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Harmloser Babyblues oder schwere Depression? Teil 2

Postpartale psychische Störungen – Teil 2, Fortsetzung aus 04/2005

Im zweiten Teil meiner Darstellung möchte ich nach der im letzten Heft beschriebenen Wochenbettdepression nun auf die viel seltenere Wochenbettpsychose sowie auf die posttraumatische Belastungs- und Angststörung eingehen.

2006-01-depression

DIE WOCHENBETTPSYCHOSE ODER PUERPERALPSYCHOSE

ist die schwerste Form der psychischen Wochenbetterkrankungen. Sie erfordert sofortiges ärztliches Eingreifen, da die Gefahr des Suizids, des erweiterten Suizids und des Infantizids bei dieser Erkrankung außerordentlich hoch ist.

Die Wochenbettpsychose entwickelt sich meist in den ersten 72 Stunden nach der Geburt bzw. in den ersten sechs postpartalen Wochen.

Oft kommt es zu einem akuten Ausbruch über Nacht, die Psychose kann sich aber auch aus einer Wochenbettdepression, die nicht adäquat behandelt wurde, entwickeln. Die Erkrankungshäufigkeit liegt bei 1 bis 3 von 1000 Frauen.

Kennzeichnend für die Psychose sind der Realitätsverlust und die fehlende Krankheitseinsicht. Allgemein kann es bei der Wochenbettpsychose zu folgenden Störungen kommen, wobei die Symptome nicht alle auftreten müssen, sie können wechseln und an Intensität ab- und zunehmen:

  • Psychomotorische Störungen/Veränderungen des Antriebs (motorische Unruhe, Erregung, Rededrang, veränderter Antrieb, Autismus)
  • Affektstörungen (Angst, Schlafstörungen, innere Unruhe, verändertes Selbstwertgefühl, Reizbarkeit, Euphorie oder Hoffnungslosigkeit, depressive Verstimmungen)
  • Gefühlsstörungen (abnorme Intensität oder Verarmung der Gefühle, Interesselosigkeit, Gleichgültigkeit)
  • Ich-Störungen (hier vor allem: das Gefühl beobachtet zu werden; das Gefühl beeinflusst zu werden; das Gefühl des Ausgeliefertseins)
  • Wahrnehmungsstörungen: Die Umwelt – auch Personen – werden als fremdartig wahrgenommen (= Derealisation); Wahrnehmung nicht existenter Dinge, Sinnestäuschungen wie Stimmenhören, verändertes Sehen, Geruchs- und Geschmackshalluzinationen
  • Denkstörungen (Zerfahrenheit, Denkverlangsamung, unlogische Zusammenhänge) und Wahnvorstellungen (Beziehungswahn, Verfolgungswahn, Größenwahn, hypochondrischer Wahn) sowie pathologisches Modell, sich die Welt zu erklären
Als weitere Auffälligkeiten gibt es:

• falsche Behandlung des Kindes
• übersteigerte Sorge
• Suchtverhalten
• Aggressionen
• Suizidgedanken

Die Wochenbettpsychose lässt sich in drei Erscheinungsformen unterteilen: in die manische, die depressive und die schizophrene Form. Es kommt jedoch häufig zu Mischformen. Am häufigsten sind schizo-manische Mischbilder. Hier paart sich Euphorie mit Wahnvorstellungen und einer erheblichen Antriebssteigerung. Am gefährlichsten ist die schizo-depressive Mischform, da hier die größte Suizidgefahr besteht.

Frauen, die an einer Wochenbettpsychose erkrankt sind, hören, fühlen und schmecken all die veränderten Dinge tatsächlich, auch wenn niemand außer ihnen dies so wahrnimmt. Für die Betroffenen ist ihre Phantasie die Realität und es kann sie niemand vom Gegenteil überzeugen.

Fallbeispiele

1. Eine Mutter mit manischer Form der Wochenbettdepression:
"Ich brauchte immer weniger Schlaf, aber ich habe mich nie müde oder überfordert gefühlt. Ich war total aufgedreht. Ich bin die ganze Nacht mit dem Kind auf dem Arm durch die Wohnung gepilgert. Wir sind auch zusammen gegen den Schrank gerannt. Ich wollte nicht mehr stillen, ich wollte nur noch rauchen...!"

2. Eine Frau mit der schizophrenen Form:
"Ich habe gedacht, ich bin Gott und mein Mann ist der Teufel, und wir waren die Einzigen, die sich verstehen, aber nicht auf direktem Weg, sondem indem jeder das Gegenteil von dem sagt, was er meint...”

3. Mutter mit depressiver Form der Psychose:
"Ich kann kaum noch sprechen, bin müde und habe Angst um mein Kind. Es ist krank, aber keiner der fünf Quacksalber, bei denen ich war, stellt die Krankheit fest. Alle sagen, es ist gesund, aber ich sehe doch, wie es hier auf der Erde leidet. Ich bin eine schlechte Mutter, vielleicht wäre es das Beste, wir beide wären nicht mehr da...”

Die Ursachen

Die Wissenschaft geht von einem Ursachenkomplex aus. Unbestritten ist eine genetische Prädisposition, so waren 15 % der Frauen, die an einer Wochenbettpsychose erkranken, schon vorher einmal an einer Psychose erkrankt. Bei den Betroffenen kommen zudem gehäuft Psychosen in der Familiengeschichte vor.

Als weitere Ursachen werden angenommen: hormonelle Veränderungen nach der Geburt, Persönlichkeitstypus, psychosoziale Faktoren.

Therapie

Die Wochenbettpsychose ist eine extrem schwere psychische Erkrankung mit hoher Gefahr für das Leben von Mutter und Kind. Aus diesem Grunde ist die Erkrankung immer als psychiatrischer Notfall anzusehen, der das sofortige Eingreifen von Fachärzten erforderlich macht.

Ein stationärer Aufenthalt und eine medikamentöse Behandlung sind unerlässlich. Eine langfristige Behandlung mit einer Kombination aus Psychopharmaka und Psychotherapie ist indiziert, um die Gefahr eines Rückfalls zu verringern. Diese Gefahr besteht leider immer, vor allem bei nachfolgenden Geburten.

DIE POSTTRAUMATISCHE BELASTUNGSSTÖRUNG UND DIE POSTPARTALE ANGSTSTÖRUNG

Häufigkeit für beide Störungen ca. 1–2 % aller Wöchnerinnen.

Ursache der posttraumatischen Belastungsstörung: Die Frau erlebt die Entbindung als traumatisch, auch wenn diese objektiv gar nicht gefährlich verlaufen ist.

Durch die Geburt – besonders die erste – kann die Mutter wegen der damit verbundenen unausweichlichen körperlichen Grenzerfahrungen höchstem Stress ausgesetzt sein und dadurch ein Trauma erleiden. Ausgeprägt starke Schmerzen, das Gefühl der Hilflosigkeit, das Gefühl des Kontrollverlusts oder andere Erfahrungen im Kreißsaal und auf der Wöchnerinnenstation werden als so schrecklich erlebt, dass sie in der Folgezeit immer wieder wie ein Film vor den Augen ablaufen ("flashbacks").

Verbunden damit sind Gefühle von innerer Stumpfheit, Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit, depressive Verstimmung und Alpträume. Situationen, die an die Geburt erinnern, werden strikt vermieden, so auch Krabbelgruppen, Rückbildungsgymnastik oder Gespräche über die Geburt.

Dabei wäre die Auseinandersetzung mit der Geburt, das Gespräch mit dem Partner, der Hebamme und anderen an der Geburt beteiligten Menschen wichtig, damit sich die Angststörung nicht chronifiziert. Auch eine Psychotherapie wäre sinnvoll.

Die Gefahr ist nämlich, dass sich in Folge einer nicht behandelten Angststörung eine Tokophobie (Angst vor Geburt, Wehen) ausbildet. Es wird alles getan, um nie wieder eine Geburt erleben zu müssen (sexuelle Verweigerung, Sterilisation, Abtreibung). Als Beispiel für eine postpartale Angststörung kann man die Angst vor dem "plötzlichen Kindstod" anführen.

Eine Erstgebärende hatte für eine Familie ein Kind beaufsichtigt, welches während ihrer Betreuung an plötzlichem Kindstod verstarb. Während der ersten Monate nach der Geburt ihres eigenen Kindes erfüllte sie permanente, fürchterliche Angst, ihrem Baby könnte es ebenso ergehen. Sie hatte den Zwang, ihr Kind ständig zu beobachten. Sie versuchte, wach zu bleiben, um die Atmung des Babys zu kontrollieren. Erst nach den gefährlichen ersten Monaten wurde die Angst etwas leichter.

Leider werden postpartale psychische Probleme nach wie vor tabuisiert. Man erzählt von Freudentränen, verschweigt die Heultage, schwärmt vom Mutterglück und vergisst, dass es auch Mutterleid gibt.

Schon während der Schwangerschaft wird den Frauen von allen Seiten nur eine wunderschöne, rosarote Zukunft mit Baby avisiert. Niemand warnt junge Mütter, dass es nach einer Geburt auch ernsthafte seelische Krisen geben kann. Sogar Gynäkologen, Kinderärzte und Hebammen fühlen sich bei diesem Thema überfordert.

Während in den angelsächsischen Ländern bei der Versorgung der Wöchnerin ebenso selbstverständlich auf die seelische Verfassung der Mutter geachtet wird, wie auf die Rückbildung der Gebärmutter, gehört dieser Teil der Nachsorge in Deutschland nicht zum Standard. So werden Mütter in ihrem Unglück alleine gelassen. Das ist insbesondere deshalb eine Katastrophe, wenn man an die schrecklichen Folgen denkt, die Wochenbetterkrankungen haben können. Es wäre wichtig, den Fokus auf Prävention und Aufklärung zu richten, dann könnten viele Tränen der Verzweiflung ungeweint bleiben.

 

 

ascher-4 Claudia Ascher

Geboren 1962 in München. Verheiratet, vier Kinder und ein Pflegekind.

Ausbildung zur Arzthelferin, diverse Fortbildungen.
Langjährige Berufserfahrung bei zwei Ärzten und in der Notaufnahme eines Krankenhauses. Nebenbei "Sozialpädagogische Familienhilfe" für das Jugendamt.
Ausbildung zur Psychologischen Beraterin an der Paracelsus-Schule Mönchengladbach.


Auch Väter haben den postnatalen Blues
Die postnatalen (nach der Geburt eines Babys auftretenden) Depressionen von Vätern haben nachteilige Langzeitauswirkungen auf das Verhalten und die emotionale Entwicklung ihrer Kinder. Denn die Depressionen der Väter verdoppeln die Verhaltensauffälligkeiten und emotionalen Probleme der Kinder in der Vorschulzeit.
Zu diesem Ergebnis kommt eine breit angelegte Studie der "Oxford University", die in der aktuellen Ausgabe des Medizinmagazins "The Lancet" erschienen ist. "Wir wissen bereits, dass postnatale Depressionen bei Müttern die Qualität ihrer mütterlichen Fürsorge stark beeinträchtigen", erklärte Studienleiter Paul Ramchandani. Dadurch kommt es bei den Kindern zu Störungen im Sozialverhalten und Betragen sowie bei der psychischen und physiologischen Entwicklung. "Dass jedoch auch Väter nach der Geburt unter Depressionen leiden, war bisher ein stark vernachlässigter Aspekt", so der Experte. Die Forscher analysierten Aufzeichnungen von über 8430 Vätern und fanden heraus, dass 3,6 % (303 Väter) acht Wochen nach der Geburt an Depressionen litten. Zu den Symptomen zählten Ängstlichkeit, Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit und Hoffnungslosigkeit.
Gefunden in: "Natur & Heilen"– Die Monatszeitschrift für gesundes Leben, Heft 2/2006,