Die Helferfalle - Endstation Burn-out
Endstation Burn-out
Es ist 20.30 Uhr, Erika S. verabschiedet ihren letzten Patienten für heute. Für einen Augenblick setzt sie sich noch an ihren PC, um die letzten Einträge in der Dokumentation zu machen. Und da ist es plötzlich wieder, dieses durchdringende Gefühl der unendlichen Erschöpfung.
Seit Tagen bereits quält sich Erika S. durch die Nächte und erwacht morgens scheinbar noch träger als am Vortag. Am liebsten würde sie einfach ein paar Wochen Urlaub machen. Doch was soll dann aus ihren Patienten werden? Herr M. befindet sich gerade in einer besonders depressiven Phase, Frau F. steht kurz vor einem Durchbruch bei der Aufarbeitung ihres ödipalen Traumas und erst Frau K.? Nein, die hart erkämpften Therapiefortschritte dürfen nicht gefährdet werden. Ganz abgesehen von den Verpflichtungen für die neue Praxiseinrichtung.
So, oder so ähnlich, ergeht es nach einer neueren Studie vielen Kolleginnen und Kollegen. Die Studie, die von der Justus-Liebig- Universität Gießen durchgeführt wurde, untersucht die gesundheitlichen Folgen unangemessener Stressbewältigung bei Ärzten und Psychologen in Klinik und Praxis. Die gewonnenen Erkenntnisse lassen sich zweifellos auch auf die beratenden und helfenden Berufe übertragen. So gaben mehr als die Hälfte der befragten psychotherapeutisch Tätigen an, dass sie sich von ihrem Beruf gesundheitlich beeinträchtigt sehen. In der Ärztezeitung wurden in einem kürzlich veröffentlichten Artikel konkrete Zahlen genannt, die alarmierend sind. So würden 60 Prozent der Ärzte darüber klagen, dass die Arbeit sie auslaugt.
53 Prozent fühlten sich abends völlig erledigt und knapp 50 Prozent klagten über Schlafdefizite. Amerikanischen Untersuchungen zufolge würden bis zu 90 % der Psychotherapeuten während ihrer Berufsausübung unter "undifferenzierten psychischen Störungen" leiden.
Auch wenn die aktuellen Studien die große Gruppe der heilpraktisch und psychologisch beratend Tätigen nicht berücksichtigt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Berufe sich dem Problem gänzlich entziehen. Ganz im Gegenteil. Die Behandlungssettings, die aufgewendete Therapiezeit und auch die Krankheitsgeschichten der Patienten lassen sich durchaus mit der Arbeit der untersuchten Berufsgruppe vergleichen. Ganz zu schweigen von der Doppelbelastung vieler nebenberuflich praktizierenden Berater.
Das psychische Leid und die Schmerzen nach Traumata der Patienten ist eben doch ansteckend. Therapeuten sind keine Zuhörund Interventionsmaschinen. Es besteht ein erhebliches Berufsrisiko, selbst an einer psychischen oder psychosomatischen Störung zu erkranken. Es ist ein unausgesprochenes Tabu: Viele Helfer und Berater ergreifen bereits aus einer bestehenden Disposition für seelische Konflikte heraus ihren Beruf. Aus der Literatur wissen wir, dass viele Therapeuten privat und persönlich eher problematische Zeitgeister waren und dennoch große berufliche Erfolge verzeichnen konnten. Es sei hier nur beispielhaft Sigmund Freud genannt. Im Gegensatz zu den USA, wird dieses Thema aber in Europa noch defizitär behandelt. Amerikanische Statistiken besagen, dass klinisch relevante Störungen wie Süchte, Depressionen, Ängste, Phobien, und psychosomatische Erkrankungen bei Psychotherapeuten häufiger als bei dem Durchschnitt der Normalbevölkerung anzutreffen sind. 40 Prozent der Ehen von Psychotherapeuten werden in den USA geschieden. Sind amerikanische Therapeuten "Weicheier" oder verschließen sie sich hierzulande diesen Erkenntnissen und verschanzen sich hinter dem freudschen Ideal des "wirklich" analysierten Menschen?
THERAPEUTEN WOLLEN PERFEKT SEIN
Nach diesen Gesprächen martert sich Erika S. immer mit Selbstvorwürfen. Warum passiert ausgerechnet ihr das, wo sie doch um all die Mechanismen weiß, die hinter derartigen Konflikten stehen? Der Anspruch perfekt sein zu müssen, das Idealbild vom reflektierten Therapeuten und die konsequente Tabuisierung im Kollegenkreis führen schnell in einen Circulus vitiosus. Viele Kollegen vollbringen wahre Kraftakte, um das Bild einer idealen Normalität aufrechtzuerhalten. Kraft, die für eine Fassade investiert wird, die nicht mehr als eine Filmkulisse in einer realitätsfernen "Soap Opera" ist.
Viele Kollegen sind auch aufgrund ihrer Vordisposition latent gefährdet in die Falle des Helfersyndroms zu treten. Das führt zu einer mangelnden Distanz zu ihren Patienten. Nicht selten tauchen dann diese "Fälle" im nächtlichen Traum immer wieder auf. Der eine oder andere mag dann sagen: "Ja, das ist doch eine besondere Fähigkeit zur Empathie." Zu einer auf Dauer ausgeglichenen Psychohygiene gehört jedoch eine ausreichende Differenzierungsmöglichkeit. Die meisten Patienten sind in ihrer Konfliktsituation ohne hinreichende Bewältigungsstrategie gefangen. Aus diesem Grund kommen sie zur Therapie. Das Letzte, was sie dann ge-brauchen können, ist jemand, der "mitleidet”. Im Rahmen einer Untersuchung wurden Patienten befragt, die sich gerade in einer psychotherapeutischen Behandlung befanden. Manche von ihnen berichteten über subtile Machtspiele ihrer Therapeuten. So klagten sie etwa darüber, dass ihnen Dinge eingeredet wurden und dass Probleme, die sie mit ihrem Therapeuten hatten, als Widerstand gegenüber der Psychotherapie gedeutet wurden bzw. auf sie zurückgeworfen wurden. Wenn der Berater, Helfer oder Psychotherapeut nicht imstande ist, eine klare Grenze zwischen sich und seinen Patienten zu ziehen, entstehen leicht gefährliche Abhängigkeitsverhältnisse, die zu Machtmissbrauch führen können. Es sind nicht etwa nur die schwarzen Schafe der Branche betroffen. Nein, gleichermaßen jeden kann es treffen. Diese Mechanismen laufen unbewusst, verdeckt ab und bevor man sie erkennt, ist man bereits gefangen im Gegenübertragungshass. Einzig das "Immer-wieder-in- Frage-Stellen" der eigenen Position, des eigenen Standpunktes kann eine Prophylaxe darstellen.
Trotz all der Fallstricke des Helferberufes, er birgt auch ein schier unerschöpfliches Reservoir an Erfahrungen in sich. Es sind nicht nur die unheilsamen, konfliktbeladenen Begegnungen, die hinter den Praxiswänden stattfinden. Therapie stellt auch immer zu einem gewissen Teil Eigentherapie des Therapeuten dar, immer auch Erweiterung des persönlichen Repertoires an Konfliktlösungsstrategien und zwischenmenschlichen Interaktionsfähigkeiten.
Es gibt Autoren, die setzen sich für eine strickte Trennung von Beruf und Privatleben ein. "Wenn der Patient die Tür hinter sich schließt, dann ist für einen guten Therapeuten die Behandlungsstunde vorüber." Dies ist wohl auch ein übergroßes Ideal, das sich ebenso schwer erreichen lässt wie der Anspruch des "Perfektseins". Wer dem genügen möchte, der setzt sich abermals unter einen psychischen Druck, der das zur Folge hat, was er eigentlich verhindern soll: Burn-out.
EIGENVERANTWORTUNG IST GEFRAGT
Angehenden Beratern wird in ihrer Ausbildung eine Vielzahl von Werkszeugen an die Hand gegeben, um ihre Patienten möglichst in jeder Lebenslage adäquat behandeln zu können. Doch wer therapiert die Therapeuten? Wie geht man mit der tagtäglichen Belastung, dem Leid und den chronischen Schmerzen seiner Patienten um? Oftmals wird aus Mangel an Angeboten, aber auch, um die sowieso schon immensen Ausbildungskosten nicht noch weiter in die Höhe zu treiben, auf die Erfordernis eines Selbstfürsorgeseminars verzichtet. Hier besteht noch erhebliche Aufklärungsarbeit, um die Notwendigkeit des Erwerbs solcher Fähigkeiten populärer zu machen.
Aber auch später im Praxisalltag ist es notwendig, immer wieder innezuhalten, als Ausgleich zu der negativen Energie, der der Berater ausgesetzt ist, heilsame Begegnungen zu erfahren. Dies kann geschehen in der Familie, im Freundeskreis, beim Sport oder bei Entspannungsübungen, in denen man wieder Zeit findet, sich selbst zu begegnen. Ein weiteres Muss ist der regelmäßige Besuch von Balint- und Supervisionsgruppen. Die Kollegen lernen dort, dass sie mit ihren Schwierigkeiten und Problemen nicht alleine sind. Das betrifft sowohl die therapeutischen Techniken, als auch die persönliche Kompetenz, sich genügend abzugrenzen. Jeder Therapeut sollte eine Anlaufstelle parat haben, an die er sich wenden kann, um vertrauensvolle Supervision zu erhalten. Im Gegenzug ist vielleicht er selbst ebenfalls Anlaufstelle für andere Kollegen.
Ein offener und aufrichtiger Umgang mit dem Thema Selbstfürsorge ist überfällig. Tabus oder ein Berufsethos, das eine höhere Stufe des Menschseins als Vorbild hat, nützen niemandem. Dem Therapeuten nicht, dem Berufsstand nicht und schon gar nicht dem Patienten.
Literatur
Eva Jaeggi: Und wer therapiert die Therapeuten?
Deutscher Taschenbuch Verlag, August 2004
Otto Kernberg, Birger Dulz, Hochen Eckert (Hg.): WIR – Psychotherapeuten über sich und ihren "unmöglichen" Beruf.
Schattauer Verlag, Stuttgart 2005
Andreas Brandl
Heilpraktiker für Psychotherapie und in eigener Praxis tätig, freiberuflicher Dozent und Hypnosetherapeut in Nürnberg
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