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Selbsterfahrung in der Gruppe

Auch Coaches und Psychologische Berater/innen dürfen sich hinterfragen, bevor Sie mit Klienten arbeiten

In Lehrgängen und Weiterbildungen zum Coach, Coach-Trainer oder psychologischen Berater sollten nicht nur Coaching- oder Beratungs-Tools und theoretisches Wissen vermittelt werden. Besonders wichtig für zukünftige Beratungspersonen ist der Erwerb und die Erfahrung einer inneren Haltung, die in der Arbeit mit Klienten ein bisschen Distanz zu eigenen unbewussten Beziehungswünschen und Inszenierungen erlaubt. Dazu gehört auch, dass die Absolventen von Coaching- Weiterbildungen die Möglichkeit haben sollen, ihre eigenen Gefühle, Erfahrungen, Muster, Anschauungen in einer Selbsterfahrungsgruppe gespiegelt zu bekommen. Solche Erfahrungen werden auf dem Gebiet der Selbsterfahrung in der Gruppe nur ein Beginn sein und wecken hoffentlich das Interesse nach weiterer Arbeit in dieser Form; z. B. einer mehrjährigen Ausbildung in Gruppenanalyse oder Gruppendynamik.

In jeder Gruppenselbsterfahrung müssen sich die Teilnehmer ihren inneren Konflikten stellen und erlernen, interpersonelle Konflikte und Gruppenphänomene für die eigene Entwicklung zu nutzen. Die Erfahrung dabei zeigt, dass auch umfassendes Literaturstudium und fleißiges Üben von Coaching-Tools die Teilnehmer auf den Umgang mit den eigenen und interpersonellen Konflikten nicht ausreichend vorbereiten kann. Wer als Beratungsperson ernst genommen werden möchte, sollte sich daher einer langfristigen Selbsterfahrung von mindestens 150 Stunden unterziehen. Dieser Ausbildungsabschnitt sollte zusätzlich zu den Lehr- und Trainingsseminaren absolviert werden, die zur Tätigkeit als Coach qualifizieren! Bisher ist dies in keiner Coaching-Weiterbildung verbindlich. Einige Ausbilder integrieren "hier und da" 30–60 % "Selbsterfahrungselemente" in ihre Ausbildung und kommen so auf maximal 30–40 Stunden Selbsterfahrung innerhalb der gesamten Weiterbildung zum Coach. Selbsterfahrung ist für Coaches bitter nötig, da sich ansonsten in die gut gemeinte Prozessarbeit subtile Klienten-Manipulationen einschleichen, mit denen ein Coach eigene Ängste minimiert und eigene unerfüllte Beziehungswünsche ausagiert. Solche Arbeit hat dann nichts mit Prozessarbeit zu tun. Und auch Coaches, die sich eingestehen, dass sie zu einem großen Anteil auch "Ratgeber" sind, tappen in die gleichen unbewussten Fallen, bekämpfen in ihren Ratschlägen eigene Ängste und inszenieren ihre eigenen Beziehungsvorstellungen.

In Selbsterfahrungsseminaren lernen die Teilnehmer eine Reihe von unbewussten Phänomenen kennen, die sich in Gruppen gut nachvollziehen lassen. Hier führen wir Ihnen beispielhaft vier solcher Phänomene auf. Es gibt noch viel mehr.

1. DIE GRUPPE ALS BEISPIEL FÜR SPÄTERE EINZELBERATUNGEN

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Prozesse und Gefühle, die in der Gruppe auftreten, werden Sie später in Ihrer Arbeit mit Klienten auch erleben (z. B. Frustration, Verwirrung, Wut, Langeweile, Zuneigung, Ausblenden wichtiger Themen, Einigung auf gemeinsame Abwehrstrategien usw.): Einmal werden Sie das bei sich selbst erfahren – ein anderes Mal bei Ihren Klienten. Es ist sehr erhellend, wenn ein zukünftiger Coach von solchen Prozessen nicht nur gelesen hat, sondern sie auch in der Gruppe an sich selbst erlebt hat.

2. DIE GRUPPE ALS ORT FÜR ÜBERTRAGUNGEN

Gefühle, Gedanken und Ansichten, die Sie gegenüber anderen Personen in der Gruppe entwickeln (zum Teil in Bezug auf die Leitungsperson oder andere Personen in der Gruppe, mit denen Sie im Konflikt stehen) halten oft der "konsensuellen Validierung" Vergleich mit der Einschätzung und Stellungnahme der anderen Teilnehmer/innen. nicht stand. Durch die Rückmeldungen anderer Personen kann es so einzelnen Teilnehmer/ innen leichter zugänglich werden, dass es sich bei einigen ihrer Wahrnehmungen um Verzerrungen (Übertragungen) aufgrund alter Muster oder Beziehungskonstellationen aus der Primärfamilie handelt. Es ist sehr erhellend, aber auch schmerzlich, das am eigenen Leibe zu erfahren, da dieser Mechanismus zwar allen Absolventen aus der Lektüre von Fachliteratur bekannt ist, er aber naturgemäß im konkreten Fall beflissen geleugnet wird (unbewusste Abwehr).

3. DIE GRUPPE ALS FEEDBACK ÜBER UNSER WIRKEN IN DER WELT

Sie werden in solchen Gruppen erfahren können, dass Sie teilweise anders auf andere wirken und anderes bei anderen auslösen als Sie bisher annahmen oder bewusst gewünscht und gewollt haben. Sie erhalten von anderen Personen Feedback darüber, was Sie tatsächlich bewirken und auslösen und welche Gedanken und Gefühle Sie bei anderen bewirken.

4. DIE GRUPPE ALS ORT UNBEWUSSTEN WIRKENS

In der Gruppe wird gelegentlich auch "zwischen den Zeilen" zugehört und angesprochen, auf welche Weise sich (auch aggressive, spaltende, konspirative, machtorientierte . . . ) unbewusste Botschaften in freundliche oder unverfängliche Obertöne einschleichen oder auf welche Weise wichtige Themen in der Gruppe immer wieder verschwiegen oder nicht direkt angefasst werden. Viele Themen werden nur symbolisch oder in Stellvertretergeschichten bearbeitet, um einer bewussten Klärung auszuweichen. Dies ist in Gruppen mit professionellen Beratern genauso üblich wie in Laiengruppen!

DAS WORT SELBSTERFAHRUNG MACHT SELBST DEN MEISTEN BERATUNGSPROFIS ANGST

Solche Ängste sind verständlich und werden (oft noch wenig bewusst) von fast allen zukünftigen Coaches geteilt. In jungen Selbsterfahrungsgruppen tauchen oft regressive Phänomene auf, die sich in irrationalen oder sogar "unzivilisierten" Befürchtungen äußern. Diese Phänomene sind für die Gruppe meist nicht erkennbar und äußern sich szenisch oder symbolisch in Sprache und Verhalten. Alle Teilnehmer/ innen nehmen aber bewusst wahr, dass sie mehr oder weniger gespannt und ängstlich sind. Bei genauem Nachspüren berichten dann einige Teilnehmer/innen, dass sie eine Furcht vor Bloßstellung empfinden, eine Scham, eine Angst vor den fremden Personen, ein Gefühl der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins.

In dieser Phase kommt es auch oft zu interpersonellen Konflikten mit narzisstischen Kränkungen (Verletzung der Selbstachtung und des Selbstbildes durch das Feedback der anderen oder durch Bemerkungen der Leitungsperson). Teilnehmer/innen fühlen sich dann oft nicht wertgeschätzt, fühlen sich ausgeschlossen, abgelehnt, missverstanden, "wie in einem falschen Film". Es entsteht dann oft ein "Spiel", in dem die narzisstischen Kränkungen vergolten und zurückgegeben werden. In dieser Phase wird auch die "Macht" in der Gruppe unter den Teilnehmer/innen nach subtilen unbewussten Regeln verteilt (wem geht es am schlechtesten, wer ist mit der Selbsterfahrung am weitesten, wer darf wen kritisieren, wer hat das beste Privatoder Berufsleben, wer kann sich am meisten öffnen, wer kann dem Leiter widerstehen, wer kann den Leiter am besten verstehen und es ihm nachtun usw.). Es kommt gelegentlich zu Gefühlen von Wut, Frustration, Langeweile, Ablehnung aller anderen, Entwertung der anderen (hier kann mir niemand etwas geben!), Feindseligkeit gegenüber anderen oder der Leitungsperson.

Im späteren Verlauf der Selbsterfahrungsgruppe kommt es dann zu anderen Phänomenen: Jetzt werden – erkennbar für neutrale Beobachter, noch nicht für die Betroffenen – Übertragungen, Projektionen und projektive Identifikationen offensichtlich. Die Mitglieder beleben alte Geschwisterrivalitäten aus ihrer Primärfamilie in der Gruppe oder bilden abwehrende Untergruppen. All diese Phänomene – und noch viele weitere! – verwirren, frustrieren und führen gelegentlich dazu, dass eine Person "innerlich abschaltet" und nicht weiter an sich arbeitet. In ambulanten Psychotherapiegruppen, treten in diesen Situationen auch bis zu 30 % der Personen in der Frühphase der Gruppe wieder aus und brechen die Selbsterfahrung oder Therapie ab.

In Selbsterfahrungsseminaren, die Bestandteil einer Coaching-Weiterbildung sind, ist das wegen der ungünstigeren Stornobedingungen meist anders. Außerdem möchte fast alle Teilnehmer ein Ausbildungszertifikat erwerben und sind auf diese Weise genügend von außen motiviert, um durchzuhalten. Die Teilnehmer, die sich den oben genannten Phänomenen stellen, können von den Erfahrungen profitieren indem sie diese in der Gruppe bearbeiten – oder "durcharbeiten". Nachbefragungen (Evaluation, Effektivitätsstudien) zeigen, dass sich diese Arbeit sowohl in der Gruppentherapie als auch in der Gruppenselbsterfahrung und -ausbildung lohnt.

Aus Studien über Gruppentherapien weiß man, dass es sich auf die Lernmöglichkeiten, den Therapieeffekt (oder Selbsterfahrungswert) und die Abbrecherquote in einer Gruppe positiv auswirkt, wenn einige dieser Ängste und Probleme, die in Gruppen auftreten können, im Voraus angesprochen werden oder wenn darüber schriftlich informiert wird (ein Überblickskapitel mit Literaturstellen zur Vertiefung findet sich in Yalom: Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie, 6. Aufl. 2001, S. 300 ff.). Besonders in der Anfangsphase eines Gruppenprozesses oder in Kurzzeitgruppen kann so die Effektivität der Gruppe deutlich verbessert werden. Dabei können in der Vorinformation auch typische Vorurteile, Klischees, Konfliktmuster und Probleme angesprochen werden, die fast immer wieder auftreten und die Gruppenarbeit einmal bereichern, ein anderes Mal aber lähmen oder behindern könnten. Solche schriftlichen Vorinformationen können folgende Punkte enthalten:

Welche Vorurteile oder Ängste haben Ausbildungskandidaten vor einem Selbsterfahrungsseminar und welche verwirrenden Prozesse treten im Seminar auf?

Gruppenselbsterfahrung sei nicht kalkulierbar und gehe mit fehlender persönlicher Kontrolle einher. Den Teilnehmern würden Enthüllungen abgerungen und jeder müsse sich ganz offenbaren. Dabei könne es auch passieren, dass jemand mit sehr ängstigenden und lange vergrabenen Anteilen in sich in Berührung komme und daran zerbreche.

Sie werden in den meisten Coaching- oder Beratungsausbildungen mit Selbsterfahrungsanteil die persönliche Kontrolle behalten und können jederzeit selbst darüber entscheiden, was Sie erzählen. Es muss also nicht jeder der Reihe nach "aus dem Nähkästchen plaudern"! Die Angst, sich selbst kennen zu lernen ist meist irrationaler als das, was dann tatsächlich passiert. Einige Teilnehmer/innen könnten etwas weinen oder für einige Zeit wütend oder verwirrt sein. Viel "schlimmer" sind die Konsequenzen dieser neuen Erfahrung meist nicht.

Gruppenselbsterfahrung sei nicht so wirkungsvoll wie eine Einzelselbsterfahrung (z. B. bei einem Coach oder Therapeuten), da die Teilnehmer in der Gruppe nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit der Gruppenleitung erhielten. Schließlich könnten Blinde doch keine Blinden führen. Außerdem bestünde die Gefahr seine einzigartige Individualität in der Gruppe zu verlieren.

Es gibt zahlreiche Studien, die eindeutig belegen, dass Gruppentherapien und Gruppenselbsterfahrungen mindestens so wirksam sind wie Einzelarbeit. In den meisten Studien schneidet die Gruppenarbeit sogar besser ab, da eine Gruppe sich nicht so leicht um den Finger wickeln lässt wie ein Einzelberater und auch ein viel breiteres Spektrum an Feedback zur Verfügung stellt. In der Gruppe kommt es auch nicht so leicht zu dem lähmenden Phänomen einer nicht auflösbaren Übertragung und Gegenübertragung. Es ist also nicht so wichtig "vom Leiter gesehen" zu werden. Ganz andere Prozesse sind für Erfolg und Nachhaltigkeit verantwortlich: Die ausgleichende, die Perspektive weitende und klärende Dynamik der Gruppe.

Es könne schädlich sein, in einer Gruppe mit vielen Menschen zusammen zu sein, die möglicherweise komisch oder sogar psychisch gestört sind. Dadurch könnte man emotional angesteckt werden oder sogar selbst anfangen, komisch oder gestört zu werden. Oder man geht wieder nach Hause und alle Beziehungen brechen dort zusammen.

Auch diese Befürchtung hat sich in zahlreichen Studien als unbegründet erwiesen. Im Gegenteil: Die Vielfalt von Persönlichkeitszügen, Anschauungen oder Handlungsmustern führt eher zu einer Toleranz und "Gutmütigkeit" gegenüber eigenen Ängsten, Befürchtungen oder abgelehnten Zügen. Tatsächlich kann es nach Selbsterfahrungsseminaren gelegentlich zu Scheidungen oder Kündigungen kommen. Die Grundlagen dafür wurde aber meist schon viele Monate oder Jahre vorher gelegt und einige Teilnehmer entwickeln erst im Seminar die nötige Klarheit, um lange aufgeschobene Handlungen auszuüben. Viele Teilnehmer/innen sagen auch im Nachhinein, dass sie ins Seminar kamen und genau wussten, dass sie an einem bestimmten Thema arbeiten wollten und die Konsequenzen auch schon vorher ins Auge gefasst hatten ("es fehlte nur noch der letzte eigene Anstoß zur Handlung").

In einigen Teilnehmern tauchen alte Ängste wieder auf: abgelehnt oder ausgeschlossen zu werden. Alle Kinder kennen diese Angst noch. Die meisten Erwachsenen haben dieses Gefühl beiseite geschoben und verleugnen oder rationalisieren es. Im Gruppenanfang taucht es oft wieder auf (und wird auch hier oft in unkonstruktive Bahnen verschoben).

Aus der Geschichte der meisten Menschen sind solche archaischen Ängste verständlich. In Selbsterfahrungsseminaren wird behutsam damit umgegangen und zu Beginn ist die Gruppe vorwiegend damit beschäftigt, sich langsam kennen zu lernen und ein erstes Gefühl von Gruppenkohäsion herzustellen.

Einige Teilnehmer/innen befürchten nicht nur, dass sie möglicherweise abgelehnt oder ausgestoßen werden. Sie haben auch die (kaum bewusste) Vorstellung, dass ihre Äußerungen oder Offenbarungen kritische, verächtliche, spöttische oder demütigende Reaktionen bei den anderen Teilnehmer/innen oder der Gruppenleitung hervorrufen könnten. Darin ist zum Teil auch die Angst enthalten, eigene feindselige und aggressive Impulse auszuleben (die sonst hinter Freundlichkeiten verborgen schlummern).

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Spätestens in der zweiten Hälfte von Selbsterfahrungsseminaren sollte ehrlich und gelegentlich auch "hart" miteinander umgegangen werden. Dabei sollte das Klima aber immer so wohlwollend und freundlich bleiben, dass nie ein strenger und mitleidsloser "Gerichtshof" tagt, sondern dass den Teilnehmern schlimmstenfalls ein kollegiales und förderndes Feedback entgegenbläst. Die Teilnehmer werden auch erfahren, dass eigene "Aggressivität" auf andere weit weniger zerstörerisch wirkt, als sie bisher meinten. Die anderen werden überleben und die tragfähige Beziehung in der Gruppe wird es auch überleben, wenn einmal "versehentlich" über die Strenge geschlagen wird. Das ist eine wichtige Erfahrung.


Manche Teilnehmer/innen machen sich um die Vertraulichkeit Sorgen. Andere werden sich sehr vertraut.

Die meisten Weiterbildungs- und Selbsterfahrungsgruppen vereinbaren, dass alles, was Teilnehmer über andere Personen im Seminar erfahren, in der Gruppe bleibt und nicht nach außen getragen wird!

Im Rahmen von Selbsterfahrungsseminaren "verlieben" sich gelegentlich Teilnehmer ineinander und beginnen eine Affäre, die in der Regel nicht sehr lange hält. Das hält diese Teilnehmer meist davon ab, sich mit alten Mustern auseinander zu setzen, da sie fast nur noch auf das "neue" Gefühl konzentriert sind. Die Gruppe kann durch die Affäre (die zunächst meist "heimlich" nebenherläuft) auch sehr von ihrer eigentlichen Arbeit abgelenkt werden. Nutzen Sie die Gruppe als Ort der Selbsterfahrung über die Art Ihres Beziehungsverhaltens und auch Ihres Konfliktverhaltens – nicht als Ort, in dem Sie sonst fehlende tiefere Beziehungen knüpfen möchten.

Viele Teilnehmer möchten nur Coaching- Tools erlernen und halten Selbsterfahrung für unwichtig (weil sie schon alt genug sind oder schon alles über sich erfahren haben). Selbsterfahrung ist ein Angebot, das in Selbsterfahrungsseminaren nur etwa 80 % der Teilnehmer konstruktiv nutzen möchten. Die anderen 20 % werden im Nachhinein den Eindruck haben, sie hätten zu wenig "Tools" erlernt.

Einige Teilnehmer/innen glauben, dass eine harmonische Gruppe besonders erfolgreich und "toll" ist. Um diese Harmonie zu erzeugen und um sie nicht zu gefährden, müsse man bestimmte Eindrücke, Gefühle und Gedanken lieber verschweigen.

Eine "arbeitsfähige Gruppe" ist besonders erfolgreich – das ist aber meist keine "harmo nische Gruppe". Arbeitsfähig sind Gruppen, die einen starken inneren Zusammenhalt haben. Gerade weil diese Gruppen einen so tragfähigen Zusammenhalt haben, erlauben sie sich, dass es auch einmal "krachen" darf und dass auch Unangenehmes angesprochen und erlebt werden darf (Frust, Langeweile, "Generve", Ängste, Wut, Verwirrung . . . ). In solchen Gruppen dürfen die Teilnehmer erfahren, wie sie sonst enge Beziehungen herstellen und pflegen, welche Inszenierungen sie gerne ausleben. Und in solchen Gruppen dürfen sie ihre positiven und ehrlichen Gefühle gegenüber den anderen ehrlich ausdrücken und auf ehrliche Antworten hoffen. Manchmal schmerzt das. Mit der Zeit entwickelt sich daraus aber eine neue Sicht auf sich selbst und ein anderer Umgang mit den Klienten.

Einige Teilnehmer meinen, ein guter Gruppenleiter müsse die Gruppe immer gut unterhalten und alles klar erkennbar und nachvollziehbar halten.

Vielleicht stimmt das für Vorträge und erwachsenenpädagogische Wissensvermittlung. Leider trifft das nicht auf Selbsterfahrungsseminare zu! Es ist anfangs unvermeidlich, dass fast alle Teilnehmer in den ersten Stunden (oder Tagen) ein Gefühl der Verwirrung, Entmutigung, Frustration erfahren, da die Gruppenleitung in Selbsterfahrungsseminaren nicht die spezifischen Beziehungswünsche erfüllt, die einzelne Teilnehmer mit in das Seminar bringen. Gruppenselbsterfahrung kann nur wirken, wenn der Leiter sich hier und da zurücknimmt und die Struktur gelegentlich offen oder vage hält. Das erhöht oft die Spannung oder Angst, da der Leiter in diesem Moment die erhoffte "Führungs- funktion" nicht übernimmt, sondern einem unbestimmten Gruppenprozess "die Macht" in die Hand gibt. Diese Angst vor unstrukturierten Prozessen ist in der Forschung, in der Literatur und Kunst gut bekannt. Sie kann in der Gruppe wichtige Prozesse auslösen. Gleichzeitig ist aber auch bekannt, dass Leiter, die diese Prozesse ermöglichen, als "schwach" oder wenig kompetent wahrgenommen werden (unbewusst: Abwehr der eigenen Angst und Verantwortlichkeit). Erst nach einigen Tagen oder Wochen kann dieses Leiterverhalten von fast allen Teilnehmern als sinnvoll verstanden und akzeptiert werden.

Einige Teilnehmer wünschen sich mehr Nähe oder mehr Abstand zur Leitung. Manche beschäftigen sich auf die eine oder andere Weise noch viele Wochen mit der Leitung.

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Damit sich eine arbeitsfähige Selbsterfahrungsgruppe gut entwickeln kann, muss die Leitung sich angemessen zurücknehmen. Zwar darf die Leitung eigene Gefühle und Ansichten in die Gruppe geben (z. B. im Modell der so genannten psychodynamischinteraktionelle Gruppenleitung), trotzdem sollte die Leitung in vielen Belangen "abstinent" bleiben und auch die Dynamik als Ganzes im Auge behalten. Das geht meist nur, wenn sich die Leitung etwas "heraushält" und sich z. B. abends oder in den Phasen zwischen den Gruppensitzungen von der Gruppe mehr oder weniger distanziert. Viele Gruppenteilnehmer werden das schade finden und als "Kälte" interpretieren oder sogar als "Unnahbarkeit" ("Verstecken hinter einer Rolle", etwas "Sphinxhaftes" oder "Stoisches" in der Haltung der Leitung). Dann tauchen auch die Phantasien auf, ob die Leitungsperson wohl auch im Privatleben so unnahbar sei. Andere Teilnehmer dagegen sind sehr froh, wenn sie von der Leitungsperson nicht zu sehr gesehen und nicht von ihr beobachtet und "kontrolliert" werden. Auch hier wieder kommen alle Teilnehmer mit ihren ganz eigenen Beziehungswünschen und Beziehungsvergangenheiten, die sich oft zunächst in der Person der Gruppenleitung spiegeln und als interpersonelle Konfliktherde wahrgenommen werden – obwohl es doch eigentlich intrapsychische Konflikte sind.

Manche Teilnehmer/innen suchen auch Wochen nach dem Seminar noch eine enge Bindung und Kontakt zum Leiter (z. B. durch häufige Anrufe, Mails, Briefe), die dann "überhaupt nichts mit dem Seminar zu tun haben". Meist hat das aber doch noch sehr viel mit dem Seminar zu tun und in diesem Streben werden Beziehungswünsche aus früheren Erfahrungen wieder wach (z.B. Enttäuschung, Zuneigung, Wunsch nach näherem privaten kennenlernen, Wut, Hass, Liebe usw.). Die Leitungspersonen können dann auf diese Kontaktwünsche oder "Übertragungslieben" leider oft nicht in der gewünschten Weise eingehen und werden diese auch nach vielen Monaten noch als ein Teil der Gruppendynamik oder Psychodynamik der Teilnehmer betrachten.

Viele Teilnehmer an Selbsterfahrungsseminaren äußern im Nachhinein folgende Vorstellung: Seminare sollten einem dramaturgischen Wandel unterliegen. Spannung sollte bis etwa über die Mitte der Zeit hin aufgebaut werden und zum Ende hin sollte sich für jeden eine Lösung ergeben, die es jedem Teilnehmer erlaubt, in heiterer Gelöstheit, gestärkt und mit großer Klarheit nach Hause zu gehen. Es führt daher bei vielen Teilnehmern zu Verwirrung, wenn am Ende des Seminars mehr Fragen entdeckt wurden als schlüssige Antworten und fertige Lösungen. Daraus ergeben sich gelegentlich Konflikte in der Familie der Teilnehmer und auch Konflikte mit der Leitung.

Leider ist das überhaupt nicht so, dass sofort am Ende einer Beratung oder einer Selbsterfahrung eine lösende Antwort auftaucht! Wer nach einem Selbsterfahrungsseminar gelöst, klar, ohne Fragen, ohne Zweifel, unverändert nach Hause geht, konnte leider durch die Gruppe nicht allzu viel in sich selbst bewegt werden. Gerade die vielen neuen Fragen und Konflikte, die jemand zu sich selbst entdeckt hat (die aber schon vorher in jedem schlummerten!) machen die Wirkung eines Selbsterfahrungsseminars aus. Diese Wirkung entfaltet sich oft erst in den Tagen und Wochen nach dem Seminar: Teilnehmer spüren Verwirrung, Traurigkeit, stellen sich neu in Frage, Angehörige oder Freunde sind verwirrt und schimpfen auf die schädliche Wirkung des Selbsterfahrungsseminars (da es das systemische Gleichgewicht des bisherigen Beziehungsgeflechtes in Frage stellt). Solche Nachwirkungen sind aber normal und bereiten den Weg zu Veränderung, Klärung und Lösung. Niemand hat den Teilnehmern versprochen, dass dieser Prozess nur lustig oder versöhnlich sein würde. Niemand hat ihnen versprochen, dass dieser Weg ohne Angst oder Verwirrung beginnen wird. Stellen Sie sich der Verwirrung und auch den Gefühlen und Gedanken, die sich nach einem solchen Seminar entwickeln können. Nehmen Sie wahr, welche Entwicklungschancen darin für Sie verborgen liegen. Übrigens: Unseren Klienten wird es nicht anders gehen. Auch ihre Lösung wird meist nicht durch uns in der Beratungsstunde bewirkt, sondern durch eine Neuorientierung, die der Klient selbst leisten muss. Diese Neuorientierung geht mit Konflikten, mit Angst, Unsicherheit und Zweifel einher, wenn es sich um existentielle und wesentliche Themen des Lebens handelt. Auch in der Einzelberatung müssen wir dem Klienten die Freiheit gewähren, sich diesen Gefühlen und Gedanken zu stellen. Das macht es so kostbar: Die Erfahrung über sich selbst wird nicht verschenkt, sondern selbst erlebt und selbst erarbeitet. Und was daraus erwächst, "gehört" dem Klienten und nicht dem Berater, der bestenfalls den Anstoß dazu gegeben hat.

Das war nur eine kleine Auswahl möglicher Gruppenphänomene, die sich auf die spätere Arbeit als Einzelberater und Coach übertragen lassen. Sie werden viele weitere verwirrende, störende und lehrreiche Prozesse erleben, wenn Sie an einer solchen Selbsterfahrung teilnehmen: Die Wirkung von Untergruppen, Spaltung, Abwehrgruppen, Solidarisierungen, Machtkämpfe, Konkurrenz, Neid . . . Viele dieser Themen kommen eher im geheimen Lehrplan der Gruppe vor, während bewusst (an der "Oberfläche") über anderes geredet wird. Einiges davon werden Sie in der Gruppe dann hoffentlich unter der Gruppen-"Lupe" näher betrachten dürfen.

Vielleicht haben Sie es gemerkt: Mit diesem Text wollte ich Sie, wenn Sie Coach oder Trainer werden möchten oder bereits sind, dazu animieren, sich eine Selbsterfahrung in einer Gruppe zu gönnen, damit Sie sich nicht in der falschen Vorstellung verrennen, dass Sie als Coach oder Psychologischer Berater Prozessarbeit leisten können, ohne sich vorher selbst den Beziehungswünschen, Konflikten und Lieblingsinszenierungen gestellt zu haben, die in Ihnen liegen und die Sie in Ihrer Arbeit mit anderen Menschen immer wieder unbewusst ausagieren.

 


Dr. Björn Migge
Oberarzt und Dozent am Uni-Spital Zürich.
Autor des "Handbuch Coaching und Beratung" (Beltz 10/05, 640 S.), leitet monatlich Encounter-Gruppen für zukünftige Coaches, Berater/innen und Trainer/innen. www.drmigge.de