Ich bin Psychotherapeut – bitte nicht weitersagen!
Zu diesem etwas ungewöhnlichen Titel meines Vortrages regte mich unter anderem die Ausgabe Nr. 12/2003 der "Psychologie Heute" an. Darin ging es ausführlich um die Frage, inwiefern sich "Beratung" und "Therapie" überhaupt noch unterscheiden. Einmal abgesehen von den rechtlichen und abrechnungstechnischen Einzelheiten, lässt sich offenbar der Schluss ziehen, dass Beratung (z.B. in der Telefonseelsorge oder der Psychologischen Beratung) und Psychotherapie immer schwerer voneinander zu trennen sind – zumindest, wenn man einmal die Gesprächsinhalte (und nicht den Rahmen) untersucht.
Dies ist auch insofern interessant, da sich hier eine historische Entwicklung umkehrt: Spätestens seit Sigmund Freud wurde nämlich versucht, die Profession des "Seelenheilers" (oder Psychotherapeuten) in eine den Ärzten gleichgestellte Ordnung zu zwingen – also "Laien" (denen Freud selbst noch die Psychoanalyse anvertrauen wollte) der Zugang dazu nach und nach verbaut.
Ausgehend von den extremen Formen psychischer Auffälligkeiten (oder von Verhaltensweisen, von denen auf eine "irre" Psyche geschlossen wurde) beanspruchten die "Nervenärzte" und in ihrer Nachfolge heute die Psychiater oder die Psychologischen Psychotherapeuten das alleinige Recht, Menschen zu behandeln, bei denen scheinbar kein körperlicher Schaden Ursache ihrer Beschwerden war.
Wen diese geschichtliche Entwicklung interessiert, kann im hervorragenden Buch "Die Entdeckung des Unbewussten" von Henry Ellenberger zahlreiche gut recherchierte Geschichten und Zusammenhänge nachlesen.
In vielen Romanen oder Filmen wird daher der Beruf des "Irrenarztes" bis heute skeptisch bis ängstlich betrachtet (z.B. in "Reine Nervensache", "Don Juan de Marco" oder im Klassiker von Woody Allen "Der Stadtneurotiker"). Angsteinflößend scheint vor allem die Möglichkeit dieser Ärzte zu sein, mittels Medikamenten Bewusstseinszustände und Verhaltensweisen auszulösen, die ebenso schlimm wirken wie die behandelte Erkrankung - und nur selten eine "Heilung" bringen, wie sie von körperlichen Schäden gewohnt ist.
Dies alles führte und führt bis heute zu einer Haltung gegenüber "Psychologen", die nicht gerade von Lockerheit geprägt ist. Auch wenn der Normalbürger kaum den Unterschied zwischen Psychotherapeuten, Psychiatern und Psychologischen Beratern erklären kann, sucht er doch in Extremfällen mit hohen Erwartungen solche Menschen auf. Und wer sich nicht zu einem "Psy" traut, hat als Ausweg immer noch seinen Hausarzt, Pfarrer, Heilpraktiker oder Homöopathen. Kann er es sich leisten, kommt auch noch der "Supervisor" oder der "Coach" in Frage. Mir geht es vor allem darum, auf die Wirkung von Berufsbezeichnungen auf potentielle Klienten aufmerksam zu machen und mögliche Alternativen aufzuzeigen. Der uralte Spruch, dass der Wurm dem Fisch schmecken muss und nicht dem Angler, fasst den Sachverhalt ziemlich gut zusammen.
An Visitenkarten- bzw. Praxisschildtexten können Sie selbst überprüfen, welche Assoziationen hier entstehen (überprüfen Sie einmal Ihren "ersten Eindruck" – etwa, wenn Sie an einem Haus mit Praxisschildern vorbeigehen – und fragen Sie sich, ob und weshalb/weshalb Sie nicht zu diesem, Ihnen noch unbekannten Menschen in die Sitzung gehen würden).
Wichtiger noch als die Berufsbezeichnung kann jedoch sein, wie über die Arbeit selbst gesprochen wird, die wir tun. Sehen Sie sich einmal die folgenden Begriffe an und überprüfen Sie wiederum, welche Bilder jeweils entstehen und wie attraktiv diese für Sie sind:
Behandlung
Therapie
Beratung
Sitzung
Training
Kurs
Einzelunterricht
Workshop
Termin
Besprechung
Interview
Wenn der Inhalt derselbe ist und wir aus rechtlicher Sicht "frei" sind, spricht doch nichts dagegen, diejenige Aufschrift zu verwenden, die von den potentiellen Kunden am besten verstanden und am wenigsten gemieden wird!
Der Vorgang, der während des "Miteinandersprechens" (denn nichts anderes ist ja jede Form von Therapie und Beratung) geschieht, kann ebenfalls unterschiedlich benannt werden, wobei die unwillkürlichen Ableitungen (hier in Klammern) wiederum sehr verschiedene Emotionen hervorrufen):
Störung (entstören)
Problem (lösen)
Krankheit (kurieren)
Schwachstelle (trainieren)
Fähigkeit (Umgang lernen)
Wissen (erwerben)
Rat (einholen)
Fehler (beheben)
Lage (besprechen)
Situation (analysieren)
Ziel (anvisieren)
Die Frage, die sich jeder stellen sollte, der neu in unser Berufsfeld einsteigt, ist also nicht: "Was ist die richtige Bezeichnung", sondern: "Was kommt bei meinen potentiellen Kunden so an, dass diese ermutigt werden, zu mir zu kommen?". Eine Antwort darauf darf natürlich nicht den rechtlich zulässigen Rahmen überschreiten, jedoch bietet unsere Sprache ausreichend Möglichkeiten, die legitim sind. Dies kann übrigens auch – was im Deutschen sehr gut möglich ist – durch Wortverbindungen bzw. Neuschöpfungen geschehen, z.B.
Telefon-Beratung
Erziehungs-Beratung
Ehe-Beratung
Problemlösungs-Beratung
Aktiv-Training
Anleitung zur Eigentherapie
Coaching-auf-Gegenseitigkeits-Training
Alptraum-Beratung
Single-Beratung etc.
Versuchen Sie einmal, verschiedene Bezeichnungen probeweise (vor einem guten Freund z.B.) auszusprechen und zu erspüren, wie es für Sie selbst klingt und parallel die Meinung des Zuhörers zu erfahren.
Auch die Erstellung eines "Werdegangs" (wie kam ich dazu, mich in diese Richtung zu verändern?) kann möglicherweise hilfreich sein, wenn es darum geht, Klienten (z.B. im Internet) anzusprechen und deren Vertrauen zu gewinnen. Erst neulich erzählte mir eine neue Klientin, sie habe jetzt drei Tage meine Internetseiten durchgelesen und kenne sie teilweise schon auswendig (www.wernerwinkler.de).
Je weniger wir über uns selbst kommunizieren und je mehr wir uns auf Titel und Berufsbezeichnungen verlassen, desto mehr geben wir die Kontrolle über die möglichen Assoziationen bei den potentiellen Klienten aus der Hand.
Wir werden dann eher mit denen gleichgestellt, die der Betreffende bereits kennt, als mit dem, was wir uns unter einer Bezeichnung vorstellen.
Manche Kollegen (dazu gehöre ich selbst) verzichten aus diesem Grund sogar häufig ganz auf eine Berufsbezeichnung und beschreiben stattdessen lieber, was sie tun, wie sie das tun und weshalb sie das tun.
Beim Reden "Darüber" (was wir tun, wenn wir "nicht" als Psychotherapeuten tätig sind) hilft auch etwas Humor und Augenzwinkern, etwa im Sinne von "Ich mache so etwas Ähnliches wie...", "Ich bin eher ein nichtpsychologischer als ein psychologischer Berater", "früher hätte man das, was bei mir geschieht, beim Herrn Pfarrer besprochen" etc. In Drucksachen und im Internet sollte selbstverständlich darauf geachtet werden, dass korrekte und rechtlich einwandfreie Bezeichnungen geführt werden! Schließlich wollen wir uns ja nicht mit anderer Leute Federn schmücken, wenn wir selbst genügend davon haben...
Werner Winkler