Psychotherapie jenseits der Klischees
Gesund ist, wer noch krank werden kann. Nach Walther H. Lechler
In meinem Kurzreferat beschäftige ich mich mit dem Negativimage, dem psychosomatische Rehapatienten ausgeliefert sind, und mit Möglichkeiten für eine Psychosomatische Klinik, seinen ungünstigen Auswirkungen im Dienste ihrer Patienten zu begegnen. Es handelt sich um ein doppeltes Klischee, das sich aus den beiden Anfängen der Wörter "psychosomatisch" und "Rehapatient", also aus "psycho" und ,"Reha", ergibt.
KLISCHEE NR. 1
Das Negativimage, das dem griechischen Wortstamm "psycho" von "Psyche", die Seele, bis heute anhaftet, kann man auch heute noch ohne Weiteres mit den uralten laienhaften Vorstellungen von "Irrenhaus", "Gummizelle", "Zwangsjacke", dem Genre der Irrenwitze und so weiter charakterisieren – bis hin zu der Assoziation von der Erinnerung an den barbarischen Massenmord von angeblich "lebensunwerten" Geisteskranken im Dritten Reich, welcher von nationalsozialistischen Psychiatern vorgedacht und federführend eingeleitet worden war. Sicherlich wird nicht jeder, der diesem Klischee anhängt, mit seinen unbewussten Assoziationen so weit gehen. Jedoch wird andererseits jeder vom Klischee Betroffene mit seinen phantasierten Befürchtungen bis zu solchen aus dem Unbewussten auftauchenden inneren Bildern gehen. Daher wird diese schlimme Geschichte meines Fachgebietes trotz aller bisher erreichten Humanisierung und Modernisierung uns hier Tätigen und unsere Patienten zweifellos noch generationenlang belasten – und zwar vorwiegend in Form von solchen abwertenden Klischees.
KLISCHEE NR. 2
Das Negativimage, das dem Kunstwort "Reha", Abkürzung für "Rehabilitation", schon immer und in letzter Zeit immer mehr anhaftet, wird in dem böse treffenden Spruch "Morgens Fango, abends Tango" deutlich, es meint also das "Schmarotzertum" an der Solidargemeinschaft, am Arbeitgeber, am Kollegium und der eigenen Familie.
AUSWIRKUNGEN
Ich möchte Ihnen als nächstes darstellen, wie diese beiden bösen klischeehaften Assoziationen, also "psycho" ist gleich "der spinnt" oder pointierter charakterisiert: "unwertes Leben" und "Reha" ist gleich "Schmarotzertum", wie also diese beiden bösen klischeehaften Assoziationen für mich als einen seit zusammengerechnet fünfzehn Jahren in Psychosomatischen Rehakliniken tätigen Arzt immer wieder erfahrbar werden.
Zunächst also das Klischee "unwertes Leben": Vor allem Menschen aus eher konservativ denkendem Milieu haben die Sorge, als Patienten einer Psychosomatischen Klinik mit diesem Negativimage behaftet zu sein. Unsere Patienten äußern diese Problematik so gut wie nie direkt, sie kommt jedoch umso deutlicher in Anekdoten zutage, die sie uns nicht selten erzählen. Diese Anekdoten folgen einem recht gleichförmigen Schema, sie werden alle etwa so erzählt:
Die Patientin oder der Patient begegnet außerhalb der Klinik einem Einwohner des Ortes, in welchem sich die Psychosomatische Klinik befindet – zum Beispiel sie oder er will etwas in einem Geschäft kaufen. Man ist sich sympathisch und kommt in einen freundlichen Gesprächsaustausch. Irgendwann ergibt es sich im Gespräch, dass die Kundin oder der Kunde preisgibt, dass sie oder er zurzeit in der Psychosomatischen Klinik behandelt wird. Die Reaktion des einheimischen Gegenübers ist jetzt von der Art, dass die Begebenheit zu einer erzählenswerten Anekdote wird:
"Das hätte ich aber nie gedacht, dass Sie zu diesen Menschen dazugehören."
Ich glaube sagen zu können, dass ich Geschichten nach diesem Schema von einzelnen meiner Patienten zwei- bis dreimal im Jahr erzählt bekomme. Man kann sie sicher ohne Weiteres so deuten, dass der Patient so etwas sagen will, wie:
"Hier drinnen, lieber Psychodoktor, gehöre ich zwar zu deinen Patienten, mithin zu den von dem Negativklischee Belasteten. Gleich draußen vor der Klinik bin ich aber schon wieder ein Normaler."
Ich möchte noch eine andere kleine Begebenheit berichten, die wie die Spitze eines Eisbergs aufzeigt, in welcher Spannung mit dem Negativklischee vom "unwerten Leben" einzelne Patienten einer Psychosomatischen Klinik leben:
Die Klinik Rastede, in der ich seit ihrer Eröffnung tätig bin, hat ein wundervolles Patientencafé, dessen Wände ganz aus Glas bestehen. Als ich einer Gruppe von Besuchern vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen die Klinik zeigen wollte, hing ein großes Schild in der Tür des Cafés:
"Bitte die Patienten nicht füttern."
Es war nur ein einzelner Patient, der dieses Schild angebracht hatte und andere haben es später – wie ich erfuhr – als unpassend kritisiert. Jedoch macht diese Begebenheit deutlich und nachfühlbar, wie sehr einzelne Patienten den Voyeurismus der Außenwelt fürchten, weil sie offensichtlich unter dem Druck des Klischees stehen, das ich hier mit der Assoziation vom "unwerten Leben" charakterisiert habe.
Als nächstes möchte ich eine kurze Begebenheit berichten, die die reale Existenz des anderen Klischees, also des "Schmarotzerlmage" von Rehapatienten kenntlich werden lässt.
Vor etwa drei Wochen, an einem sonnigen Abend, kam ich an der Klinikterrasse vorbei und fragte zwei dort sitzende Patientinnen, ob der Verwaltungsleiter vielleicht gerade hier vorbeigekommen sei. Statt einer Antwort erhielt ich die freundlich-patzige Auskunft, dass die beiden nach einem harten Therapietag wie diesem zu erschöpft seien, um noch nach Verwaltungsleitern Ausschau zu halten. Erst beim zweiten Hinschauen wurde mir klar, worauf diese zunächst schräge Kommunikation zielen wollte: Die Sonne schien, die Terrasse mit ihren Gartenmöbeln und Sonnenschirmen hatte ein hotelähnliches Ambiente, die Damen trugen bunte Bermudashorts und Sonnenbrillen. Die eigentliche Botschaft dieser schräg-patzigen Mitteilung war also ungefähr so zu verstehen:
"Du, lieber Chefarzt, läufst hier also geschäftig durch die Klinik und suchst irgendwelche Leute. Wenn du uns hier mal ein bisschen gemütlich sitzen siehst, zumal wir obendrein auch noch körperlich sichtlich gesund sind, dann sollst du aber bitte bloß nicht denken, dass wir hier einen faulen Lenz schieben. Vielmehr hat uns deine Therapie heute den ganzen Tag mal wieder ganz schön geschlaucht."
Diese kurze Begebenheit zeigt für mich deutlich genug, wie intensiv einzelne unserer Patientinnen und Patienten sich mit dem Negativklischee von Rehapatienten im Sinne von ,,Schmarotzertum" auseinander setzen müssen.
Eine andere Gelegenheit, demselben Klischee zu begegnen, hat man immer wieder einmal bei Angehörigenbesuchen. Natürlich nicht immer, aber doch nicht selten, lässt ein Elternteil oder ein Ehepartner schon mal an passender oder besser unpassender Stelle eine Spitze gegen den eigenen Angehörigen los – oder besser gegen die anderen Patienten dieser Klinik. Und der Inhalt dieser Spitze ist mehr oder weniger verklausuliert, natürlich der bekannte Spruch: "Morgens Fango, abends Tango."
Meine Damen und Herren, es besteht kein Zweifel, dass solche Negativklischees den Verlauf und Erfolg einer psychosomatiscnen Rehabehandlung in Einzelfällen recht stark beeinträchtigen können, wenn sie nicht gar von vornherein verhindern, dass einzelne Behandlungsbedürftige sich überhaupt in die Klinik trauen.
WIE DEM DOPPELKLISCHEE BEGEGNET WIRD
Ich möchte Ihnen nun darstellen, wie wir mit unserem klinischen Behandlungssetting versuchen, der heimlichen Macht dieser zwei Klischees "unwertes Leben" und "Schmarotzertum" möglichst zu begegnen.
Wie begegnet man wirksam einem Klischee? Ein Klischee ist eine Behauptung. Ich wähle jetzt ein Beispiel, welches meinen eigenen Berufsstand betrifft:
"Jeder Psychiater hat selbst einen ziemlichen Knacks, anderenfalls wäre er ja kein Psychiater!"
Die aussichtsloseste Möglichkeit, ein solches Klischee zu widerlegen, wäre jetzt die Gegenbehauptung gegen die Klischeebehauptung – diese Gegenbehauptung, möglichst noch mit "Moralin" angereichert, wie verwerflich es sei, einem solchen miesen Klischee anzuhängen wie diesem. Mein das Klischee hegende Gegenüber wird sich jetzt beeilen zu dementieren, dass er durchaus nicht glaube, dass Psychiater selbst mehr oder weniger von Geisteskrankheit betroffen seien und so weiter. Heimlich jedoch wird mein Gegenüber sein Klischee massiv bestätigt finden: Denn wenn das Klischee nicht zutreffend wäre, hätte der Psychiater es ja nicht nötig gehabt, das Gegenteil zu behaupten.
Die Gegenbehauptung ist also offensichtlich das Falscheste zur Auflösung eines Klischees. Das Wirksamste scheint mir dagegen der stillschweigende Beweis des Gegenteils zu sein, der um so wirksamer ist, je weniger über das Klischee gesprochen wird. Der bisher an das Klischee Glaubende wird es um so unbefangener überprüfen können, je weniger er sich dafür rechtfertigen muss, dass er noch dran glaubt.
Entsprechend haben wir unser klinischtherapeutisches Setting mit Elementen versehen, die geeignet sind, die genannten Klischees "unwertes Leben" und "Schmarotzertum" möglichst real nachvollziehbar zu widerlegen.
Zunächst unsere Maßnahmen zur Widerlegung vom Klischee "unwertes Leben": Wie schon angedeutet, ist dieses Klischee von laienhaften Vorstellungen getragen, die sich um Bilder ranken wie "geschlossene Anstalt" "Klinikmauern", ,"Gitterfenster", hilflose und abstoßende Patienten in unwürdiger "Anstaltskleidung", "Schlafsäle" mit Überwachung durch "Wärter", "Zwangsjacken", "Gummizellen" und so weiter. Unsere Widerlegung dieser unbewussten Vorstellungen gelingt folgendermaßen: Wir laden regelmäßig – nämlich an jedem Sonnabendvormittag – zu Informationsveranstaltungen in die Klinik ein. Der noch unsichere Behandlungsinteressent kann jetzt aus einer sicheren Position – nämlich als anonymer Besucher – seine Überprüfung vornehmen.
Es gibt keine "Wärter", sondern freundliche Schwestern und Pfleger, die ihrerseits auch keinen Kittel tragen. Man kann gleich nach der Veranstaltung dem Chefarzt oder seinem Vertreter erste Fragen stellen. Zusätzlich finden sich unter den gegenwärtigen Klinikpatienten meistens Freiwillige, die die Besucher durch das Haus führen und alles zeigen und erklären. Spätestens jetzt wird deutlich, dass es nur freundliche Einzel- und Doppelzimmer gibt, und dass auch die in diesem Hause praktizierten Therapieformen – vorwiegend Gruppensitzungen – nicht mit entwürdigenden Behandlungsmethoden zu tun haben, wie sie aus der Geschichte der Psychiatrie bekannt sind.
Durch diese unverbindliche Informationsveranstaltung schlagen wir übrigens "zwei Fliegen mit einer Klappe":
Zum einen kann – wie gesagt – der noch unentschlossene Behandlungsinteressent aus einer sicheren anonymen Position als Besucher seine Überprüfung vornehmen. Zum anderen kann aber auch der gegenwärtige Patient seinerseits aktiv etwas gegen das Klischee tun, indem er nämlich die Aufgabe übernimmt, Besucher durch die Klinik zu führen.
Dass diese Möglichkeit des unverbindlichen Vorbesuches als Komponente unseres therapeutischen Gesamtsettings in Einzelfällen gut geeignet ist, die Macht des Klischees "unwertes Leben" einzuschränken, das entnehme ich daraus, dass häufig nach einer solchen Veranstaltung mit anschließender Führung durch das Haus, viele Besucher sich detailliert nach unseren Aufnahmebedingungen erkundigen.
Zum Schluss möchte ich darstellen, wie wir die Auswirkungen des "Schmarotzer- Klischees" "Morgens Fango – abends Tango – später Django" – durch Gegenbeweis einzuschränken versuchen. Der Gegenbeweis sind in unserem klinischen Konzept viele Herausforderungen und eine gewisse klösterliche Strenge, die im Kontrast steht zu dem ansprechenden äußeren Ambiente der Architektur und der recht verwöhnenden guten Unterkunft und Verpflegung.
Die eine Hauptmaßnahme in dieser Richtung ist ein Wochenplan, der eine Vierzigstundenwoche an Therapiemaßnahmen noch überbietet. Statt morgens Fango heißt es Frühsport im nahen Schloßpark leistungsgestuft nach individueller Belastbarkeit in Form von langsamem und schnellem Spaziergang, Intervalltraining und Jogging. Weiter geht es den Tag über mit Gruppensitzungen, Einzelsitzungen, weiteren Sportveranstaltungen und zusätzlichen Aufgaben wie schriftlichen Ausarbeitungen zu bestimmten Fragestellungen. Selbst in den Abendstunden sind unsere Patientinnen und Patienten aufgefordert, Betroffenengruppen zu besuchen. Darüber hinaus sind sie in therapeutischen Gemeinschaften organisiert, die zur Übernahme von Ehrenämtern auffordern, zum Beispiel die oben genannten Besucherführungen am Sonnabend oder die Betreuung von neuen Mitpatienten im Sinne einer sogenannten Patenschaft.
Die vorher von mir berichtete patzige Mitteilung der beiden Patientinnen, sie seien "ganz schön geschlaucht", ist also inhaltlich zutreffend und darüber hinaus ganz in unserem Sinne.
Die andere Hauptmaßnahme gegen das "Fango- Tango-Django"-Klischee sind unsere ungewöhnlich strengen therapeutischen Regeln: kein Fernsehen oder Radio im Zimmer, kein Alkohol, kein Nikotin, kaum Schlafmittel, kein Kurschatten, um nur die wichtigsten Maßnahmen zu nennen. Wer an Schlafstörungen oder an Schmerzen wie Migräne leidet, bekommt in der Regel keine lindernden Medikamente – natürlich gibt es hier medizinisch begründete Ausnahmen. Jedoch bedeutet die Regel, dass der an Schlaflosigkeit oder an Migräne leidende Patient die Nacht in einer Sesselgruppe vor der offenen Tür des Dienstzimmers der Nachtpflegekraft verbringt – ich nenne das unsere "Ständige Pyjamaparty" – was aber durchaus nicht heißt, dass den Betroffenen jetzt das pünktliche Erscheinen zum Frühsport und den anderen Veranstaltungen erlassen würde.
Selbstverständlich führen solche harten Regeln – vor allem natürlich das Nikotinverbot – nicht selten zu Verstößen und Unterlaufen. Diese Zwischenfälle können von uns jedoch sofort therapeutisch nutzbar gemacht werden, indem wir mit den Patienten jetzt gemeinsam ermitteln, was sie veranlassen konnte, die gute Beziehung zum Team durch den Verstoß und damit die Therapie zu gefährden. So lässt sich in den allermeisten Fällen eine sich zuspitzende Krise im Dienste der Psychotherapie nutzen.
Diese beiden Elemente, "viel Arbeit an sich selbst" und "harte Regeln", zielen also neben therapeutischen Wirkungen auf die erwünschte Nebenwirkung, dem "Fango- Tango"-Klischee entgegenzuwirken, indem der Patient zu sich selbst und zu seinen kritischen Angehörigen, Kollegen und eventuell Vorgesetzten sagen kann:
"In Rastede hab ich auf eine Art mehr arbeiten müssen als zu Hause."
Ergo: "Von Schmarotzertum kann hier keine Rede sein. Als Rehapatient habe ich hart an mir gearbeitet und damit der Solidargemeinschaft auf meine Weise gedient zur Erreichung des Rehaziels."
Friedrich Ingwersen,
geb. 1949, ist Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Psychiatrie und war von 1994 bis 2004 Chefarzt der Fachklinik für SozioPsychosomatische Medizin Rastede. Er ist Gründer des Norddeutschen Instituts für Systemische Lösungen und seit 2005 Chefarzt der Privatklinik Bad Zwischenahn.
Dr. Friedrich Ingwersen ist verheiratet mit Dagmar Ingwersen. Sie haben drei Kinder, leben in Oldenburg/Niedersachsen und arbeiten seit vielen Jahren eng als Psychotherapeuten zusammen.
Klinik Rastede
Mühlenstr. 80, 26180 Rastede
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