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Abschlussarbeit zur Ausbildung Psychologische Beratung/Psychotherapie; Thema: Kranken- und Sterbebegleitung

6. Methodische Vorgehensweise

6.1. Vorüberlegungen

Meine Vorgehensweise entspricht den Grundsätzen der Zielorientierten Gesprächspsychotherapie (ZGT), einer weiterentwickelten Form der - 1940 von Carl R. Rogers (einem Schüler des Freud-Schülers Otto Rank) entworfenen, der humanistischen Psychologie zuzuordnenden - klientenzentrierten Psychotherapie (auch Gesprächspsychotherapie, GPT, genannt) - einerseits auf dieser basierend, andererseits sich wesentlich unterscheidend. In der Arbeit mit Schwerkranken und /oder Sterbenden spielt der Zeitfaktor eine große Rolle. Zwar vertrete ich die Ansicht, daß der Trauer ausreichend Zeit und Raum gewährt werden muß. Doch im Angesicht eines bevorstehenden Todes entsteht der Wunsch, Trauerprozesse sinnvoll zu beschleunigen und abzukürzen, um zur Lebensgestaltung notwendige tragende und tragfähige Kräfte freizusetzen. Warum soll ich warten, bis Fr. L. mittels Selbstexploration irgendwann von alleine darauf kommt, daß es sich zum Beispiel bei ihrer ‘Pechvogeltheorie’ lediglich um einen Glaubenssatz handelt, um eine Annahme, die sie sich im Verlaufe ihres Lebens aneignete, sich selbst schuf, eine Annahme, die ihre Blickwinkel verengt, Kräfte und Energien bindet und Fr. L. in ihrer Selbstentfaltung ausbremst, wenn andere Therapierichtungen Strategien anbieten, die dazu beitragen, diesen untauglichen Glaubenssatz in Richtung positive Selbstannahme zu verändern, die es mir als Begleiterin ermöglichen, Fr. L. aus ihrem selbstgeschaffenen Leid zu befreien und somit Ressourcen freizusetzen? Noch ist Fr. L. keine Sterbende und noch hat sie die Möglichkeit, ihre Selbstheilungskräfte zu aktivieren und eine höhere Lebensqualität sowie längere Lebensdauer zu erlangen. Einem Sterbenden oder einem an einer todbringenden Krankheit unheilbar Erkrankten zerrinnt die Zeit zwischen den Fingern. Da sind schnellere Lösungen gefordert. Rainer Sachse und andere erweiterten das Therapiekonzept von Carl R. Rogers um Elemente aus der Verhaltenstherapie, Gestalttherapie, Transaktionsanalyse, dem katathymen Bilderleben und anderen ... . (vgl. Sachse, S. 15) Dabei wird die ZGT auf Motivations-, Emotions-, Kognitionsund Sprachpsychologie begründet. (vgl. ebenda, S. 17)

 

6.2. Die Zielorientierte Gesprächspsychotherapie

6.2.1. Allgemeine Grundzüge

Seit der Entstehung und Entwicklung der GPT durch C. R. Rogers hat sich diese in den vergangenen Jahrzehnten weiter entwickelt und stark verändert. Die wesentlichen Grundannahmen bezüglich KlientIn und TherapeutIn blieben bestehen. Entscheidende Veränderungen jedoch gab es hinsichtlich Therapieprozeß und Verhalten der TherapeutInnen. Zeichnete sich die GPT C.R. Rogers’ durch nicht-direktives, sehr zurückhaltendes Verhalten der TherapeutInnen aus, das auf Strategien setzte, die zur Bewußtwerdung der Gefühle und Einstellungen der KlientInnen führten und dadurch zur Erlangung größerer Einsicht und verbesserten Selbstverständnisses (vgl. Rogers, Beratung, S. 108 ff), also zu Wachstum und Reife, so gibt es heute auch Gesprächspsychotherapieformen, die zur Förderung des Therapieprozesses ein direktives, eingreifendes Verhalten der TherapeutInnen bevorzugen (vgl. Sachse, S. 11 ff). Die ZGT ist ein prozeß-direktives Verfahren, das bewußt und tiefgreifend auf den Therapieprozeß Einfluß nimmt. Sie “betont ... die Bedeutung therapeutischer Informationsverarbeitungs- und Handlungsplanungsprozesse, die Bedeutung einer generellen Förderung des Klienten durch therapeutische Handlungen sowie die Verankerung in weiteren Teilgebieten der Psychologie wie zum Beispiel in der Motivations-, Kognitions- und Sprachpsychologie.” (Sachse, S. 53) Sie versteht sich als klientenzentriert, ist auf die Erfahrungen des Klienten ausgerichtet. Die wichtigste Grundlage für die Therapie stellt das aktuelle Bewußtsein des Klienten über seine Erfahrungen dar. Im Vordergrund steht der Klient; er gilt als einzigartig in seinem Sein und wird verstanden als Experte, imstande, sich selbst zu entdecken und zu erfahren sowie selbständige Entscheidungen zu treffen - als ein Individuum, das sich in einem Wachstumsprozeß befindet. Den zentralen Bestandteil - als tragendes Element - bildet eine gleichwertige, personenzentrierte Beziehung zwischen KlientIn und TherapeutIn. Therapieziel ist die Stärkung des Klientenpotentials hinsichtlich seines Wachsens, seiner Selbstbstimmung und Wahlfreiheit. Ein neues Bewußtsein und ein neugeschaffener Sinn bedeuten die Grundlage für innere Veränderungen des Klienten auf emotional-psychischer Ebene. (vgl. ebenda, S. 12 ff) Der ZGT liegen die Grundannahmen C. R. Rogers’ zugrunde bezüglich der Fähigkeiten des Klienten:

Aktualisierungstendenz [“Tendenz des Organismus, sich in umfassender Weise zu verwirklichen” (Rogers, Therapeut, S. 41). Rogers geht davon aus, daß der Mensch eine ihm innewohnende Tendenz zur Enfaltung aller Kräfte besitzt, die der Entfaltung oder dem Wachstum des Organismus dienen.], Selbstkonzept [“eine strukturierte, konsistente Vorstellungsgestalt ..., die sich zusammensetzt aus den Wahrnehmungen von ICH und MICH und den Wahrnehmungen von den Beziehungen dieses ICH zur Außenwelt und zu anderen Personen. Dazu gehören auch die mit diesen Wahrnehmungen verbundenen Wertvorstellungen ... . Sie ist nicht unbedingt bewußt, aber dem Bewußtsein zugänglich.” (ebenda, S. 42) ], Erleben [alles, was im Organismus vorgeht und bewußt ist. Unbewußtes kann ins Bewußtsein dringen und somit erlebbar werden] und Inkongruenz [Diskrepanz zwischen organismischem Erleben und bewußtem Selbstkonzept] sowie der Grundhaltungen des Therapeuten: Kongruenz [“Übereinstimmung mit sich selbst” (ebenda, S. 213): Der Therapeut lebt, was er ist, ohne Fassade, echt, offen und aufrichtig. Er steht in Kontakt zu seinen Gefühlen und Einstellungen, ist sich ihrer bewußt und äußert diese, falls erforderlich - als seine Gefühle und seine Reaktionen], Empathie [einfühlendes Verstehen - in die persönliche Welt des Klienten als echte Anteilnahme. “Die innere Welt des Klienten mit ihren ganz persönlichen Bedeutungen so zu verstehen, als wäre sie die eigene - doch ohne die Qualität des als ob zu verlieren - das ist Empathie ... .” (ebenda, S. 216), Wertschätzung [positive Zuwendung - durch eine warmherzige, positive, akzeptierende Haltung dem Klienten gegenüber. Er wird als Persönlichkeit geschätzt und als eigenständiges Individuum voller Möglichkeiten geachtet.], bedingungsfreies Akzeptieren [in umfassender Weise - wertneutral und urteilsfrei. Diese Haltung führt dazu, daß der Klient sich ernst- und angenommen fühlt in seinem So-Sein.] Die Grundhaltungen des Therapeuten führen zu einer vertieften Beziehung und zu größerer Offenheit. Sie fördern konstruktive Veränderungen, die Weiterentwicklung des Klienten und dessen Selbstachtung. Sie bewirken eine größere Bereitschaft zur Selbstexploration bezüglich Erleben , Wertvorstellungen, Glaubenssätzen, Zielen ..., eine Steigerung der Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit den vermiedenen Aspekten seines Selbst, fördern ein klareres Problembewußtsein des Klienten, einen bewußteren Umgang mit eigenen Gefühlen und eigenem Erleben sowie eine Steigerung des Selbstwerts [Annahme der starken und schwachen Seiten der Persönlichkeit]. Erzielt werden zudem eine größere Bereitschaft Erfahrungen zuzulassen, was zu einer realistischeren Weltsicht und einem konstruktiveren Umgang mit Problemen führt, und eine erhöhte Bereitschaft, Ziele zu formulieren im Sinne einer Klärung dessen, was dem Klienten wichtig ist. (vgl. Sachse, S. 26)

6.2.2. Das Motivations-Emotions- Regulationsmodell (MER)

Die ZGT geht davon aus, daß KlientInnen “Schwierigkeiten mit dem Klärungsprozeß haben” (Sachse, S. 81), so daß dieser durch TherapeutInnen “gezielt, geplant und zum Teil massiv unterstützt werden muß.” (ebenda). Die begrenzenden, einschränkenden Faktoren werden im MER beschrieben und dargestellt. Hierbei (vgl. Sachse, S. 58 ff) handelt es sich um ein theoretisches Rahmenmodell über Verarbeitungs- und Handlungsprozesse. Es enthält drei vertikale Ebenen

- Umwelt [sowohl die Situationsbedingungen, die auf die Person einwirken als auch die Handlungskonsequenzen, die wahrgenommen und verarbeitet werden], Verarbeitung [zugrundeliegende Annahme: Eine Person reagiert nicht auf die Situation als solche, sondern auf verschiedene Stimuli, die der Verarbeitung bedürfen], Disposition [Strukturen, auf deren Hintergrund der Verarbeitungsprozeß abläuft, z.B. Wissen der Person, Annahmen über sich selbst und die Realität ...] - und fünf horizontale Ebenen

- Verarbeitung und Interpretation [kognitive Verarbeitungsprozesse; stark gesteuert von Wissen und Annahmen der Person], Emotionale Verarbeitung [Deutung auf dem Hintergrund von Selbstbild, Selbstund Selbstwertannahmen; Aspekt der Gefühlsbedeutung], Motivationsprozesse und Motive [Motive wirken bei der emotionalen Verarbeitung mit, bestimmen die Art der sich bildenden emotionalen Schemata und beeinflussen kognitive Verarbeitungsprozesse], Handlungsplanung [Schwierigkeiten entstehen durch Kompetenzdefizite, z.B. mangelndes Wissen, und Probleme emotionaler Schemata, z.B. Perfektheitsanspruch, Versagenangst] und Handlungsausführung [wird beeinflußt durch emotionale Schemata, kognitive Verarbeitungsprozesse und das Selbstkonzept] -. Es wird deutlich, “daß eine mangelnde Repräsentation relevanter Motive, aber auch relevanter emotionaler Schemata, Selbstkonzeptaspekte, Annahmen usw. die Selbstregulation der Person auf nachhaltige und komplexe Weise beeinträchtigt.” (ebenda, S. 76) Die ZGT formuliert als Strategien (vgl Sachse, S. 76 ff):

Klärung Selbstexploration, Verstehen, Bewußtmachung,

Problemaktualisierung Strategien, die die zugrundeliegenden emotionalen und kognitiven Schemata verdeutlichen helfen,

Umstrukturierung Schemata reflektieren, vergleichen, prüfen, testen, erproben; mit anderen positiven Schemata verbinden, neue Schlußfolgerungen ziehen,

Ressourcenaktivierung Verbinden des negativen Selbstschemas mit den positiven Aspekten des Selbst, Neubewertung, Prüfung, Integration; Aktivierung bereits vorhandener Ressourcen,

Bearbeitung der Bearbeitung Verhinderung von Vermeidungstendenzen; Bearbeitung der Art und Weise, wie die Person mit sich, ihren Gefühlen und Problemen umgeht,

Beziehungsgestaltung vertrauensvolle Kommunikation = Grundlage der Arbeit; ermöglicht Veränderungen.

 

Zum direktiven Vorgehen gehören auch Strategien wie Hinweise auf notwendige Korrekturen, Interpretation dessen, was gesagt wurde, das Stellen gezielter Fragen, das Herausarbeiten von Informationen, das direkte Bearbeiten genannter Probleme ... .

6.3. Konkrete Umsetzung und Bilanz

Bis hierher fanden wiederholt die Bezeichnungen Therapeut, Therapeutin Verwendung. Doch ich selbst verstehe mich nicht als Therapeutin, sondern als Begleiterin, als jemand, der bemüht ist zu unterstützen, aufzufangen, Prozesse in Gang zu setzen und hilfreiche Veränderungen herbeizuführen. Dazu bediene ich mich der Elemente der oben vorgestellten Therapieform sowie anderer therapeutischer Richtungen und Möglichkeiten. Als erstes verschaffe ich Fr. L. die Adressen, Telefonnummern und Programme der Vereine Krebsnachsorge e.V. und Frauenselbsthilfe nach Krebs e.V., beide vor Ort ansässig. Sie wollte Beschäftigung und Abwechslung. Doch die auf ihre Erkrankung speziell zugeschnittenen Angebote dieser Vereine nutzt sie nicht, nimmt nicht einmal Kontakt auf. Ich zeige ihr und wir üben gemeinsam die Meridianmassage (Kinesiologie), eine sanfte Methode zur Stärkung und Balancierung des Immunsystems, zur Anregung des Kreislaufs und zur Entschlackung. Später äußert sie, daß sie diese täglich durchführe und sich erfrischt und angeregt fühle. Wir betrachten die ‘zwei Seiten der Medaille’ und suchen das Gute des Schlechten - zur Veränderung der Blickwinkel und der Wahrnehmung, damit sie sich nicht selbst immer tiefer in die Depression hinunterzieht. Äußert sie ihre “Pechvogeltheorie” oder andere Negativsätze, mit denen sie sich selbst und ihr Dasein abwertet, bitte ich sie, all das Positive, Schöne und Gelungene in ihrem Leben sowie ihre eigenen Stärken zu benennen. Ich ermutige sie zur Erstellung einer Liste mit Möglichkeiten, sich selbst etwas Gutes zu tun, liebevoll mit sich selbst umzugehen und den Augenblick aus tiefster Seele zu genießen. Sie sagt, sie habe immer alles heruntergschluckt, sei stets für andere da gewesen und habe sich immer um andere gekümmert. Es fällt ihr ausgesprochen schwer, etwas zu benennen, das ihr gut täte, was sie sich wünschte und was ihren Bedürfnissen entspräche. Aber je häufiger wir unseren Blick auf diese Thematik richten, umso leichter fällt es ihr, zu ihren Wünschen und Bedürfnissen zu stehen und diese wenigstens zu äußern. Bezüglich konkreter Situationen, von denen sie berichtet, ermutige ich sie, ihren eigenen Weg zu gehen, nein zu sagen, Grenzen zu setzen, ganz ihren inneren Stimmen, ihren Intuitionen zu folgen, von dem auszugehen, was sie möchte. Beispiel: Ihrer Meinung nach muß das Trauerjahr eingehalten werden. Sie besteht darauf, schwarze Kleidung zu tragen und versagt sich auf Familienfeiern das Tanzen. “Dann werden die anderen denken: ‘Oh guck ‘mal, die ist ja gar nicht traurig. Die vergnügt sich ja schon wieder.’ ... Nein, nein, das geht nicht. Das kann ich nicht machen.” Immerhin ist sie am Ende bereit, ein aufgelockertes Schwarz zu tragen, sich auf schwarze Hose oder schwarzen Rock zu beschränken. Ich biete ihr Erlaubnisse an, doch es fällt ihr sehr schwer, sich darauf einzulassen. Fr. L. steht mit ihrem inneren Glaubenssystem in Konflikt. “Ja, darf ich das denn? Nein, nein, das geht doch nicht.” Wir führen religiöse und bibelexegetische Gespräche, die Auseinandersetzungen mit dem Gottesbild von Fr. L. und der Frage von Schuld, genauer gesagt ihrem Schuldgefühl ermöglichen. Fr. L. betrachtet ihre Erkrankung als Strafe, beantwortet jedoch die Frage nach der damit verbundenen Schuld mit: “Nein, es gibt keine Schuld”. Ich frage weiter, wer sie denn bestrafe und erhalte die Antwort: “Mein verstorbener Mann und/oder Gott”. Wofür werde sie bestraft? Dafür, daß sie immer wieder mit ihrem Mann geschimpft habe, als dieser sturzbetrunkenn irgendwo im Hause herumlag. “Das mochte mein Mann gar nicht, darüber hat er sich immer wieder beschwert.” Ihrer Ansicht nach verstieß sie mit diesem Verhalten gegen das Gebot der Nächstenliebe. Wir schauen uns die Gottesbilder des Alten und Neuen Testamentes an, dazu Jesu Botschaft insbesondere bezüglich Schuld und Schuldvergebung. Seine Botschaft ist wertschätzend, ermutigend, kraftspendend. “Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie.” [Jh. 8,7] (Die Heilige Schrift, Einheitsübersetzung) Nach diesen Gesprächen ist Fr. L. erkennbar ruhiger und optimistischer gestimmt. Ich unternehme den Versuch, Fr. L. dazu zu animieren, die Verantwortung für die Haltung ihrer Mutter dem Neugeborenen gegenüber bei der Mutter zu belassen, diese an sie abzugeben, indem ich ihren Blick auf ihren starken Lebenswillen und die Liebe des Vaters sowie der Geschwister lenke. Sie sagt es selbst (mit Stolz): “Ich habe mich durchgesetzt, bin immer wieder auf die Füße gekommen - auch ohne die Liebe meiner Mutter.” Ich biete ihr an, bei der Erstellung einer Patientenverfügung behilflich zu sein. Mit dem Hinweis, sie brauche so etwas nicht, lehnt sie die Erstellung einer Patientenverfügung ab. “Wenn ich damit ankomme, werden meine Kinder sagen: . Wenn die Stunde kommt, dann kommt sie halt.” Dennoch unterhalten wir uns über ihre Wünsche und Vorstellungen, wie diese letzte Stunde aussehen solle und wo sie dann sein wolle, zu Hause oder in einem Hospiz (oder ähnlichem).

Abschließende Bilanz:

Nach fünf Monaten Begleitung hat sich die Grundstimmung von Fr. L. erkennbar verbessert. Sie erscheint wieder fröhlicher und gelassener. Offensichtlich hat sie sich auf ihre Krankheit eingestellt, kommt nun recht gut mit den notwendigen Veränderungen bezüglich ihres Tagesablaufs und der Ernährung zurecht. Dennoch bleibt sie passiv. Weiterhin wartet sie darauf, daß die ÄrztInnen sich um sie kümmern, weiterhin plant sie weit in die Zukunft. Weder nutzt sie die Möglichkeiten der oben genannten Vereine noch die der Naturheilkunde. Meines Erachtens übernimmt sie zu wenig Eigenverantwortung und Eigeninitiative.

 

7. Nachwort

Einige persönliche Gedanken zum Schluß: Als Begleiterin stehe ich an der Seite von Fr. L., laufe weder voraus noch hinterher. Lediglich helfe ich, das Dickicht zu lichten, reiche ich ihr die Hand, gehe ich ihren Weg mit. Und manchmal habe ich als Nicht- Betroffene einen klareren Blick, vielleicht sogar Durchblick. Doch ich habe nicht das Recht, das Tempo vorzugeben und den Weg zu bestimmen. Dessen bin ich mir bewußt. Die Begleitung dieser schwerkranken Frau fiel und fällt mir dennoch manchmal nicht leicht. Immer wieder ertappe ich mich bei dem Gedanken, daß sie doch eine Entscheidung treffen müsse. Will sie leben, will sie gesund/gesünder werden? Dann müßte sie allmählich aktiv werden, etwas unternehmen, alle Hebel in Bewegung setzen und alles tun, was möglich ist, anstatt darauf zu warten, daß die Dinge sich von alleine regeln. Ist sie bereit, die Prognose der Ärzte anzunehmen und zu akzeptieren, daß sie bald sterben wird? Dann müßte sie dringend die ihr verbleibende Zeit nutzen, müßte sie trauern und sich vorbereiten. Dann müßte sie anfangen, heute zu leben, das Hier und Jetzt auszukosten, Dinge zu erledigen, die dringend der Regelung bedürfen, dann müßte sie damit beginnen, die Dinge zu tun, die sie schon lange tun wollte, aber aus den unterschiedlichsten Gründen unterließ und vor sich herschob. Nicht selten erfüllt mich ein Gefühl der Hilflosigkeit und ‘sitze ich auf glühenden Kohlen’, weil ich den Eindruck habe, daß ihr die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt. Doch dann wird mir bewußt, daß das alles meine Maßstäbe sind, die ich auf sie übertrage. Ich meine, sie müßte so empfinden und handeln wie ich. Aber sie ist nicht ich, sie ist sie selbst. Sie bestimmt den Weg und das Tempo. Und sie legt ihre Maßstäbe an. Ist Fr. Ls Passivität nicht möglicherweise eine Haltung großen Vertrauens, wenn sie als tiefgläubige Christin ihr Leben ganz in Gottes Hand legt? Und ist ihre Sicht von Krankheit und Gesundheit nicht grundsätzlich anders als meine? Nimmt sie in Demut an, daß Gott ihr das Leben - und damit Gesundheit und Krankheit gegeben hat und daß er auch den Zeitpunkt des Lebensendes bestimmt, dann sind Krankheit/Gesundheit ein von außen gegebenes Schicksal, auf das sie grundsätzlich keinen Einfluß nehmen kann. Denn dann bestimmt Gott, was wird. Dann kommt es ihr gar nicht in den Sinn, daß sie Eigenverantwortung übernehmen könnte und darf. Ich selbst betrachte Krankheit als eine Dysbalance des Organismus, als ein Ungleichgewicht innnerhalb der Körper- Geist-Seele-Einheit, der Ganzheit des Menschen, und gehe davon aus, daß ich Einfluß nehmen kann auf diese Balance. Aus eigener Erfahrung weiß ich um die Macht der Gedanken und Gefühle und ebenso um die kraftvolle Wirkung von Veränderungen gerade in diesen Bereichen. Ich bin bereit, den oft mühevollen und schmerzhaften Weg der Veränderungen auf mich zu nehmen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Aber das ist meins, das ist meine Sichtweise. Es ist Fr. Ls gutes Recht, ihr Leben ganz in Gottes Hand zu legen und zu sagen: “Wenn die Stunde kommt, dann kommt sie halt”. Zeugt dies nicht möglicherweise von einer größeren Demut und Gelassenheit als mein Wunsch nach aktiver Gestaltung - auch der letzten Lebensphase? Es ist ihr Leben und sie darf tun, was zu ihr paßt. In ihrem Denken, Fühlen und Handeln ist sie einzigartig, sollte sie eins sein mit sich selbst. Sie bestimmt, was darunter zu verstehen ist. Das, was ist, muß für sie richtig sein. Ihr muß es gut gehen mit dem, was ist und wie es ist. Nur das zählt. Daran werde ich mich in Zukunft wohl immer ‘mal wieder selbst erinnern müssen, insbesondere dann, wenn mich Ungeduld erfaßt.

 

Nachtrag:

In einem Gespräch, das unmittelbar vor Fertigstellung dieser Arbeit stattfand, wird deutlich, daß Frau L. leben möchte, daß sie, wenn es nach ihr ginge, gesund werden möchte, aber daß sie weder den Weg dorthin kennt noch sich für eine der Möglichkeiten entscheiden mag. Soll sie sich der Schulmedizin anschließen und den ÄrztInnen glauben, die da sagen, jetzt, da sie metastasenfrei sei, solle sie gar nichts machen, um nicht den Krebs wieder zu aktivieren? Gerade der Augentumor dürfe jetzt nicht behandelt werden, da keiner einschätzen könne, wie dieser sich verhalten wird. Soll sie die Naturheilkunde mit hinzunehmen? Soll sie beides miteinander kombinieren? Sie weiß es nicht, möchte das Richtige tun. Aber was ist in dieser Situation das Richtige? Sie traut sich nicht, eine Entscheidung zu treffen, da sie nichts falsch machen möchte. Gäbe es eine Garantie für einen bestimmten Behandlungsweg, so würde sie den wählen. Diese Bereitschaft ist vorhanden. Eine Garantie jedoch gibt es nicht; diese kann und darf ihr niemand geben.


Hildegard Saupp

 

 

In den Tiefen unseres Unterbewußtseins haben wir ein gefrorenes Meer ungeweinter Tränen angesammelt. Dort hausen ekelhafte Ungeheuer, Kinder der Angst, Einsamkeit und Verlassenheit, dort frißt verbotene Wut sich unaufhörlich nach innen. ... Das Meer leerzuweinen, hieße leben. Das aber hieße auch Schmerz und Tod zu akzeptieren.

Angelika Aliti

 

Literaturverzeichnis

Literatur bezüglich Diagnostik H. Dilling, W. Mombour, M.H. Schmidt, (Hrsg.), ICD 10 = Internationale Klassifikation psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation, Kapitel V (F), Verlag Huber Göttingen, 4. Aufl. 2000.. Dilling, Reimer, Arolt, Basiswissen Psychiatrie und Psychotherapie, Springer Verlag Berlin, 4. Aufl. 2002., T. Payk, Psychiatrie und Psychotherapie, Thieme Verlag Stuttgart, 3. Aufl. 1998.. Literatur bezüglich Trauerarbeit und Begleitung Angelika Aliti, Die Sucht, unsterblich zu sein, Warum der Mensch den Tod fürchtet und darüber das Leben versäumt, Kreuz Verlag Stuttgart, 1991., Verena Kast, Sich einlassen und loslassen, Neue Lebensmöglichkeiten bei Trauer und Trennung, Herder-Spektrum, Verlag Herder Freiburg, 7. Aufl. 1998., dies., Trauern, Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, Kreuz Verlag Stuttgart, 20. Aufl. 1999., Elisabeth Kübler-Ross, Interviews mit Sterbenden, GTB-Sachbuch, Gütersloher Verlagshaus, 15. Aufl. 1990., dies., Reif werden zum Tode, GTB-Sachbuch, Gütersloher Verlagshaus, 6. Aufl. 1989., dies., David Kessler, Geborgen im Leben, Wege zu einem erfüllten Dasein, Kreuz Verlag Stuttgart, 2001., Erika Schuchardt, Warum gerade ich? Leben lernen in Krisen, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 6. Aufl. 1996., Bernhard Sill, Renée Rauchalles, Die Kunst des Sterbens, Verlag Friedrich Pustet Regensburg, 2001., Jürgen Schwarz (Hrsg.), Sterben ist das Schwierige am Werden, Verlag am Eschbach GmbH, 1985., Monika Specht-Tomann, Doris Tropper, Wege aus der Trauer, Kreuz Verlag Stuttgart, 2001., Volker Tschuschke, Psychoonkologie, Psychologische Aspekte der Entstehung und Bewältigung von Krebs, Verlag Schattauer Stuttgart, 2002., Karin Wilkening, Wir leben endlich, Zum Umgang mit Sterben, Tod und Trauer, Vandenhoeck-Transparent, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 2. Aufl. 1998., Die Heilige Schrift, Einheitsübersetzung, Verlag Katholisches Bibelwerk, Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart, 1981.. Literatur bezüglich methodischer Vorgehensweise Carl R. Rogers, Therapeut und Klient, Grundlagen der Gesprächspsychotherapie, Fischer-Geist und Psyche, Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt/Main, 14. Aufl. 1999., ders., Die nicht-direktive Beratung, Fischer- Geist und Psyche, Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt/Main, 9. Aufl. 1999., ders., Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen, Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie e.V. (GwG) Köln, 3. Aufl. 1991., Rainer Sachse, Lehrbuch der Gesprächspsychotherapie, Verlag Hogrefe Göttingen, 1999., Reinhard Tausch, Anne-Marie Tausch, Gesprächspsychotherapie, Verlag Hogrefe Göttingen 9. Aufl. 1990

 

Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet.
Christian Morgenstern


Medikamentenabhängigkeit Suchtproblem Nummer zwei in Deutschland

Heidelberg (dpa) – Medikamentenabhängigkeit ist nach Angaben des Fachverbands Sucht das zweitgrößte Suchtproblem in Deutschland. Mit rund 1,5 Millionen Tablettensüchtigen rangiere die Krankheit direkt hinter der Alkoholabhängigkeit, an der etwa 1,6 Millionen Menschen litten, sagte der Suchtexperte Gerd Glaeske von der Universität Bremen am Montag In Heidelberg. Bis zum Mittwoch tagt dort der 16. Bundeskongress des Fachverbands Sucht unter dem Motto «Sucht macht krank». 2001 wurden nach Angaben des Suchtexperten 1,66 Milliarden Packungen Arzneimittel verkauft. Das seien im Schnitt 20 pro Einwohner in Deutschland. Etwa sechs bis acht Prozent Medikamentenabhängigkeit Suchtproblem Nummer zwei in Deutschland dieser Arzneimittel hätten ein bekanntes Sucht- oder Missbrauchspotenzial. Zur Abhängigkeit komme es vor allem, wenn Medikamente wie Schlafoder Muskelentspannungsmittel sowie Arzneimittel gegen Depressionen über einen längeren Zeitraum eingenommen würden. Eine Einnahme über mehr als zwei bis drei Monate führe häufig zur Gewöhnung, erklärte Glaeske. «Es ist eine stille Sucht, die weit unauffälliger als Alkohol wirkt.» Rund 60 Prozent der Betroffenen seien Frauen. Nach der Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit wertet der Verband die Drogensucht mit etwa 120.000 bis 150.000 Betroffenen als drittgrößtes Problem. Die Behandlung der knapp 4 Millionen süchtigen Raucher rechne dagegen nicht zu den eigentlichen Suchttherapien, hieß es. Der Vorstandsvorsitzende des Fachverbandes, Ralf Schneider, betonte, dass Abhängigkeitserkrankungen eine Vielzahl von Folgeerkrankungen sowie Schädigungen des Organsystems nach sich zögen. Schneider forderte eine verstärkte Präventionsarbeit, die vor allem Zielgruppen bezogen sein müsse. Gerade die Aufklärung über die Medikamentenabhängigkeit als – stille Suchtform – sei in Deutschland noch «deutlich unterbelichtet».

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