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Die Sexualität wiederentdecken ... und genießen

Vor ein paar Tagen habe ich mit meiner besten Freundin Carmen telefoniert. Sie war total aus dem Häuschen und berichtete mir ganz euphorisch in einem überschwänglichen Redeschwall von ihrem Wochenendtripp gemeinsam mit ihrem Mann in einem Wohnmobil. Kaum ein Satz, in dem sie nicht mindestens einmal betonte, dass sie diesen Tripp soooooooooo sehr genossen hat.

Ich denke, das kennen wir alle: Wir sind am Meer und genießen den Sonnenuntergang. Wir sitzen in unserer Lieblings-Pizzeria und genießen das Glas Rotwein. Wir genießen die klassische Musik im Konzertsaal. Wir genießen das Wellnesswochenende im Hotel. Und wir genießen das zärtliche Zusammensein am Abend nach einem anstrengenden Arbeitstag, wenn die Kinder schon schlafen.

Aber was bedeutet eigentlich genießen, was macht ein Ereignis zum Genuss?

Genuss bezeichnet eine positive Sinnesempfindung, die mit körperlichem und oder geistigem Wohlbehagen verbunden ist. Beim Genießen ist mindestens ein Sinnesorgan angesprochen.

Organe ermöglichen uns das Genießen

Besonders im Zusammenhang mit Essen und Trinken ist sehr oft die Rede vom Genießen. Gourmets benutzen gerne Metaphern, die das unterstreichen: Das Auge isst mit, aus der Küche strömt appetitanregender Duft in unsere Nase. Beim Anblick eines schön dekorierten Esstisches und liebevoll angerichteter Speisen läuft uns das Wasser im Mund zusammen.

Die Textur der Speise und das Aromen-Potpourri streichelt den Gaumen und kitzelt die Zunge. Mit geschlossenen Augen spüren wir unseren Sinneseindrücken nach und lassen sie auf uns wirken. Vorausgesetzt, wir richten unsere volle Aufmerksamkeit auf das Essens-Erlebnis, nehmen uns Zeit dafür und blenden möglichst alle Störfaktoren aus.

Ein genussvolles Essen ist eben viel mehr als lediglich Nahrungsaufnahme vom Pappteller, in der Mittagspause an der Imbissbude neben der Hauptverkehrsstraße unter Zeitdruck mit dem Handy in der Hand.

Grundsätzlich ist, was als Genuss empfunden wird, subjektiv und somit individuell unterschiedlich beurteilt. Voraussetzung ist die Genussfähigkeit.

Ob Genussfähigkeit angeboren ist oder erworben wird, ist umstritten. Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang mit der Freud`schen Theorie des Lustprinzips.

Verkürzt gesagt, werden Genussgefühle im Gehirn ausgelöst, wenn Impulse der Sinnesorgane über Nervenbahnen weitergeleitet werden und z. B. im limbischen System mit früheren Erinnerungen verglichen und bewertet werden. Eine positive Bewertung führt zu einer vermehrten Ausschüttung von entsprechenden Botenstoffen und Hormonen. Diese erzeugen positive Gefühle im Belohnungszentrum, was letztendlich als Genuss empfunden wird.

Aber wie und wo im Körper ist Genuss-Empfinden konkret spürbar?

Viele berichten von einem Wärmegefühl oder einem Kribbeln im Bauch, das sich wie ein Flow dann durch den gesamten Körper zieht. Andere sprechen von einem gefühlten Rauschzustand, der den Wunsch nach mehr und Nicht-aufhören-Wollen weckt.

Einige benötigen einen Partner (immer m/w/d), um in diesen Genuss-Flow eintauchen zu können. Wieder andere beschreiben einen Rückzug in ihr Inneres und das komplette Abschalten von äußeren Einflüssen.

Für die meisten Menschen bedeutet genießen, sich authentisch dem Genuss-Auslöser hinzugeben, das Denken auszuschalten, Raum und Zeit zu vergessen, Sorgen und Distress auszublenden, sich intensiv auf die eigenen und/oder partnerschaftlichen Bedürfnisse zu konzentrieren und unzensiert darauf einzulassen. Ganz oft spielt der Wunsch vom Verwöhnen und Verwöhntwerden eine große Rolle.

Die vielschichtigen Aspekte des Genuss-Erlebens gehen einher mit verstärkter Durchblutung des Körpers, mit kaskadenartigem Aktivieren und Ausschütten von Neurotransmittern, Enzymen, Glücks-, Kuschel-, Lust- und Wohlfühlhormonen wie Dopamin, Serotonin und Oxytocin.

Carmen und Gregor

Also was genau meint meine Freundin Carmen, wenn sie mir von ihrem Wahnsinns-Genuss-Tripp mit ihrem Mann im Wohnmobil vorschwärmt?

Sie ist seit vielen Jahren mit Gregor verheiratet, beide sind beruflich sehr engagiert und erfolgreich, sie haben ein Haus gebaut und mit viel Liebe ihre beiden Kinder großgezogen. Nachdem die Kinder eigene Familien gegründet haben, gingen beide in ihrer Großelternrolle auf. Auf der Strecke geblieben ist die Paarbeziehung.

Das sollte sich nun ändern. Sie haben beschlossen, sich intensiver um ihre Beziehung zu kümmern. Der erste Schritt war der Kauf eines Wohnmobils: losfahren und spontan dort anhalten, wo es schön ist.

Und das tun, was beide am Beginn ihrer Beziehung sehr genossen haben, was aber im Laufe der Jahre eingeschlafen und viel zu kurz gekommen ist – die Sexualität.

Sexualität ist ein menschliches Grundbedürfnis

Und das vom ersten bis zum letzten Lebenstag. Sie ist individuell, bunt und vielfältig, sie kann Pflicht- oder Kürprogramm sein, sie kann mehr oder weniger bedeutungsvoll sein, mehr oder weniger befriedigend oder genussvoll erlebt werden.

Genussvolle Sexualität beginnt, wie könnte es anders sein – im Kopf. Das, was wir denken, fühlen wir und entsprechend handeln wir.

Wenn uns beim Sex unangenehme Dinge durch den Kopf gehen oder wir daran denken, was noch erledigt werden muss bzw. was im Laufe des Tages schiefgelaufen ist, dann verlieren wir die Lust oder bekommen erst gar keine. Und dann wird es nichts mit dem Genuss-Erleben. Wenn es beim Sex Probleme gibt, sind diese meist psychischer Natur, vorausgesetzt es gibt keine physische Ursachen.

Neben negativen sexuellen Erfahrungen, Krankheiten und stark differierenden partnerschaftlichen sexuellen Wünschen und Bedürfnissen bzw. fehlender sexueller Pass-Genauigkeit sind Erwartungs- und Versagensängste einige der häufigsten Genuss- und Lust-Killer.

Um noch einmal den Genuss-Vergleich mit dem Essen zu bemühen: Wenn ich ein 5-Sterne-Menü erwarte und es wird einfache Hausmannskost serviert, dann ist die Enttäuschung vorprogrammiert.

Ich werde mich dann vermutlich schwertun, die Hausmannskost mit allen Sinnen zu genießen, auch wenn sie noch so lecker zubereitet wurde.

Um sich dem Genuss und Wohlbefinden hingeben zu können, ist es sinnvoll, ohne überhöhten Erwartungsdruck, ohne Stress offen und neugierig dafür zu sein, was auf dem Speiseplan steht. Wie sagt der Volksmund: Der Appetit kommt beim Essen.

Unsere übersteigerten vorauseilenden Fantasien, Einstellungen und Erwartungen können beim Sex regelrecht frustrieren, zu Potenzproblemen führen und den Genuss verhindern.

Umgekehrt funktioniert es aber auch. So seltsam es klingen mag: Unser Gehirn ist das größte Sexorgan. Wir bekommen Lust, wenn wir uns verlockende sexuelle Fantasien machen.

Wir können den Genuss-Booster aktivieren, je stärker wir uns mit allen Sinnesorganen ausmalen, wie gut es uns beim Sex gehen wird. Damit können wir unsere Erregung, unsere Lust auf Sex und Genussbereitschaft ankurbeln.

Das Amor-Mobil

Sie waren voller Vorfreude auf eine rauschende Renaissance ihrer partnerschaftlichen Sexualität mit dem Wohnmobil, das auf den Namen Amor-Mobil getauft wurde, gestartet. Jeder für sich hatte im Kopf ein Szenario, wie der erste Abend im Amor-Mobil ablaufen würde.

Carmen hatte einige Zutaten für das Fest der Sinne besorgt, um für eine gemütlich erotische und vor allem Genussstimulierende Grundstimmung zu sorgen: Kerzen, Champagner, Kuschelmusik, erotische Dessous. So ist Carmen, sie ist der Genuss-Typ, der ein bestimmtes stimulierendes Ambiente benötigt.

Gregors Kopfkino lief auf Hochtouren. Er stellte er sich vor, wie sie beide auf einem ruhigen Stellplatz ohne jeden Schnickschnack hungrig übereinanderherfallen, sich die Kleider vom Leib reißen und wie im Rausch intensive Befriedigung erleben. So ist Gregor, er ist der Genuss-Typ, der ohne Umwege sofort zur Sache kommt.

Irgendwie gab es dann wohl von allem etwas – Carmen war noch am Dekorieren, als Gregor sie ungeduldig auf das noch nicht bezogene Doppelbett zog. Beide waren anfangs etwas gehemmt, weil sie unsicher waren, wie gut ihr Amor-Mobil vor den Blicken und Ohren der anderen Camper auf dem Platz geschützt ist. Sie versuchten ganz leise zu sein und sich nur sparsam zu bewegen. Es dauerte aber nicht lange, bis sie ihre Bedenken ausgeblendet hatten und sich nur noch auf sich konzentriert haben.

Carmen und Gregor ist es leichtgefallen, sich auch nach jahrelanger Sparflammen-Sexualität an das zu erinnern und an das anzuknüpfen, was sie vom Anfang ihrer Beziehung kannten und was sie gemeinsam genussvoll erlebt hatten.

Beide hatten erst einmal Bedenken, ob sie altersbedingt noch attraktiv genug füreinander waren, um ein rauschendes Liebesfest feiern und genießen zu können. Aber diese Bedenken konnten beide schnell über Bord werfen. Im Gegenteil: Der tabulose Umgang mit ihren gealterten Körpern hatte für beide eine ganz besonders sinnliche Attraktivität und vor allem Intimität, die ihnen auf vertrauensvolle Weise sehr gut getan hat.

Carmen konnte sich genau wie damals gar nicht sattsehen an Gregors nacktem Körper. Sie hat den Geruch seiner Haut aufgesogen und seinen Körper mit den Händen von Kopf bis Fuß ertastet.

Carmen hatte sofort wieder dieses angenehme Kribbeln im Bauch und diesen sexuellen Appetit auf Gregor, vor allem weil auch seine Lust unübersehbar war.

Gregor hatte alles um sich herum vergessen und nur noch Augen und Ohren für Carmen. Er achtete ganz genau auf jede Regung und jeden Laut von ihr, damit sie alle seine Berührungen genießen konnte.

Das wiederum war für Gregor wichtig, um auch selber die Intimität mit Carmen genießen zu können. Sexueller Genuss war für Gregor noch nie eine Einbahnstraße, er wollte immer sich selbst und seiner Frau Genuss „bescheren“, wie er es nennt.

Und das hat auch nach vielen Jahren der partiellen Enthaltsamkeit im Amor-Mobil genau so funktioniert.

Nach ihrer Rückkehr von dem Genuss-Tripp sagten beide unisono: Das Amor-Mobil war die beste Investition seit Langem. Sie haben die Wiederbelebung ihrer partnerschaftlichen Sexualität mit allen Sinnen gefeiert und genießen können. Und sie sind wild entschlossen, dass daraus ein regelmäßiges Ritual wird, egal ob im Amor-Mobil oder woanders.

Auf meine Frage nach den vier wichtigsten Genuss-Faktoren in ihrer partnerschaftlichen Sexualität nannten Carmen und Gregor übereinstimmend spontan:

das Wechselspiel zwischen absolut
positiver Anspannung und totaler Entspannung

das Ausschalten jeglicher
kontrollierender Kopf-Steuerung

das hingebungsvolle Bad in einem
Meer von tragenden und
mitreißenden Gefühlswellen

das Erspüren, Wahrnehmen und
Zulassen von allem, was dem
Körper und der Seele guttut.


 

Dagmar Cassiers
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Diplom-Pädagogin, CAI®-Online-Coach, Coach on demand

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Fotos: ©Robert Kneschke, ©Click98