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Das Prinzip des fallenden Blattes in der Paartherapie

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Seit ca. 10 Jahren arbeite ich als Paartherapeut in Berlin. In diesem Artikel möchte ich, mithilfe des Bildes des fallenden Blattes, eine typische Einstiegsstruktur für den Paartherapieprozess beschreiben. Da Paartherapien im Allgemeinen kürzer sind als Einzeltherapien, hat die richtige Weichenstellung zu Beginn der Arbeit einen noch höheren Einfluss auf deren Erfolg.

2010-01-Paartherapie2Lassen Sie mich eine typische Ausgangssituation beschreiben, die sich besonders zu Beginn einer Paartherapie häufig findet. Das Paar kommt entweder zerstritten oder aber unter hoher Anspannung in die ersten Sitzungen. Die Beziehungssituation hat sich in der jüngeren Vergangenheit des Paares oft so sehr zugespitzt, dass meist beide das Gefühl haben, ohne Hilfe von außen nicht wieder zueinanderfinden zu können. Im Gegensatz zu Einzelklienten, die den Rahmen einer Therapiesitzung als einen geschützten Raum erleben – der Partner und andere Stress auslösende Faktoren sind ja real nicht anwesend – bringen Paare mit dem Partner einen ihrer momentanen Hauptstressfaktoren mit in die Sitzung.

Die Entscheidung zu einer Paartherapie wird oft unter dem Eindruck eines starken auslösenden Erlebnisses oder von emotional sehr anspannenden äußeren Veränderungen getroffen. Seien es das Aufdecken eines Seitensprungs, bis in körperliche Gewalt eskalierte Streits oder so beeindruckende Veränderungen wie die Geburt eines Kindes oder die Verlagerung eines Arbeitsplatzes in eine andere Stadt – auch lang aufgestaute und endlich ausreichend klar formulierte Zweifel am Sinn der Beziehung können so eine auslösende Situation schaffen.

In jedem Fall ist die (Liebes-)Welt der Partner nicht mehr so, wie sie einmal war. Das Paar fühlt sich von der neuen Erkenntnis, Information oder Situation bis in die Grundfesten seiner Verbundenheit erschüttert. Nach diesem Seitensprung, nach diesen übel eskalierten Streits, nach diesem tief Sich-verlassen-, Sich-gekränkt- oder so langem Sich-einsam-Fühlen, wie kann es mit dieser Beziehung, mit diesem Partner da (noch) weitergehen?

Die Sorge, vor dem großen Nichts zu stehen, bestimmt oft bei beiden Partnern die tieferen Gefühlsschichten. Meist haben sich beide dann in ihre Abwehrmuster zurückgezogen und die Zugbrücken dieser inneren Festungen hochgezogen. Sie stehen wachsam auf den Zinnen, jederzeit bereit den Partner mit Verachtung, lauten Worten oder kalter Ignoranz zurückzuweisen. Es ist eine Mischung aus Sich-Schützen, Wunden lecken und dem Wunsch, sich für erlittene Kränkungen zu rächen.

Die Aufgabe des Paartherapeuten ist es jetzt, in dieser ersten Phase, einen Raum zu öffnen und so zu gestalten, dass beide Partner aus diesen eher blinden, engen Abwehrmustern in eine öffnende Begegnung miteinander finden können. Beide Partner sollen sich eingeladen fühlen, auszuatmen, gleichsam von den Zinnen ihrer inneren Festungen wieder herabzusteigen und den Tunnelblick des Kriegers etwas zu erweitern. Sie sollen in einen Zustand gelangen, in dem sie einerseits den Ernst ihrer erlittenen Kränkungen nicht verharmlosen müssen, andererseits aber in der Lage sind, die wirklich wichtigen Dinge mit ihrem Partner wieder anzusprechen und anzugehen – dies natürlich mit all den dazugehörigen Emotionen, weiterführenden Fragen und manchmal auch harten Konsequenzen. In dieser Phase entsteht so der Boden für die spätere Aufarbeitung der tieferliegenden Beziehungsthemen.

Für diesen ersten Abschnitt einer Paartherapie möchte ich hier mein Prinzip des fallenden Blattes als einen bewährten Einstieg vorstellen.

Was meine ich mit dem Prinzip des fallenden Blattes? Stellen Sie sich ein Blatt vor, das sich während eines Sturmes vom Ast eines Baumes löst und in einer langsamen Hin-und-Herbewegung zu Boden schwebt. Es wird vielleicht unterwegs von stürmischen Winden immer wieder in die Höhe gerissen, stabilisiert sich aber wieder und landet endlich doch sanft auf dem Boden. So sind die Endpunkte der Hin- und- Herbewegung die Partner, und das Blatt selber ist die gemeinsame Aufmerksamkeit. Das Spannungsfeld zwischen den Partnern erzeugt die hochreißenden Winde, die Führung durch den Therapeuten stabilisiert und hilft dem Blatt den Boden endlich zu erreichen. Ist das Blatt dann sicher gelandet, entsteht eine erste, meist unerwartete Windstille – ein Moment der Ruhe für beide.

Wenn es gelingt, wird die Angst vor dem großen Nichts jetzt kleiner, die Waffen werden ein Stück weiter gesenkt und ein neugieriges Gefühl von größerer Handlungsfähigkeit stellt sich ein.

Das Prinzip des fallenden Blattes bedarf folgender Elemente:

  1. 2010-01-Paartherapie3den Aufbau von Vertrauen in die Situation und in den Therapeuten
  2. das Anerkennen und Vergrößern des persönlichen inneren Raumes
  3. die Wiederbegegnung mit der Eigenart des Anderen
  4. das Erahnen einer gemeinsamen Fülle

Natürlich ist das Vertrauen in den Therapeuten in jeder Therapie die notwendige Grundlage und einer der wichtigsten Wirkfaktoren. Da ich als einzelner Therapeut mit zwei Menschen (dem Paar) arbeite, unterliege ich der besonderen Herausforderung, eine vertrauensvolle Beziehung sowohl zu dem Paar als auch zu jeweils beiden Partnern einzeln zu schaffen. Jeder muss für sich das Gefühl haben, dass ich für ihn (oder sie) persönlich, für seinen Partner und auch für beide als Paar genug Halt und Verständnis, aber auch ausreichend Herausforderung biete. Keiner soll sich bevorzugt oder benachteiligt fühlen.

In meinen Paartherapien vereinbare ich deshalb nach der ersten gemeinsamen Sitzung mit beiden Partnern je eine Einzelstunde. In den Sitzungen versuche ich die Grundlage für eine tragende, diadische Beziehung zu beiden Partnern zu schaffen. In den Stunden versuche ich mich ganz auf die Sichtweise des jeweiligen Partners einzulassen, fast so, als würde ich den anderen Partner noch gar nicht kennen. Ich möchte an seiner persönlichen inneren Welt teilhaben, ohne dabei meinen eigenständigen Standpunkt aufzugeben. Dabei üben wir schon, modellhaft für den Paarprozess, unterschiedlicher Meinung zu sein und uns dennoch innerlich zu berühren.

In der Anfangsphase trete ich als Therapeut deutlich als führende Person in Erscheinung. Das beginnt schon mit der äußeren Form. Ich heiße zu Beginn einer jeden Sitzung das Paar ausdrücklich herzlich willkommen. Ich beschließe die Sitzungen deutlich und achte auf die Zeit.

In eskalierenden Situationen entscheide ich, ob ich diese Zuspitzung bremse oder stoppe, um einen oder beide Partner vor erneuten und unnötigen Verletzungen zu schützen. Ich fördere diese Entladungen, wenn ich das Gefühl habe, das Ausleben dieser Streits öffnet dem Paar neue Sichtweisen und Möglichkeiten. Mithilfe meiner Reflektionen und Vorschläge lade ich die Partner immer wieder dazu ein, sich eine eigenständige Meinung zu bilden und diese auch zu vertreten. Durch eine klare und nachvollziehbare Mischung aus Folgen, Führen und Begrenzen entsteht so ein Raum für das Paar, in dem sich die Partner ernstgenommen und geschützt fühlen. Sie können dort beginnen sich wieder zu öffnen.

Für das Prinzip des fallenden Blattes strukturiere ich das Gespräch so, dass ich mich, vor den Augen und Ohren des einen Partners, aufmerksam mit der Innenwelt des anderen befasse. In einem feinen Gespräch oder auch mit kleinen Übungen lade ich diesen Partner ein mit mir seine Sicht der Dinge im Beisein seines Partners zu entwickeln. Wobei ich durchaus auch kritische Fragen stelle und auf eventuell überwertige Verhaltensweisen aufmerksam mache.

Diese Zuwendung zu einer Person kann dabei je 5 bis 15 Minuten betragen.

Ich erkläre dem Paar meine Intention. Mit einem Partner erforsche ich seine Seite der Ehekrise, es geht dabei um seine rein subjektive, eigenständige Wahrheit. Um das, was er erlebt hat und wie er dazu fühlt. Ich lade ihn ein Formulierungen wie „aus meiner Sicht“ oder „für mich“ zu verwenden. Ich bitte ihn keine verallgemeinernden Aussagen zu machen und keine Zu- oder Festschreibungen zu treffen, wie der Partner oder die Ehe sei. Wir schwimmen gemeinsam ein Stück hinaus in den wunderbaren See seiner Innenwelt.

Der andere Partner hat dabei die Möglichkeit, die Sichtweise und Innenwelt seines Partners, aus gewisser Distanz und ausreichend gepuffert, auf sich wirken zu lassen. Bei den zuhörenden Partnern schlagen die emotionalen Wellen zu Beginn oft noch sehr hoch. Sie zischen, atmen laut, verdrehen die Augen und rucken auf ihrem Sessel unruhig hin und her. Sie können sich manchmal nur mit Mühe zurückhalten, nicht mit einer nun aber wirklich nötigen Richtigstellung reinzuplatzen. Mit der Zeit werden sie ruhiger, lehnen sich in ihrem Sessel zurück. Manche beginnen zu staunen. Interessiert bleiben sie alle.

Wenn ich spüre, dass wir weit genug rausgeschwommen sind und lang genug gemeinsam unterwegs waren, wechsle ich den Fokus zum anderen Partner. Ich lade nun ihn ein, seine Sicht der Dinge, vor den Augen und Ohren des Partners, mit mir zusammen zu betrachten. Jetzt ist der Moment für seine Wahrheit gekommen. Der andere kann (muss?) sich jetzt zurücklehnen, zuhören und die Welt seines Partners auf sich wirken lassen.

Durch meine Art der Gesprächsführung gebe ich dem erzählenden Partner die nötige Anerkennung für seine innere Welt und seine Sicht der Dinge. Er wird sich seiner Selbst sicherer und findet ein Stück weiter zu sich. Dem zuhörenden Partner ermögliche ich durch diese Verlangsamung der Kommunikation, seine Standard- Reaktionsschleifen zu hinterfragen und etwas zu verlassen.

In den sicheren Positionen des Nur-Erzählers oder des Nur-Zuhörers kann der jeweilige Partner innerlich zurücktreten, etwas Ruhe finden und vielleicht, an seinen Kränkungen vorbei, wieder auf seinen Partner schauen. Er kann dort beginnen, aus seinem Bedürfnis nach Liebe und Verbundenheit heraus, nach neuen, gangbareren Formen für die gemeinsame Intimität zu suchen.

Natürlich ist mein Vorgehen nicht starr oder nach der Uhr. Einzelne kleine Wechsel und Einschübe von beiden Seiten können im kleinen Rahmen immer wieder stattfinden. Dies ändert aber nichts am grundsätzlichen, langwelligen Hin und Her des fallenden Blattes in dieser ersten Phase.

Wenn Paare in eine solch zugespitzte Situation geraten, sind beide Partner immer tiefer – wie durch einen Trichter – in eine immer enger werdende Abwehrposition gerutscht. In einer unglücklichen Vermischung aus Gefühl und Inhalt wird vom Partner oft scheinbar die bedingungslose Anerkennung der eigenen Position verlangt. Dies spitzt sich immer wieder zu „Vogel friss oder stirb“-Fragen zu, bis hin zu „wenn du mir nicht Recht gibst, verlasse ich dich“. Das Annehmen eines Inhaltes, einer Tatsache, das Rechtgeben wird in diesem Zustand tendenziell mit dem grundsätzlichen Anerkennen und Bestätigen der gesamten Liebesbeziehung vermengt.

Diese Haltung beinhaltet jedoch nicht nur eine Abwehr des Anderen, sondern – meist unbemerkt und viel folgenreicher – auch die Abwehr des eigenen Schmerzes, der eigenen Liebe zum Partner und des eigenen Bedürfnisses nach Verbundenheit mit ihm. Der nach außen gerichtete Ärger dient gleichzeitig als Schutzschild nach innen. Das Gegenüber müsste hier das Kunststück vollbringen, an der eigenen und der Abwehr des anderen vorbei dessen geschützte und verletzliche Existenz zu berühren und in der gemeinsamen Liebesbeziehung anzuerkennen.

Im Zustand des Streites geht es den Partnern weniger um die Haare im Abfluss oder die Zahnpastatube, sondern überwiegend, aber fast unsichtbar, um ihre psychische Existenz innerhalb der Beziehung. Die unausgesprochene Frage im Hintergrund lautet: Ist in dieser Liebesbeziehung (noch) genug Platz für mich? Aus dieser Sichtweise wird die Vehemenz und auch die Tragik solcher Streits und Zustände verständlicher.

Durch die Zuwendung und Verlangsamung des fallenden Blattes bekommen beide Partner wieder den nötigen inneren Raum, um den Inhalt des Streits und ihr Bedürfnis nach einer Liebesbeziehung voneinander trennen zu können. Sie klettern dabei gleichsam diesen engen inneren Trichter langsam wieder hoch. Ihr Selbstbild wird jetzt wieder breiter und vollständiger. Sie verwechseln ihre zugespitzte innere Position nicht mehr länger mit ihrem ganzen Wesen und die zugespitzte Situation mit dem Partner nicht mehr länger mit der ganzen Liebesbeziehung.

Das fallende Blatt ist mehr als eine Entladungstechnik. Sein Fokus liegt auf dem Ermöglichen eines tiefen Blicks auf das eigene Wesen und das des Partners. Es schafft damit die Grundlage zu einer neuen, tieferen Begegnung. Auf diese neue Tiefe können dann die nächsten Schritte in der Paarentwicklung effektiv und gut geerdet aufgesetzt werden.

Schlusswort

Natürlich ist dieser Artikel zu kurz, um die ganze Arbeit im Detail nachvollziehbar zu machen, dennoch hoffe ich, das Prinzip des fallenden Blattes verständlich und verlockend beschrieben zu haben. Während des Schreibens öffneten sich für mich neue wichtige Abzweige, auf die ich in weiteren Artikeln sowie einem geplanten Buch ausführlicher eingehen werde.

Ich würde mich freuen, wenn interessierte Paare und Therapeuten sich von meinem Text angeregt fühlen und mit dem Prinzip des fallenden Blattes neue Erfahrungen sammeln möchten. Ich bin offen für Anregungen und Nachfragen.

2010-01-Paartherapie4Fabian Lenné geb. 1960.
Seit 1997 biete ich in Berlin Einzel-, Paar- und Gruppentherapie auf der Grundlage des Heilpraktikergesetzes an. Ich habe eine neunjährige Ausbildung in Tiefenpsychologischer Körpertherapie und eine Fortbildung in Bewusstseinszentrierter Körpertherapie absolviert. Ich stehe in regem methodischen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus benachbarten Therapiefeldern. Derzeit gebe ich ca. 550 Stunden Einzeltherapie und 350 Stunden Paartherapie pro Jahr.
Sie erreichen mich unter www.paartherapie-berlin.info