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Versöhnung wünschen, lernen und leben


„Schmähe die Sünde, aber mit dem Sünder söhne dich aus.“

Leo Tolstoi

Es war am Ende einer langen Therapiesitzung. Mutter und Tochter reichten sich die Hände. Und zwar zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit. Viele Jahre, ja, jahrzehntelang bestand die Beziehung der beiden in der Hauptsache aus Trotz, aus Wut, ja, auch aus Hass.

Nach einer jahrelangen inneren Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit hatte die Tochter erkannt, dass es ihr Hass auf die Mutter war, der sie innerlich zu vergiften drohte.

Ihr Ziel: Sie wollte sich endlich von den quälenden Gespenstern ihres bisherigen Lebens befreien.

Im Schutzraum der Therapie suchte sie nach langem Widerstand doch noch einmal die persönliche Begegnung mit ihrer Mutter. Die Mutter willigte ein und nahm an einer gemeinsamen Sitzung teil. Dabei erzählte sie von ihrer eigenen leidvollen Vergangenheit. Es kamen Dinge auf den Tisch, die auch die Tochter zum ersten Mal hörte. Im Laufe der Sitzung wich ihr Hass nach und nach einem – vielleicht noch etwas diffusen – Gefühl des Verstehens.

Ihr wurde klar, warum die Mutter nicht anders hatte reagieren können. Darüber hinaus verstand sie jetzt, warum es eine Katastrophe für die Mutter war, als der Kontakt abbrach. Es war deutlich zu spüren: Eine Mauer begann zu bröckeln.

Der Mutter war auf der anderen Seite nie klar gewesen, was sie ihrer Tochter angetan hatte. Erst jetzt und mit viel Mühe erkannte sie, warum ihre Tochter den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte. Die Mauer fiel in sich zusammen.

Am Ende einer schwierigen und für beide schmerzvollen Sitzung waren Tochter und Mutter bereit für den Schritt aufeinander zu. Die Tochter reichte der Mutter wortlos die Hand, die Mutter ergriff sie. Ein Händedruck der Mutter, ein Händedruck der Tochter.

Erkennen Sie sich wieder? Zumindest im ersten Teil? Ich brauche von Ihnen jetzt kein Handzeichen, aber ich möchte wetten, dass viele von uns schon ähnliche Probleme, gerade in der Verwandtschaft, hatten oder haben.

Mit so einem Händedruck bekunden wir die Bereitschaft zur Versöhnung. Es ist oft schwer zu ermessen, wie viel Menschen ertragen haben, bis in ihnen der Wunsch wächst, sich von einer übergroßen Last aus Angst, Groll, Rache und Hass zu befreien und die Hand zur Versöhnung auszustrecken. Diese Menschen zeigen uns einen Weg des Herzens.

Ihr Ziel: Sie wollen die Vergangenheit überwinden, in der Gegenwart leben und eine unbelastete Zukunft haben.

Versöhnung ist auch für mich ein persönliches Thema. Ich habe mit den wachsenden Jahresringen durch gelegentlich wiederauftauchende Konflikte erkannt, dass mir einige unversöhnt gebliebene, nahe Beziehungen mehr zu schaffen machten als mir lieb war. Der Aufbruch zur Versöhnung dauerte lange und der Weg war schmerzvoll. Heute kann ich sagen, dass es sich gelohnt hat, die Versöhnung mit mir selbst und mit diesen anderen Menschen zu suchen. Ich fühle mich ihnen heute in Mitgefühl und in Dankbarkeit verbunden.

In der Psychotherapie und damit im Leben begegnet uns die Notwendigkeit zur Versöhnung immer wieder. Ich denke tatsächlich, dass solcherart unversöhnte Beziehungen in der einen oder anderen Ausprägung zu den häufigsten Problemen überhaupt gehören.

Zunächst aber geht es immer um die Versöhnung mit sich selbst. Es geht darum, Frieden zu schließen mit den eigenen Stärken und Schwächen, Erwartungen und Ansprüchen. Erst im zweiten Schritt geht es um die Versöhnung mit Eltern und Geschwistern, Partnerinnen und Partnern (immer m/w/d), Kindern, Freunden, Arbeitskollegen usw. Ich weiß, dass bei den meisten Menschen der Versöhnungsbedarf riesig ist. Wenn daraus ein drängender Wunsch nach Versöhnung wird, kann die Arbeit beginnen.

1. Warum Versöhnung?

Der Wunsch nach Versöhnung folgt oft der Erkenntnis, dass unversöhnte Beziehungen das eigene Leben geradezu von innen her auffressen. Diese Einsicht ist uns leider nicht angeboren. Aber: Sie kann in der therapeutischen Arbeit erlernt werden. Dazu müssen die unguten Gefühle zunächst zugelassen werden. Ohne die Verarbeitung von Konflikt, Aggression, gar Hass kann es keine Versöhnung geben. Ein Mensch verarbeitet seine seelischen Konflikte am besten, wenn er Versöhnung anbieten kann. Er meistert damit seine naheliegenden und oft berechtigten Gefühle von Rache, Hass und Groll in einem aufwendigen, schmerzvollen innerseelischen Trauer- und Versöhnungsprozess mit sich selbst und mit anderen.

Meine These besagt, dass der Prozess, der zur Versöhnung führen kann (nicht muss),

a) ein Lernprozess ist und es
b) dazu einer bewussten Entscheidung bedarf.

Gleichzeitig ist dieser Prozess auch ein Geschenk. Wir können uns auf Versöhnung einstimmen und sie vorbereiten, aber einfordern können wir sie nicht. Und um das klarzustellen: Versöhnung kann auch in keinem Fall therapeutisch verordnet werden. Immerhin: Es kann dazu ermuntert, eingeladen und angeleitet werden.

Versöhnung ist wohl die schwerste und reifste Leistung des Menschen im Umgang mit inneren und äußeren Konflikten. Vielleicht kennen Sie diesen Spruch: Der Mensch ist des Menschen Wolf.

Gemeint ist, dass wir uns selbst oft unversöhnlich gegenüberstehen. Das wird analysiert und therapiert und das hat seine Wichtigkeit. In Psychoanalyse und Psychotherapie wird mehr an den Gründen für eine Abwehr gearbeitet als an den damit zusammenhängenden Wünschen. Ich denke aber, dass die Kraft des Heilens von liebenden und versöhnlichen Gefühlen ausgeht, vom Erkennen des damit verbundenen und aktivierten Potenzials und nicht vom gebannten Blick auf die Abwehr und das Leiden.

Die Versöhnung spielt eine entscheidende Rolle, damit Menschen frei für Gegenwart und Zukunft werden. Versöhnung muss kein Traum bleiben. Es ist der täglich neue Versuch, so friedlich wie möglich zusammenzuleben, allen tatsächlichen und vermeintlichen Schwierigkeiten zum Trotz.

2. Versöhnung wünschen

Ich möchte Ihnen ein weiteres Fallbeispiel aus meiner Arbeit schildern, mit dem Versöhnungsbereitschaft meines Erachtens auf den Punkt gebracht wird. Wir lernen dabei, dass Versöhnung ein Freiwerden bedeutet für das, was einem Menschen wirklich wichtig ist.

Die vierzigjährige Marion suchte mich in meiner Praxis auf. Sie erzählte mir, dass auf einer Party irgendjemand ihrem Sohn, ohne dass er es wusste, harte Drogen in sein Getränk gemischt hatte. Was genau passiert war, wusste angeblich niemand. Aber ein Freund des Sohnes erzählte ihr, dass es wohl von einem der Anwesenden als schlechter Scherz gedacht war. Der allerdings entwickelte sich zu einem furchtbaren Drama. Der Junge hatte einen angeborenen Herzfehler und die Drogen führten zu einem Zusammenbruch.

Er kam ins Krankenhaus, fiel ins Koma und starb einige Tage später.

Einige Zeit danach kam der Freund ihres Sohnes zu Marion, beichtete ihr, dass er die Drogen verabreicht hatte, und bat sie um Vergebung. Dazu war sie nicht in der Lage. Ganz im Gegenteil: Unter Tränen und Verwünschungen schmiss sie den jungen Mann aus ihrer Wohnung.

Immerhin stellte sie sich ihren eigenen Gefühlen. In ihrem Tagebuch schrieb sie nieder, welche Emotionen sie zu dieser Zeit beherrschten: die Trauer um den verlorenen Sohn und der Hass auf dessen Freund.

Sie führte viele lange (imaginäre) Gespräche mit ihrem Sohn, die sie ebenfalls eintrug. Das Schreiben brachte ihr zunächst Erleichterung. Die innere Auseinandersetzung mit dem Thema wurde immer intensiver. Der Hass auf den jungen Mann wurde schließlich stärker als die Trauer um den Sohn. Aber sie erkannte, dass sie sich von diesem Hass nur befreien konnte, wenn sie bereit war, sich mit dem jungen Mann auseinanderzusetzen.

Dies ergab sich von selbst: Er kam noch einmal zu ihr. Auch er hatte vergeblich versucht, mit seinen Schuldgefühlen fertigzuwerden. Da standen sie sich dann gegen- über: die Mutter, die den Tod ihres Sohnes verarbeiten wollte, aber im Hass gefangen war. Und der junge Mann, der unsäglich unter seiner Schuld litt und Vergebung suchte. Unsere Gespräche und die Arbeit, die sie selbst in die Bewältigung ihrer Gefühle gesteckt hatte, zahlten sich aus. Auch war sie jetzt in der Lage, sich in die Situation des verzweifelten jungen Mannes hineinzuversetzen. Sie verzieh ihm.

Erst jetzt konnte sie sich ganz ihrer Trauer hingeben. Tatsächlich fand sie sogar einen neuen Sinn in ihrem Leben, als sie selbst eine Trauergruppe gründete. Der Umgang mit Versöhnung und Trauer wurde zu ihrem Lebensinhalt.

Ich war tief beeindruckt, wie Marion ihren eigenen Weg zur Versöhnung gefunden hatte. Sie hatte intuitiv gespürt, dass der stetig keimende Hass und die Rachegefühle ihr nicht nur schadeten, sondern ihr sogar die Trauer um den Sohn unmöglich machten.

Auch im ersten Beispiel hatte die Tochter ihrer Mutter die Hand entgegengestreckt. Die Mutter ergriff sie. Beide waren an einem Punkt angelangt, an dem sie sich von einer leidvollen Vergangenheit lösen wollten und mussten – um frei zu sein für das eigene Leben in der Gegenwart.

Der Psychologe Ekkehard Kleiter hat die Bedingungen und Zusammenhänge von Konflikt und Versöhnung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen untersucht. Seine Ergebnisse zeigen, dass Versöhnungsbereitschaft mit den persönlichen Werten und Normen und letztlich mit einem Entscheid zusammenhängt. Der Grad der Versöhnungsbereitschaft erhöht sich mit steigender Bildung, zunehmendem Alter, mit guter sozialer Kompetenz und mit Selbstbewusstsein. Übrigens: Frauen zeigten in der Studie eine höhere Versöhnungsbereitschaft als Männer.

Trotzdem bleibt die Frage: Wie schaffen wir es nur? Was ließ einen Nelson Mandela seinen Unterdrückern – unter denen er und sein Volk so lange und so extrem gelitten haben – die Hand reichen und Versöhnung anbieten? Ich zitiere Mandela:

„Der Mensch, der einem anderen die Freiheit raubt, ist ein Gefangener seines Hasses, er ist eingesperrt hinter den Gittern von Vorurteil und Engstirnigkeit. Ich bin nicht wahrhaft frei, wenn ich einem anderen die Freiheit nehme, genauso wenig wie ich frei bin, wenn mir meine Freiheit genommen ist. Der Unterdrückte und der Unterdrücker sind gleichermaßen ihrer Menschlichkeit beraubt. Als ich das Gefängnis nach 27 Jahren verließ, war es meine Aufgabe, beide, den Unterdrücker und den Unterdrückten, zu befreien. Um frei zu sein, genügt es nicht, die Ketten abzuwerfen, sondern man muss so leben, dass man die Freiheit des anderen respektiert und fördert.“

Das Erkennen der engen Verbindung zwischen unversöhnten Menschen, zwischen Tätern und Opfern, und die Einsicht in die Notwendigkeit, dass sich beide Seiten zu befreien haben: Das lernen wir am Beispiel.

Es sind nicht nur so außergewöhnliche Menschen wie Mandela, in deren Nähe wir eine Versöhnungskraft, Wärme und Güte spüren, die uns selbst verwandelt. Es gibt solche Menschen auch in unserem Umfeld. Sie haben menschliche Größe, eine versöhnliche Lebenshaltung, die Zeichen setzt.

Kürzlich hat mir eine Frau in der Therapie erzählt, dass sie ihre Geschwister, mit denen sie sich vor langer Zeit entzweit hatte, wieder treffen wolle. Sie wisse aber nicht, in welcher Haltung sie ihnen begegnen solle. Spontan sagte ich: So wie Mandela nach seinen 27 Gefängnisjahren seinen Unterdrückern entgegentrat. Sie hat mich verstanden.

3. Versöhnung lernen

Erinnern wir uns an die Tochter im ersten Beispiel und geben wir ihr einen Namen: Barbara. Barbara hat einmal zu Beginn der Therapie Folgendes gesagt: „Wie habe ich doch meine strenge, ja unerbittliche und harte Mutter immer gehasst; seit meiner Kindheit. Und schließlich habe ich die ganze Welt gehasst und natürlich auch mich selbst. Doch das ist kein Leben. Ich werde innerlich aufgefressen. Ich habe eine große Sehnsucht, mit mir selbst Frieden zu schließen. Vielleicht werde ich eines Tages auch meiner Mutter vergeben und mich mit ihr versöhnen können. Sie ist selbst beschädigt. Sie tat, was sie konnte, und es war nicht gut. Aber um meiner selbst willen möchte ich das akzeptieren und auch ihr Frieden wünschen.“

Barbara hat erkannt, dass sie zuerst mit sich selbst Frieden schließen, sich mit sich selbst versöhnen will. Sie hat gemerkt, dass das Festhalten an dem Schlimmen, das ihr geschehen ist, und das Festhalten am Hass ihr Leben auffressen und sie endlos zum Opfer ihrer Mutter machen. Kurz: Barbara wollte nicht länger die negativen Energien der Mutter in sich tragen, sie wollte sich davon befreien.

Die Psychologin Erika Chopich hat es in ihrem Buch „Aussöhnung mit dem inneren Kind“ so ausgedrückt: „Wenn wir nicht Frieden schließen mit uns selbst, verharren wir ein Leben lang in der Situation des inneren verletzten Kindes. Das lässt uns erstarren und bringt uns nicht weiter. Liebe kann man lernen.“

Barbara fühlte ihr inneres verletztes Kind. Zugleich war sie die erwachsene Frau, die mit ihm Frieden schließen wollte. Sie konnte mit dem inneren Kind Verbindung aufnehmen, mit ihm reden, es umarmen und trösten und ihm das geben, was es früher nicht erhalten hatte: Liebe und Verständnis. Und als Erwachsene konnte sie mit der Zeit um das trauern, was sie erlitten hatte. Noch mehr: Sie erkannte, dass auch ihre Mutter ein verletztes Kind in sich trug.

Es gibt verschiedene Wege, Versöhnung zu lernen. Am Anfang steht die Einsicht. Es braucht das langsame Wachsen einer Bereitschaft zur Versöhnung und den Wunsch, sich zu befreien. Das kann man mit sich allein tun, so wie es beispielsweise Marion getan hat mit ihrem Tagebuch-Dialog. Es kann natürlich auch im Rahmen einer Psychotherapie geschehen.

Ich bediene mich bei der Arbeit gerne der aus Japan kommenden Nai-kan-Methode. Nai-kan bedeutet übersetzt etwa „Innenschau“ oder „Beobachtung des Inneren“. Die Methode verbindet meditative und psychologische Aspekte und bietet einen vergleichsweise sanften Weg zur Versöhnung mit der Vergangenheit. Es geht dort um drei zentrale Fragen, die im Kontext unserer Kultur hochinteressant sind – weil sie ungewohnt sind.

Die Fragen richten den Blick auf das, was wir erhalten und gegeben haben, und nicht darauf, was andere uns schuldig blieben oder wo sie uns gekränkt und verletzt haben:

  1. Welche Unterstützung habe ich von anderen Menschen erhalten, um an meinen heutigen Ort im Leben zu gelangen?

  2. Was habe ich anderen Menschen an Unterstützung zukommen lassen in meinem bisherigen Leben?

  3. Welche Probleme und Schwierigkeiten habe ich anderen bereitet, um dahin zu gelangen, wo ich heute bin?

Beispiel

Inge war unzufrieden mit ihrem Leben. Es bot ihr einfach nicht das, was sie sich wünschte. Der Traummann war nicht in Sicht. Inge arbeitete als Violinlehrerin. Dabei hatte sie das Gefühl, sie würde den Schülern deutlich mehr geben, als sie von ihnen zurückbekam. Die schlechte Balance erzeugte ständige Frustration. Inge vertiefte sich dann monatelang in die drei Naikan-Fragen. Ihr wurde darüber klar, wie viel Unterstützung sie in ihrem Leben erfahren hatte, um zu einer gebildeten Frau und zu einer guten Musikerin zu werden. Dies beschämte sie.

Sie realisierte auch, dass sie ihren Weg ziemlich egozentrisch gegangen war und auch kaum andere Menschen förderte und unterstützte.

Im Gegenteil: Sie hatte es sich angewöhnt, ihre Klagen wie selbstverständlich bei ihren Freundinnen abzuladen. Ohne im Gegenzug auch ein Ohr für deren Probleme zu haben. Vielleicht waren es deshalb so wenig Freunde? Vielleicht hatte sie deshalb keinen Partner gefunden?

Mithilfe der drei Fragen erkannte sie nicht nur, wie sehr sie mit anderen Menschen verbunden, sondern auch, was sie ihnen bisher schuldig geblieben war. Sie suchte Wege, wie sie Anerkennung zurückgeben konnte. Sie lernte, die Unterstützung anderer wertzuschätzen und ihre eigenen Bedürfnisse, nun, man kann sagen: im Zaum zu halten.

Sie begann sich selbst neu anzuerkennen und zu lieben. Und was sie ganz neu zu lernen begann, war: dankbar zu sein.

Ich habe erwähnt, dass es verschiedene Wege gibt und dass jeder Mensch seinen eigenen finden muss. Es gibt jedoch Prioritäten: An erster Stelle steht die Versöhnung mit sich selbst; erst dann wird Versöhnung mit anderen möglich und glaubwürdig.

Zur Versöhnung gehören Einsicht in die Notwendigkeit zu friedvollen Beziehungen; gehört: vergeben können, sich selbst und anderen; gehören Mitgefühl und Dankbarkeit. Dankbarkeit und Versöhnung haben viel miteinander zu tun.

Dankbarkeit erwächst aus Achtsamkeit. Kurz: einfach mal innehalten, schauen. Wo bin ich? Wo kam ich her? Wo will ich noch hin? Auf diese einfache Art zu reflektieren, schafft Orientierung.

4. Versöhnlichkeit leben

Täglich gibt es ungezählte Momente, in denen wir dankbar sein könnten. Stattdessen nehmen wir vieles als selbstverständlich hin. Wer hat sich beim Briefträger schon einmal dafür bedankt, dass er die Post bringt? Sicher: Es ist sein Job und er wird dafür bezahlt. Aber wir werden seinen Tag wahrscheinlich ein gutes Stück reicher machen, erfüllter, wenn wir auch mal ein gutes Wort für ihn übrighaben.

Ich garantiere, wenn wir uns alle in diesem Sinne bemühen, dann kommen diese positiven Gesten und das damit verbundene Glücksgefühl schneller als wir denken zu uns zurück.

Dankbarkeit erweitert unsere Wahrnehmung. Wir nehmen achtsam wahr, was das Leben tatsächlich bietet, statt dass wir uns darauf beschränken, was wir von ihm erwarten. Die Dankbarkeit hat eine versöhnliche Wärme. Die Entwicklung von Wertschätzung und Mitgefühl für alle Menschen, die uns begegnen, ist ein wichtiger Schritt hin zur Versöhnung mit uns selbst. Warum? Weil diese positiven Gedanken nicht nur unser Gegenüber erreichen, sondern sich jedes Mal auch bei uns selbst einnisten. Wir werden fast wie von selbst aufhören, über andere zu schimpfen und uns über sie zu beklagen.

Mit der Einsicht in die Notwendigkeit der Versöhnung, mit einer soliden Konfliktkompetenz, Mitgefühl und Dankbarkeit sind wir gut gerüstet.

Versöhnung ist eine Sache der Einsicht und der Herzenskraft. Es geht dabei wesentlich ums Einlenken und Loslassen. Der Geist, die Sinne, das Herz und der Körper sind dabei angesprochen. Uns zu versöhnen, können wir jeden Tag ein bisschen lernen. Wir können unsere Versöhnungsmöglichkeiten wecken und daran wachsen.

Wir können zu Achtsamkeit und Mitgefühl meditieren, wir können dazu imaginieren, also innere Bilder erschaffen: zu Dankbarkeit, Glück und Mitgefühl. Oder zur Frage, wie schließe ich endlich Frieden mit mir selbst? Es gibt sehr schöne, hilfreiche Anleitungen dazu, wie wir unser Herz immer wieder öffnen können. Wir sind aber auch frei, uns Versöhnungsrituale auszudenken.

Ich möchte Ihnen jetzt eine Übung vorstellen, bei der es darum geht, im Ein- und Ausatmen Versöhnung mit sich selbst zu üben und zu vertiefen. Vielleicht können Sie es in einem ruhigen Augenblick selbst versuchen.

Die Übung beginnt mit langsamem Einatmen und mit noch langsamerem Ausatmen. Die Betonung auf der Ausatmung vertieft die Entspannung. Bei dieser Übung gehe ich durch mein ganzes bisheriges Leben: von der Geburt bis zum heutigen Tag. Beim langsamen Einatmen denke ich „meine Geburt“ und beim noch langsameren Ausatmen sage ich aus ganzem Herzen „Ja“ dazu. Dann folgt das erste Lebensjahr: beim Einatmen denke ich „mein erstes Lebensjahr“ und beim Ausatmen sage ich aus ganzem Herzen „Ja“.

Dann kommen das zweite, dritte Lebensjahr usw. bis zum heutigen Jahr und Tag. Ja, zugegeben: Wenn wir schon älter sind, dauert die Übung eine gewisse Zeit. Vielleicht fällt es uns am Anfang nicht so leicht „Ja“ zu sagen. Aber das Herz sagt immer Ja. Trotzdem: Aus dem Herzen heraus zu leben, braucht seine Zeit und ist eine große Herausforderung. Wir müssen dafür unsere ganze Freundlichkeit und Nachsicht einsetzen. Manchmal tut es weh und es erscheint einfacher, das Herz zu verschließen. Keine Sorge: Sie können es immer wieder öffnen.

Die Übung lässt sich variieren: etwa, indem wir bestimmte Personen und Situationen in unser Einatmen einbeziehen und im Ausatmen aus ganzem Herzen bejahen.

Ich möchte Sie dazu einladen, eigene Atemübungen, Meditationen und Imaginationen zu erfinden und auszuprobieren, die eine versöhnliche Grundhaltung fördern. Versöhnlichkeit hat mit allen unseren Sinnen zu tun, auch mit dem sechsten Sinn, der oft als das „Dritte Auge“ bezeichnet wird. Es geht um den ganzen Menschen.

Versöhnlichkeit ist eine immer wieder zu leistende innere Haltung sich selbst, anderen Menschen und dem Leben gegenüber. Sie setzt die kontinuierliche Versöhnung mit jenen Personen voraus, die uns seit je, ob willentlich oder nicht, Unrecht, Schmach und Schmerz zugefügt haben: Eltern, Geschwister, Partner, Freunde oder die „bösen Nachbarn“.

Versöhnlichkeit ist kein Erleuchtungszustand, sondern eine lebenslange Ausrichtung auf Achtsamkeit und auf Mitgefühl für sich selbst und andere. Versöhnung ist das Ergebnis einer Besinnung. Letztlich ist es die Entscheidung, sich den nackten Tatsachen des Lebens zu stellen, nicht auszuweichen, nicht zu verdrängen, nicht zu projizieren, sondern sich ehrlich und offen zu stellen.

Je mehr wir auch unsere destruktiven Emotionen zulassen und wieder loslassen, desto weniger Macht haben sie über uns. Es ist nicht so, dass wir unsere Gefühle unterdrücken müssen.

Werden wir zornig, haben wir die Wahl: Wir können unseren Zorn in Schimpfen und Toben ausagieren und auf ihm sitzen bleiben. Wir können unsere destruktiven Emotionen aber auch langsam und sachte (und möglichst neutral/objektiv) wahrnehmen und so in einen Dialog mit unserer Einsicht oder unserer inneren Weisheit treten.

Es hilft, sich bestimmt und klar gegen die eigene Destruktivität auszusprechen und ihr keinen Platz zu geben. Das ist bereits die hohe Schule der Versöhnlichkeit. Loslassen können ist wichtig und die Trauer spielt dabei eine entscheidende Rolle. Ein schönes Beispiel findet sich übrigens im Gebrüder-Grimm-Märchen „Ein-, Zwei- und Drei-äuglein“.

Versöhnlichkeit steht für eine Einsicht in das eigene und in das Leiden der anderen. Sie steht auch für den Sieg des Geistes (oder der Vernunft) über die Kraft der Emotionen. Wenn der Geist frei wird, ist er hell und klar. Der Mensch entwickelt Mitgefühl und eine geschärfte Wahrnehmung für Leiden und Unrecht.

Die Kraft der Versöhnung liegt im Erleben von Momenten, in denen ein Mensch sich selbst und die Verbundenheit mit anderen in Dankbarkeit spürt und lebt. Ich bin mir sicher: Das sind Glücksmomente, die auch in schweren Lebenssituationen möglich sind.

Wie sagte Gandhi: „Be the change that you want to see in the world – sei du selbst der Wandel, den du in der Welt sehen möchtest.“

 

 

Diana Badenius
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Lebens- und Sozialberaterin in eigener Praxis, Autorin

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