzel- und Gruppen- Coaching maßgeblich von psychologischen und psychotherapeutischen Theorien und Modellen, Ansätzen und Methoden getragen ist. Folglich wird postuliert, jeder Coach soll auf individual- und sozialpsychologischem Gebiet Kompetenzen aufweisen, um Anregungen aus diesen Disziplinen situativ und personell adäquat anwenden zu können. Die Kommentare zu den Interventionen des Coachs in der Arbeit mit Herrn Neu geben Kostproben davon und signalisieren, welche tragende Funktion diese Fertigkeit hat.
COACHING VERSUS PSYCHOTHERAPIE ODER TANDEM? WEITER IM BEISPIEL
Ist Coaching Psychotherapie? Diese Frage leitet über zu derjenigen nach Rolle, Funktion und Leistung eines Coachings und damit auch eines Coachs im Einzel-Coaching. Um praxisnah zu antworten, kehren wir zu Herrn Neu zurück.
Herr Neu, inzwischen in seiner Chef-Rolle etabliert, sinkt auf das Sofa und seufzt: "Ich bin einfach zu. Voll. Es geht nichts mehr rein. Ich ertappe mich dabei, wie ein Mitarbeiter in mein Büro kommt, ich ihn ansehe, aber nicht aufnehme, was er sagt. Oder dabei, dass ich an etwas völlig anderes denke. Ich habe den Eindruck, alles entgleitet mir, habe nichts mehr wirklich im Griff", und fügt fast murmelnd hinzu: "Meine Frau macht mir immer mehr Feuer, weil ich ihr nicht mehr zuhöre ..." Dauerhafte Überlastung? Burnout? Work-Life-Balance von der Firma gesponsert? Ist Coaching in Wirklichkeit doch verkleidete Psychotherapie?
UNTERSCHIEDE
Coaching und Psychotherapie besetzen verschiedene Felder. Der wesentliche Unterschied liegt in Ausgangspunkt und Fokus. Während psychotherapeutische Interventionen die Lebensbiografie und -situation der Gesamtperson zentrieren, kreist Einzel-Coaching um die "Berufsperson" und deren relevantes Umfeld. Zudem setzen zwar beide an subjektiv empfundenem "Veränderungsdruck" an. Dieser ist allerdings unterschiedlich motiviert und nimmt ebenso unterschiedliche Dimensionen der Persönlichkeit ins Visier. Im Coaching stehen weniger die "Privatperson" samt ihrer Einflusssphäre im Brennpunkt, sondern derjenige Ausschnitt des persönlichen Seins, Wirkens und Handelns, der primär beruflich gefordert ist.
SCHNITTMENGEN
Überschneidungen und fließende Übergänge zu therapeutischem Handeln existieren dennoch. Verantwortungsvolle Coachs konzentrieren sich jedoch auf berufliche Relevanzen. Sie sind es, die darüber entscheiden, welche Fragestellungen und psychotherapeutischen Modelle zielführend und damit zweckmäßig sind. Insofern ist ein Coaching-Prozess pragmatischer angelegt als Psychotherapie (Ausnahme: Verhaltenstherapie). Diese beansprucht, zum Kern der Persönlichkeit hinabzutauchen und tiefgründige autobiographische Wahrheiten zu Tage zu befördern, um das Ich fundamental und in Gänze zu fassen. Coaching bleibt mehr der Oberfläche verhaftet und unternimmt nur gelegentliche Tiefgänge. Diese dienen dazu, zur vorhandenen und in diesem Sinn authentischen Varietät und Plastizität der Persönlichkeit vorzudringen. Coaching tastet ab, welche Optionen an Veränderung nutzbar sind, ohne dass sich der Klient "verbiegen" muss. Zugespitzt formuliert: Coaching entfaltet "Gesundheit" im Berufshorizont, Psychotherapie heilt "Krankheit" innerhalb der gesamten Lebenswelt einer Person.
KONVERGENZEN IN DER PRAXIS
Die Trennung mag analytisch und künstlich wirken. Denn selbstverständlich ist die Berufsperson von der privaten nicht abgespalten, sondern ein Ausdruck der gesamten Persönlichkeit. Dennoch kann jeder verantwortliche Coach diese Trennung empirisch realisieren. Sie schlägt sich nieder, indem der Coach den Referenzrahmen absteckt: den Schwerpunkt auf all diejenigen Aspekte legt, die primär mit der beruflichen Rolle des Klienten zusammenhängen. Im Coaching geht es vorzugsweise darum, Sicht- und Handlungsweisen kritisch zu betrachten, zu verändern bzw. das Repertoire zu erweitern und zu flexibilisieren. Der Coach, in der Rolle des Katalysators, initiiert dabei einen Prozess, in dem der Klient neue Perspektiven einnimmt. Mit Hilfe von Potenzial-Analysen (häufig als Einstieg), Imaginationen, Simulationen, Rollenspielen und ähnlichen Methoden übt er alternatives Denken, Fühlen und Tun im Verhältnis zu den Mustern, die er verinnerlicht und tradiert hat. Vereinfacht gesprochen: Coaching lenkt die Aufmerksamkeit auf die Verhaltensebene und auf diejenige innerer (mentaler) Vorgänge, die beruflich wirksames Verhalten vorbereiten. Es geht darum, Bisheriges zu überprüfen, sowie darum, jene Denk- und Handlungsspielräume zu erkennen, zu erproben und erweitern, die für die Berufsrolle entscheidend sind. Dabei hilft es, auf der Klaviatur psychotherapeutischer Methoden und psychologischen Wissens spielen zu können. Verbreitet sind Ansätze der Gesprächsführung, etwa die Klienten zentrierte Gesprächsführung nach C. Rogers oder das Modell der "vier Ohren" sowie des "Inneren Teams" von Schulz von Thun; sich bewährt haben zudem psychotherapeutische Übersetzungen aus der konstruktivistischen und systemischen Theorie in der Betrachtung des Klienten- Systems aus der Schule von G. Bateson und P. Watzlawik bzw. aus der soziologischen Systemtheorie. Neueren Datums ist der Einsatz von NLP oder der systemischen Aufstellungen nach Hellinger. (Daneben macht das Coaching auch Anleihen aus empirischen Sozial- und Aktionsforschung und Arbeitspsychologie, etwa teilnehmende Beobachtung oder Feldforschung. Noch wenig verbreitet im Coaching-Prozess sind die "Schattentage"; für den systemisch agierenden Coach ein Muss. An ihnen begleitet der Coach den Klienten im Unternehmen. Sie empfehlen sich sowohl zu Beginn eines Coachings als auch zur Fortschrittskontrolle.)
Weitere Beispiele mögen verdeutlichen, wie psychotherapeutisches Know-how zum Einsatz kommt. Der Coach kann auf den Seufzer von Herrn Neu so reagieren: "Sie machen sich große Sorgen. Sie befürchten unter anderem, Ihnen könnte die Führung der Abteilung entgleiten ..."; der Coach hört aktiv zu, verbalisiert Gefühle und greift damit eine Technik der Gesprächstherapie auf. Er kann fragen: "Worin könnte Ihr Beitrag dazu liegen, sich ,voll’ zu fühlen und unaufmerksam zu sein?"; der Coach bedient sich hier wieder der systemischen Sichtweise, er regt Herrn Neu an, sich selbst als Teil des Problems zu sehen. Er kann auch Modellwissen vermengen, beispielsweise NLP und Schulz von Thun, und fragen: "Welche Stimmen hören Sie, wenn Sie klagen, ,voll’ zu sein?", "Was sagen diese Stimmen?", "Behandeln Sie jede Stimme als Teilpersönlichkeit und geben Sie ihr einen Namen. Fragen Sie jede Persönlichkeit nach ihren Bedürfnissen, nach Ängsten genauso wie nach dem, wofür sie sich wichtig und nützlich fühlt", "Lassen Sie sie an einem Tisch Platz nehmen und folgende Fragen diskutieren ..." Und so weiter.
Psychotherapeutisches Wissen befähigt den Coach, sowohl das eigene Denken zu flexibilisieren und viele Perspektiven einzunehmen als auch in Frageformen zu variieren. Das genügt in einem Coaching aber nicht, denn Coach und Klient müssen auch praktisch vorankommen. Deshalb wird der Dialog pragmatisch-analytisch und aktionsorientiert erweitert. Für Herrn Neu heißt das: Coach und Klient unterziehen die persönliche Arbeitsorganisation und damit verwobene Einstellungen von Herrn Neu einer kritischen Betrachtung. Sie schauen sich an, was er in welchen zeitlichen Räumen wie selbst tut, wie er was an wen delegiert, wie sein Kontrollverhalten aussieht und anderes mehr. Diese Entdeckungen befragen sie nach zu Grunde liegenden Motiven und Bedürfnissen. Sie finden beispielsweise heraus, dass Herr Neu sehr vieles selbst tut, obwohl er Mitarbeitende hat, die kompetent genug sind, ihm das abzunehmen – und gelangen zu dem Schluss, dass er sich in "absoluter Sicherheit" fühlen muss, dass eine Aufgabe perfekt und in der gegebenen Zeit erledigt ist. Essentiell sind: Anspruch an Sicherheit, Zuverlässigkeit und Perfektion.
Angesichts dieser und anderer Ergebnisse ihrer gemeinsamen Analyse erkennt Herr Neu, dass er selbst einen Beitrag zu seinem "Vollsein" leistet. Bevor Herr Neu beschließt, welche Maßnahmen er in seinem Alltag umsetzt, experimentiert er im geschützten Raum des Coaching-Settings. (Eine weitere Parallele zur Therapie.) Um Veränderungsschritte auszuwählen, wenden Coach und Klient Verfahren des "inneren Probehandelns" an. Der Coach fordert Herrn Neu zum Rollen- und dadurch eingeleiteten Perspektivenwechsel auf: "Versetzen Sie sich in einen kompetenten Mitarbeiter, dem Sie Aufgaben, die er leisten kann, vorenthalten. Wie fühlen Sie sich?" Herr Neu: "Ich fühle mich gegängelt. Deshalb habe ich auch bald keine Lust mehr, initiativ zu werden ..." Coach: "Was wünschen Sie sich von Ihrem Chef?" Herr Neu: "Ich wünsche mir, dass er meiner Kompetenz und Zuverlässigkeit vertraut." Coach: "Was muss Ihr Chef tun, um Ihnen das zu demonstrieren?" Herr Neu: "Simpel! Er muss mir ein Projekt, zum Beispiel das Projekt S, übertragen." Coach: "Warum sollte er das tun? Wie vermitteln Sie ihm, dass er Ihnen vertrauen kann?" Herr Neu: "Wir könnten Meilensteine und Zwischenkontrollen vereinbaren, um gemeinsam zu schauen, ob ich auf Kurs bin." Coach: "Nehmen Sie jetzt wieder die Chef- Identität an. Sie wissen, was der Mitarbeiter möchte und vorschlägt. – Jetzt stellen Sie sich bitte vor, Sie tun das. Nehmen Sie sich Zeit. Stellen Sie sich alles genau und im Einzelnen vor, mit allen Sinnen. Spielen Sie Szenen ab ..." Der Coach verwendet hier die Technik der inneren Simulation oder Visualisierung.
Die Beispiele mögen genügen, um zu plausibilisieren: Psychotherapeutische Verfahren eignen sich, um Coaching-Ziele zu erreichen – ohne dabei ins Psychologisieren zu verfallen. Herr Neu und Coach haben Alternativen erarbeitet, die vermutlich auch die eheliche Kommunikation verbessern: eine gewünschte und willkommene, aber nicht schwerpunktmäßig angestrebte Nebenfolge.
Was der Coach vermeidet, ist also dies: Er tritt weder als Beziehungs-Therapeut auf, indem er Herrn Neu mit "guten Tipps" versorgt oder gar in die Psychologie der ehelichen Beziehung einsteigt. Noch wird er die Grenzen gleichsam gewalttätig durchstoßen, an die der Coaching-Prozess gelangen kann. Bei Herrn Neu sind das beispielsweise die Grenzen des Sich-zurück-Nehmens, des "Loslassen-" und "Vertrauen-Könnens". Spätestens dann, wenn Herr Neu nach einer definierten Phase des "Probierens am Arbeitsplatz" nicht in der Lage ist, in professioneller Weise zu delegieren, mag der Coach zu der Deutung gelangen, hier handele es sich um tiefer in der persönlichen Geschichte liegende Hürden, die psychotherapeutisches Arbeiten sinnvoll machen, etwa Fragen zum "Ur-Vertrauen", zu Facetten des Selbstbildes und Selbstwertgefühls, der Identitätsfindung und persönlichen Lebenswerte. Der Coach wird dies mit seinem Klienten besprechen und ihm gegebenenfalls eine Therapie empfehlen.
Kurz und gut: Coaching und Psychotherapie unterscheiden sich weniger in den angewandten Verfahren als in ihrem Zuständigkeitsbereich. Ein Coach fungiert als Katalysator und Unterstützer und konzentriert sich auf das Begleiten beruflicher Entwicklungsschritte, während der Psychotherapeut die ganze Person umarmt, die "verletzte Seele" berührt und dabei hilft, zu heilen.
Die Gemeinsamkeiten gründen in dem Umstand, dass sowohl Coaching als auch Psychotherapie die Klienten-Persönlichkeit und deren Umfeld in den Brennpunkt stellen. Beide arbeiten mit dem Gespräch als zentralem Medium der Verständigung und Klärung, und beide bestimmen als eine essentielle Grundvoraussetzung die Kombination aus Empathie und psychologischem Wissen. Es gibt eine Schnittmenge an Kompetenzen, die bei einem "guten" Coach vorausgesetzt werden.
PSYCHOTHERAPEUTISCHE SPUREN UND PROFESSIONALISIERUNG
Auf der Seite des Coachings spiegelt sich die Schnittmenge in den Konditionen, die Coaching-Verbände an die Aufnahme knüpfen. Auch das Bemühen, Coaching wissenschaftlich zu fundieren sowie einzubetten und als Profession zu etablieren, erinnert an die frühe Geschichte psychologischer Professionalisierung. Diesem Ehrgeiz verdanken wir zum einen den im deutschsprachigen Raum ersten und im April vergangenen Jahres gestarteten Studiengang für Coaching, der mit einem akademischen Grad abschließt, dem "Master in Coaching und lösungsorientiertem Management", an der Privatuniversität für Management GmbH in Wien. Zum anderen verfolgt die Forschungsstelle "Coach- Gutachten" von Prof. Dr. Harald Geißler (Universität der Bundeswehr in Hamburg) das Vorhaben, Coaching-Ausbildungen wissenschaftlich zu evaluieren.
Inwiefern diese Manifestationen des Bestrebens, Coaching als wissenschaftliche Disziplin zu institutionalisieren und den Coach mit den Weihen akademischer Legitimation auszustatten, den praktischen Erfordernissen der Klienten in ihrem Arbeitsalltag zuträglich sind, bedarf durchaus kontroverser Diskussion. Ebenso wie die Bedingungen der Aufnahme in Coaching-Verbände und den zum Teil paradoxen Anforderungen, mit denen "der Coach" konfrontiert ist.
Herrn Neu jedenfalls interessiert das alles nicht. Er ist erleichtert, im Dialog mit seinem Coach praktisch umsetzbare Erkenntnisse zu gewinnen, Probehandeln zu können und einen Schritt weiter zu sein auf seinem Weg, eine "gute Führungskraft" zu werden.
Literatur der Autorin zu Coaching:
- Einzel-Coaching. Kompetenz entwickeln, Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2001
- Coaching in Aktion: Stumm, aber immer dabei: Der Coach als Schatten des Managers, in: managerSeminare Heft 53, Februar 2002
- Schattentage, in: Coaching-Tools, Hrsg. Rauen, Christoph, Bonn 2004, 2. Aufl., Manager Seminare Verlags GmbH
Dr. Regina Mahlmann
Dipl.-Soziologin, Psychologische Beraterin, Trainerin, Coach in Unternehmen
Studium: der Disziplinen Philosophie, Pädagogik und Geschichte an der Universität Bielefeld, Abschluss M.A. phil.; ferner der Disziplinen Soziologie und Psychologie an den Universitäten Bielefeld und Bremen; Abschluss Dipl. soz., Promotion: an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld 1990.
Wissenschaftliche Tätigkeit: Lehre und Forschung von 1983 bis 1990 an diversen Fakultäten der Universität Bielefeld und Gesamthochschule Wuppertal.
Tätigkeit als Beraterin, Trainerin, Coach in Unternehmen: in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und Schweiz: 1990 bis 1993 beim Management Zentrum St. Gallen; seit 1994 Fortführung dieser Tätigkeit als Freiberuflerin; enge Kooperation mit Beratungsunternehmen in St. Gallen und Zürich (bis 2000)
Thematische Schwerpunkte in Beratung, Training, Coaching:
• Psychologie von Kommunikation/Verhalten • Führung (Selbstführung, Mitarbeiter-, Teamführung) • Teamentwicklung • Konfliktmanagement • Unternehmenskultur • Individuelles und Team-Coaching • Begleitung in Veränderungsprozessen
Tätigkeit in der philosophischen, psychologischen und Lebens-Beratung:
• Halten von Vorträgen • Durchführen von Workshops • Einzel- und Kleingruppen- Beratung • Verfassen von Texten
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