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Erinnern – Wahrheit oder Nützlichkeit?

Diesen Einwurf kennen auch Sie: "Moment mal, als du mir das erzählt hast, war da aber noch …" Oder: "Mir hast du das aber so erzählt, als sei für dich fast eine Welt zusammengebrochen. Und jetzt scheinst du fast schon froh zu sein, dass …"

Worauf diese Einwände verweisen, ist nicht eben brandneu. Aber es ist brisant. Der Mensch ist ein Geschichten erzählendes Wesen, und im Erzählen verändert er die Geschichten. Zwei Thesen, die zwei Fragen im Gefolge haben. Die erste: Was ist nicht eben brandneu? Die zweite: Warum ist es trotzdem brisant – und für wen?

"ERINNERUNG" UND "ERINNERN" ALS AKTUELLES THEMA

Zurzeit genießt, auch und gerade in psychologischer und psychotherapeutischer Literatur, das Thema "Erinnerung" eine bemerkenswerte Renaissance. Diese Wiederbelebung und Aktualität verdanken wir vor allem sowohl neurologischer als auch (experimenteller, klinischer und historisch arbeitender) psychologischer Forschung. Beide Forschungsund Therapie-Richtungen, die naturwissenschaftliche und daher materiell ausgerichtete und die geistes-, sozialwissenschaftliche und daher "spekulative", konvergieren in einer Überzeugung, die in dem Ausdruck kulminiert: "Erinnerungen sind Neu-Schaffungen".

Meine These lautet: Nehmen wir dieses Datum ernst, verlangt das Umgehen mit Erinnerungen eine gründliche Revision. Das betrifft vorzugsweise alle Personen, die (im weiteren wie im engen Sinn) psychotherapeutisch tätig sind. Aufgrund ihres Ethos` sind sie aufgerufen, das Arbeiten mit erinnerten Inhalten angesichts nun auch empirisch- materiell vorliegender Erkenntnisse neu zu reflektieren und in der Folge neu zu handhaben. Das beantwortet die Frage, für wen das Thema brisant ist.

ERINNERN ALS NEU-SCHAFFEN – EINE "ALTE" IDEE MIT NEUER BRISANZ

Die Definition dessen, was Erinnern ist, hat im Verlauf der Jahrhunderte manchen Wandel durchlaufen. Ohne die historischen Etappen hier nachzuzeichnen, sei darauf verwiesen, dass sich eine mittelalterliche Vorstellung bis ins 20. Jahrhundert erhalten hat, nämlich die, dass wir im Akt des Erinnerns Gedächtnisinhalte reproduzieren, also authentisch, als Kopie des Urbildes, ins Bewusstsein rufen. Diese Annahme ist inzwischen obsolet.

Der heutige Erkenntnisstand korrigiert diese Auffassung nach konstruktivistischer Manier: Wir konstruieren, wir schaffen das, was wir erinnern, in jedem Akt des Erinnerns neu. Diese Erkenntnis gilt heute als Faktum, flankiert durch Theorie wie durch Empirie. Zwar ist hier nicht der Ort, um wissenschaftsgeschichtlich exakt nachzuzeichnen, welche Einflüsse zu was geführt haben. Einige entscheidende Daten möchte ich allerdings nennen, weil sie zeigen, dass die Idee vom Erinnern als Konstruieren bereits älteren Datums und ihre Wiederbelebung begründungsbedürftig ist.

Historisch haben wir der philosophischen Disziplin der Erkenntnistheorie viel zu verdanken. Sie beschäftigt sich mit Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens und damit auch mit der Frage nach dem, was wir erinnernd erkennen können. Diese geisteswissenschaftliche Disziplin erhielt neuen Schwung in den 80er Jahren, als sich (besonders populär) die Soziologen aufmachten, im Zuge von New Age die Erkenntnisse von Physikern, Biologen und Chemikern epistemologisch zu verarbeiten. (Namen in diesem Kontext: F. Capra, G. Bateson, F. Vester, H. Haken.) Fazit dieser und anderer Entwicklungen war die Geburt des Konstruktivismus als Bewegung innerhalb der Wissenschaftswelt. Die konstruktivistische Idee galt nun nicht mehr (wie noch in den 60er Jahren) der "sozialen Konstruktion von Wirklichkeit" (Berger/Luckmann), sondern auch der individuellen. In den 90er Jahren griff eine sozialpsychologische Richtung den Diskurs auf und bettete ihn ein in das Narrative: Der Mensch lebt durch das Sinn stiftende Erzählen; er ist das Geschichten erzählende und diese konstruierende Wesen. Und das musste auch das Interesse psychologischer Disziplinen wecken. Insofern, können wir sagen, ist die Erkenntnis alt.

Einen neuen, aktuellen Schub erhielt diese Erkenntnisrichtung und die mit ihr verwobene Frage nach dem Gehalt und den Metamorphosen von Erinnerungen im Rahmen neurowissenschaftlicher Forschung. Mit ihr verlassen wir den Pfad empirisch-spekulativer Diskussion und Arbeit und beschreiten den empirisch-materiellen. Der Durchbruch zum "Beweis", dass Erinnern Neu-Schaffen ist, kam vor allem mit dem technischen Fortschritt. Neue Messinstrumente ermöglichen neue Messungen und Erkenntnisse chemischer, physikalischer, biologischer und physiologischer Reaktionen, neue Bild gebende Verfahren ermöglichen Bilder, also Visualisierungen von gehirninternen Abläufen. (Die heikle Frage nach der Interpretiernotwendigkeit und der Mehrdeutigkeit lassen wir momentan beiseite, weil sie an der Argumentation nichts ändert.)

Die Brisanz erklärt sich also nicht aus dem, was wir annahmen und wussten, sondern aus dem, wie wir es "belegen" können. Zumindest hat diese Erklärung eine gewisse Plausibilität, da erst im Gefolge der empirisch- materiellen Beweislage Forschung und Literatur zum Thema Erinnerung sprießt wie Rasen nach einem warmen Regen. (Zugegebenermaßen leistet die Trauma-Forschung, durchaus im Verbund mit neurowissenschaftlicher Forschung, einen weiteren entscheidenden Beitrag zur Aktualität des Themas!)

ERINNERUNG: WAHRHEIT ODER UNWAHRHEIT? ORIGINAL ODER PHANTASIE?

Nun, werden Sie vielleicht ausrufen: "Das ist ja alles ganz interessant, nur: was folgt daraus?” Ich erlaube mir, den Fokus auf psychotherapeutische Arbeit zu legen und antworte: Daraus folgt, dass wir uns in der Arbeit mit Klienten oder Patienten entscheiden müssen. Wollen wir mit Erinnerungen "Wahrheit" (als getreue Reproduktion des Originals) oder "pragmatische Funktionalität" (nützliche Deformierung) verknüpfen? Kommt es uns darauf an, mit Klienten zu klären, was "wirklich der Fall war" oder "was aktuell hilft"? Wollen wir, mit anderen Worten, in der maßgeblich tiefenpsychologischen Tradition (dazu zähle ich auch metaphysische oder esoterische Zweige wie beispielsweise Reinkarnation) retrospektiv suchen, was "wirklich war" und von dort aus wie auch immer besetzte Lehren für das Hier und Jetzt ziehen? Wir, die Therapeuten, und wir, die Klienten, riskieren viel dabei – denn die Gedächtnisfallen oder, nach Daniel Schacter, die "Gedächtnissünden" fallen hier besonders ins Gewicht! Oder wollen wir in der Tradition konstruktivistischen und funktionalistischen, ich wage zu formulieren: humanistischen Denkens in der Gegenwart verweilen und – analytisch wie pragmatisch– nach den Funktionen, den Sinnaspekten, den verhindernden und den hilfreichen Seiten fragen dessen, was erinnert wird. (Das NLP etwa, das Neuro- Linguistische Programmieren als moderner Therapieform beschreitet diesen Frage-Weg. Auch hier gilt: Momentan interessiert uns der umstrittene Aspekt nicht.)

ERINNERUNG ALS UNZUVERLÄSSIGER UND GERADE DESHALB HILFREICHER EINWOHNER

Mein Plädoyer ist evident und in seiner Parteilichkeit provozierend. Als Heuristik, als Weg, um ausgetretene Pfade zu verlassen, braucht es das Extrem. Also: Nehmen wir die Unzuverlässigkeit in Bezug auf die Wahrheit ernst – und greifen wir zu den Freiheitsgraden, die Erinnern als Neu-Schaffen in der therapeutischen Arbeit bietet!

Erinnerung, besagt die These, ist ein unzuverlässiger Einwohner unseres Hauses der Persönlichkeit. Inwiefern?

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Es beginnt bereits im Prozess der Erinnerungsbildung, also im Vorgang dessen, was wir als Gedächtnisinhalte speichern und als abrufbare Inhalte wahrscheinlich machen. Psychologische und neurowissenschaftliche Erkenntnisse konvergieren in folgenden Punkten, die an dieser Stelle nur stichwortartig, sozusagen zur Erinnerung, genannt seien. Unsere Einspeicherung unterliegt den (etwa in der Gestalttheorie und –psychologie analysierten) Gesetzmäßigkeiten, die vor allem auf die Selektivität unser "Wahr- Nehmung" hinweisen und herausstellen, dass wir im erinnernden Erzählen Aspekte weglassen, verformen, neu hinzunehmen. Unsere Einspeicherung verläuft ferner in der Zeit. Sie ist ein zeitabhängiger Prozess (Ultra-, Kurzzeit-, Langzeitgedächtnis); sodann ist sie ein inhaltlich differenziert arbeitender Prozess (episodisches oder autobiographisches, semantisches oder Wissens-, kognitives und prozedurales sowie implizites und explizites Gedächtnis als Grobeinteilung).

Daniel Schacter hat auf einige wesentliche Aspekte der Kontextualität, Situativität und Indexikalität von Gedächtnisbildung und damit Erinnerbarkeit hingewiesen. Seine "sieben Sünden des Gedächtnisses" umfassen: Gedächtnisverlust oder –schwund verweist auf die Flüchtigkeit von erinnerbaren Inhalten; Geistesabwesenheit thematisiert Unaufmerksamkeiten oder geteilte Aufmerksamkeit in der je aktuellen Situation; die Blockierung thematisiert vorübergehende Nichtabrufbarkeit; fehlerhafte Zuordnung lenkt den Blick auf Irrtümer bezüglich der Quelle einer Erinnerung; Beeinflussbarkeit sensibilisiert für den Umstand, dass wir etwas in einer Weise erinnern, die so nicht geschehen ist – bis hin zum Phänomen der false memory, nach der wir etwas erinnern, das nicht statt gefunden hat (momentan viel diskutiert); Vorurteile bezeichnen Voreingenommenheit und Prägungen, die aus unserem Bestreben, uns an Lebensumstände anzupassen, resultieren; Hartnäckigkeit eines Erinnerungsinhaltes zeigt auf, dass uns diese Erinnerungsinhalte nicht loslassen und sie deshalb besonderes Gewicht erhalten.

Wir haben, das demonstriert dieser grobe Überblick bereits, trifftige Gründe, um bereits die Erinnerungsbildung skeptisch zu betrachten. Folgerichtig wirkt sich dies auf das Abrufen von Erinnerungsinhalten aus. Denn dort wirken die gleichen Prozesse, verstärkt um psychologisch relevante Variable, die der augenblicklichen Lebenssituation, der Gestimmtheit und dem Wohlgefühl, und damit dem Selbstwertgefühl und dem Gefühl wie Bewusstsein der eigenen Identität entspringen. (Nähmen wir die erst beginnende Forschung um die Gliazellen dazu, erweiterte und komplizierte sich die Diskussion, da wir dann den unbewussten Anteil stärker beleuchten und besprechen müssten. Eine Anknüpfung an psychologische Theorien böte beispielsweise Carl Gustav Jung mit seiner Annahme eines kollektiv Unbewussten, das in das individuelle Leben hineinragt. Da diese unterlassen wir es, sie unserer Argumentation zu integrieren.)

Betrachten wir also Erinnerung als unzuverlässigen Einwohner, so ist er doch zugleich ein hilfreicher. Das ist der zweite Teil der These. Inwiefern?

Unzuverlässigkeit schließt semantisch Bewegung, sprunghafte, überraschende, erwartete oder unerwartete, ein. Wo Bewegung ist, ist Veränderung. Wir haben kursorisch gesehen, dass Erinnern Veränderungen unterliegt. Worum es also geht, ist: diese Veränderung bewusst zu machen und die ihr innewohnende Chance zu nutzen. Die Chance nämlich, die Veränderung erinnerter Gehalte so zu steuern und zu formen, dass sie dem Betroffenen hilft. Neben der bewussten Steuerung geht es folglich auch um Umdeutungen. Gerade im psychotherapeutischen Prozess. Dieser Freiheitsgrad eröffnet Handlungsspielraum und kann kaum missbraucht werden. Denn das bewusst gemachte und neu interpretierte Erinnern von Inhalten muss, um hilfreich zu sein, stets individuell plausibel sein. Die letzte Beurteilungsinstanz ist der Betroffene, der Klient.

PRAKTISCHE FOLGEN FÜR DEN THERAPEUTISCHEN PROZESS

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Um die Implikationen für die unmittelbare psychotherapeutische Intervention zu verdeutlichen: Mit dem Akzent des Erkenntnisund Helfens-Prozesses auf Funktionalität und Utilität verlagert sich zum einen der Modus des Fragens, zum anderen die Verantwortung für Inhalte vom Therapeuten zum Klienten. Der Modus des Fragens rückt die Sinnhaftigkeit von Erinnerungen in den Vordergrund. Ähnlich wie wir es aus dem psychosomatischen Prozess kennen und dort von dem sekundären Krankheitsgewinn sprechen, führen wir die Frage: "An was erinnern Sie sich bezüglich…" weiter, indem wir in der Logik der Bedeutung und des Sinnhaften etwa fragen: "Welchen Sinn transportiert diese Erinnerung für Sie? Was macht diese Erinnerung in Ihrer augenblicklichen Lebenssituation wertvoll?" (Und damit sind sowohl erfreuliche wie belastende Werte gemeint!) Und weiter: "Woran hindert Sie die Erinnerung?" Und sodann: "Wie müsste die Erinnerung aussehen, sich anfühlen, um Ihnen zu helfen, gewünschte Veränderungen in Gang zu setzen?" In der gleichen Logik werden die Wünsche oder Ziele befragt. Den eigentlich helfenden oder gar heilenden Teil der Intervention aktivieren Therapeuten, indem sie mit dem Klienten ausloten, in welcher Perspektive das Erinnerte auch noch betrachtet werden kann. Das geht über den bekannten Perspektivenwechsel insofern hinaus, als nicht nur das "role-taking" probiert wird. Vielmehr können Therapeut (als Katalysator und Inspirator) und Klient sich einige der oben genannten Einflüsse der Erinnerungsbildung zu Nutze machen.

Um ein Beispiel zu nennen, mit dem ich selbst nachhaltige Erfolge erziele: Stimmungen haben nachweislich einen enormen Einfluss darauf, was wir speichern und was wir (wie) abrufen – und was das Abgerufene, die Erinnerung, in und mit uns tut. Experimentieren Sie mit dem Klienten, indem Sie ihn eine Erinnerung in einer, sagen wir, eher schwermütigen Gestimmtheit erzählen oder darstellen lassen. Etwas später dann soll er sich in eine freudige Stimmung versetzen und die gleiche (!) Erinnerung noch einmal erzählen. Sie werden erstaunt sein, welche Auswirkungen die mentale und/oder emotionale Ausgangslage auf das Was und das Wie der Erinnerung hat. Die unmittelbare Erfahrung, das persönliche Erleben der Wandlung beeindruckt und öffnet für ein weiteres gemeinsames Arbeiten, das neue Sichtweisen und Gefühlslagen probiert und damit Spielräume im Fühlen, Denken, Handeln offenbart, von denen (zumindest) der Klient nicht wusste, dass er über sie verfügt. – Selbstverständlich ist mit dieser "Entdeckung" der therapeutische Prozess nicht abgeschlossen. Das Beispiel soll lediglich illustrieren, inwiefern wir Prozesslogiken der Erinnerungsbildung therapeutisch nutzen können und in der Unzuverlässigkeit der Erinnerung einen Assistenten für Helfen und Heilen finden.

EIN APPELL

Neurologische und neuropsychologische Forschungsergebnisse werfen neben der gestellten Frage weitere auf, die nicht nur erkenntnisrelevant sind, sondern auch für die psychotherapeutische Tätigkeit bedeutsame Implikationen haben. Es kommt zunehmend darauf an, sich interdisziplinär auszurichten und zu verfolgen, was in für die eigene Profession bedeutsamen Nachbargebieten geschieht.

Meine Überzeugung ist, dass alle, die psychotherapeutisch oder, allgemeiner, auf geistig-seelischer Ebene mit Klienten arbeiten, ethisch begründet dazu verpflichtet sind, sorgfältig und verantwortungsvoll abzuwägen, welche Überlegungen, Kenntnisse wie Hypothesen, in das eigene Tun einzuspeisen sind.

Meine Hoffnung ist, dass diese Ausführungen von Ihnen als (wenn auch provokative) Einladung genau dazu verstanden werden.

"Moment mal, als du mir das erzählt hast, war da aber noch …" Oder: "Mir hast du das aber so erzählt, als sei für dich fast eine Welt zusammengebrochen. Und jetzt scheinst du fast schon froh zu sein, dass …" Die Antwort könnte lauten: "Ja, das stimmt wohl. Aber so gefällt sie mir jetzt besser."



Dr. Regina Mahlmann
Dipl.-Soziologin, Psychologische Beraterin, Trainerin, Coach in Unternehmen
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