Fallstudie: Ich bin noch nicht bereit
Die Lebensgefährtin eines 28-jährigen Mannes ruft an. Ihr Freund habe einen „Nervenzusammenbruch“. Er geht seit einer Woche nicht mehr zur Arbeit, kann nicht Auto fahren, will nicht mehr alleine vor die Tür und zeigt alle möglichen körperlichen Symptome. Nach meiner Frage, ob der Betroffene dies wünscht, vereinbaren wir einen Termin.
Der junge Mann wirkt sehr aufgeschlossen und fast „amüsiert“ über seinen Zustand. Er berichtet, dass er seine Arbeit nicht mehr ausüben könne, da er Angst habe, Kundenbesuche zu machen. Er habe Angst, das Bewusstsein zu verlieren, und ginge nur noch in Begleitung seiner Lebensgefährtin aus. Zur Praxis ist er allerdings alleine gekommen, wobei er sich auf meiner Website genau darüber informiert hat, wie es in meiner Praxis aussieht und ob es Parkmöglichkeiten direkt davor gibt. Er fragt gezielt nach einer Hypnosebehandlung und möchte zweimal wöchentlich kommen. Er war bereits beim Hausarzt, um alle körperlichen Symptome (Schmerzen in Rücken und Brust, Druck im Kopf, Sehstörungen) abklären zu lassen. Die Untersuchung bleibt ohne Befund, rein körperlich ist alles in Ordnung. Der Arzt rät zu Antidepressiva. Auch hier gehe ich zunächst von einer Agoraphobie mit Panikstörung ICD-10 F40.01 aus.
In der Lebensgeschichte ist auffällig, dass der junge Mann als Frühgeburt auf die Welt kam, die Lungen waren noch nicht entfaltet, der Säugling musste in den Brutkasten. Mit 12 Jahren wurde er an den Mandeln operiert. Mit 14 Jahren wurde ihm in der U-Bahn plötzlich schwindelig, als der Zug auf dem Gleis einfuhr und er musste von der Mutter eines Freundes nach Hause gefahren werden. Seitdem bauten sich die Angstzustände aus und verstärken sich durch Stress und Leistungsdruck. Die Anfälle zeigen sich mit Kopfschmerzen, Schwindel, Schweißausbrüchen, Tunnelblick und Fluchtverhalten. Mit 17 Jahren ging er in eine Verhaltenstherapie, die nur drei Stunden dauerte, da die Therapeutin gesagt hätte, „er sei untherapierbar“.
Inzwischen hat sich die Angst vor Schwindel oder Ohnmacht ausgeprägt und erweitert auf Tätigkeiten und Orte, wo er das Geschehen nicht selbst kontrollieren kann und er zu weit von seinem Auto weg ist, das seinen sicheren Ort, wie er es nennt „Bezugspunkt“, darstellt. Auslöser seien öffentliche Verkehrsmittel, das Sichentfernen von Wohnung oder Auto, „unsympathische Orte“, Anstehen an der Kasse, Stau und ähnliche Situationen. Auf meine Frage, was in der Therapie nicht passieren sollte, sagt er: „Steig in die S-Bahn und fahr in die Stadt!“. Er will also ausdrücklich keine direkte Konfrontationsmethode.
Der Klient möchte für sich erreichen, wieder mehr Dinge zu tun wie einkaufen und spazieren gehen und generell mehr unternehmen. Er möchte wieder arbeiten, allerdings nicht bei der momentanen Arbeitsstelle. Sein Ziel ist es, „Kontrolle über die Angst“ zu bekommen. Psychopharmaka möchte er auf keinen Fall nehmen. Wir besprechen das weitere Vorgehen und ich empfehle ihm einige Mittel zur Stabilisierung. Zum Thema Kontrolle über die Angst, die die meisten Angst-Klienten erlangen möchten, schlage ich vor, stattdessen das Selbstvertrauen zu stärken. Ich gebe ihm eine erste Hypnoseanwendung zur Entspannung.
Bei der nächsten Sitzung berichtet er, dass es ihm bereits nach der ersten Anwendung deutlich besser gehe, sein Antrieb sei verbessert, einige schwierige Situationen bewältigt. Der Partnerin sei das gleich positiv aufgefallen, er erzähle allen nahestehenden Menschen von der begonnenen Therapie. Er fühlt sich befreit.
Wir arbeiten in Hypnose mit ideomotorischer Fingerzeichenbahnung und dem Dialog mit dem inneren Symptomträger.
Zwischen den nächsten Sitzungen, die hauptsächlich aus Hypnoseanwendungen mit dem Ziel Ressourcen zu finden, zu aktivieren und zu integrieren bestehen, nimmt er verschiedene Aktivitäten in Angriff, die er sonst nie unternommen hat, wie zu Fuß irgendwohin gehen, in den Supermarkt zu gehen.
Wir arbeiten in Hypnose mit der Auflösung von Ängsten und seine inneren Bilder zeigen ihn nach seiner Geburt, als er im Brutkasten liegt. Die Ressource ist „Ich bin stark“. Der Wille, zu überleben, ist eindeutig stärker und wir übertragen und integrieren diese Ressource in die Gegenwart und die Zukunft.
Als Hausaufgabe malt er gerne – aktuell ist die Aufgabe, die Situation im Brutkasten zu malen und alle Unterstützung darin zu integrieren, die er damals gebraucht hätte.
Nach acht Sitzungen ist er in der Lage, in Begleitung seiner Partnerin in Supermärkte, Möbelhäuser und Restaurants zu gehen. Sein nächstes Ziel ist, dies alleine zu tun.
Während der nächsten Sitzungen arbeiten wir durchgehend mit Hypnose, mehrmals mit einer Rückführung zu der Situation im Brutkasten, auch immer wieder mit Progression in die Zukunft. Außerdem erlernt er Atemtechniken, die er beim Auftreten von Angstsymptomen anwenden kann. Der Abstand der Sitzungen ist nun wöchentlich.
Nach einer Grippe gibt es einen Rückfall. Der Klient ist demotiviert und hatte verschiedene Angstmomente. In der Hypnose – Arbeit am Kindheitstrauma – erlebt er seine Geburt und ganz deutlich das Gefühl: „Ich bin noch nicht bereit, ich will noch nicht“. Er wird „durch einen dunklen Tunnel gesaugt“, ist verwirrt und kann nicht atmen.
Ein paar Sitzungen später, während denen wir mit der Entwicklung der Symptome und den Möglichkeiten, aus der „Symptomtrance“ auszusteigen, arbeiten, kommt er freudestrahlend mit dem Rad angefahren. Er hat einige „Alleingänge“ unternommen und ist sehr zufrieden mit sich.
Die folgenden Sitzungen widmen wir den Themen, angstbesetzte Situationen in Hypnose zu durchleben. Es zeigt sich immer wieder, dass es sehr wichtig für den jungen Mann ist, seine Schritte aus sich heraus zu entwickeln, ohne Druck der Familie oder der Partnerin. Er macht weitere Fortschritte, geht sogar zur S-Bahn-Station und beobachtet einen einfahrenden Zug – die Situation, in der er damals zum ersten Mal das Gefühl hatte, ohnmächtig zu werden.
Nach etwa 16 Sitzungen sieht er sich auf der Entwicklungs-Skala bei 55. 1 war der Anfang der Therapie, 100 ist sein Ziel.
Im weiteren Verlauf macht er kontinuierlich Fortschritte, wir wiederholen immer wieder auf Wunsch des Klienten die Geburtsthematik.
Dazwischen gibt es allerdings immer wieder Schwankungen und wir arbeiten hauptsächlich mit Ressourcen, damit er besser mit den „Enttäuschungen“ umgehen kann. Sobald von außen Druck entsteht oder er sich selbst unter Druck setzt, um anderen zu entsprechen, gibt es solche „Rückschläge“, wie es der junge Mann nennt.
In der 25. Sitzung arbeiten wir mit Techniken nach EMDR mit der Situation, als er in der U-Bahn beinahe ohnmächtig wurde.
In den nächsten Wochen arbeiten wir immer wieder in Trance an Ressourcen und Zukunftsprogression. Der Klient sucht aktiv nach einer Arbeitsstelle und nimmt kurze Zeit später eine Arbeit im Verkauf an, was er sich schon immer gewünscht hat. Er möchte nun 14-tägig kommen.
Die nächsten Sitzungen wünscht er sich immer wieder Entspannung und Aktivierung von Ressourcen. Er kommt im Alltag gut zurecht, die Arbeit macht ihm viel Spaß.
Nach 35 Sitzungen beenden wir die Therapie. Mein Klient möchte seiner Lebensgefährtin einen Heiratsantrag machen und von Zeit zu Zeit zu einer Entspannungstrance und bei aktuellen Herausforderungen wiederkommen, „Wellness für die Seele“, wie er sagt.
Bei diesem Klienten war der wichtigste Aspekt die Frühgeburt sowie die anschließende Isolation mit den damit verbundenen Ängsten im Brutkasten. Immer wieder wollte der Klient diese Situationen durchleben und refraimen. Er brachte den Auslöser, die einfahrende U-Bahn, und das „durch den Tunnel gesaugt werden“ in Verbindung. Außerdem wurde deutlich, wie stark er auf äußeren Druck oder Erwartungshaltung von Familie und Partnerin mit Verweigerung reagierte, indem die Ängste stärker wurden. Dem liegt vermutlich auch der Wunsch nach Hypnose, einer vordergründig eher passiven Therapieform zugrunde. Nachdem der Klient für sich erfahren hatte, Entscheidungen aus eigenem Antrieb zu treffen und sein eigenes Tempo zu gehen, anstatt sich durch „einen dunklen Tunnel“ saugen zu lassen, konnte er zunehmend angstfreier leben.
Für mich war es immer wieder eine Herausforderung, mit den Rückfällen umzugehen. Da das zugrunde liegende Thema Druck war, war es umso wichtiger, in der Therapie das für den Klienten exakt richtige Maß an Herausforderung und Verweilen zu finden.
Interventionen: Gespräch, Atemtechnik, Hypnose, Malen, Techniken nach EMDR
Ursula Ingra Wieland
Geboren 1961, zwei Kinder 13 und 18 Jahre, Studium klassischer Tanz und Tanzpädagogik Hochschule für Musik Heidelberg/Mannheim, Engagements, u. a. Nationaltheater Mannheim. Ausbildung zur Kommunikationsassistentin, 14 Jahre beim Fernsehen im mittleren und höheren Management, Ausbildungen auf dem Gebiet der Psychotherapie seit 1998. Eigene Praxis in der Nähe von München in den Bereichen Einzel-, Paarund Familientherapie. Veröffentlichungen: CD „Selbstheilungsmeditation“, Weltbild Verlag. CD „Stressfrei durch die Kraft der Elemente“, Weltbild Verlag. Kinder- und Jugendbuch „Majane und der weiße Falke“. Alle zu beziehen bei www.paracelsus-bookshop.de,