Autogenes Training als Methode der Gruppen- und Familientherapie
Gruppen zum Erlernen des Autogenen Trainings, dieser seit 80 Jahren bewährten und wissenschaftlich fundierten Methode zur aktiven Selbstentspannung und positiven Selbstbeeinflussung, werden von vielen Psychologen, Heilpraktikern und Psychotherapeuten zusätzlich zur Einzelberatung angeboten. Dies hat seinen guten Sinn, zum einen, weil rund 80 Prozent aller Ratsuchenden über psychosomatische Beschwerden als Begleiterscheinung zu ihren psychosozialen Konflikten klagen. Und zum anderen, weil sich das AT mit seinen sechs einfach zu erlernenden Grundübungen zur Linderung solch funktioneller Beschwerden hervorragend bewährt hat.
Die positive Wirkung des Autogenen Trainings beruht auf einer allgemeinen Harmonisierung des gestörten Gleichgewichts von Anspannung und Entspannung. Körper und Seele finden ihren eigenen Rhythmus wieder. Wird das AT regelmäßig geübt, bringt es – ohne schädliche Nebenwirkungen – psychische Entspannung und Ausgeglichenheit, innere Ruhe und Sicherheit.
Dabei ist das Autogene Training kein bloß "zudeckendes" Verfahren, das – wie gelegentlich behauptet wird – die eigentliche Problematik gar nicht anspreche, ja vielleicht nur eine Symptomverschiebung erreiche. Dazu schreibt die Kinderärztin W. Kruse: "Dieser Vorwurf trifft in meinen Augen weniger das Autogene Training als vielmehr die unkritische und häufig sehr großzügige Verordnung von Psychopharmaka; wird doch bei der Symptombehandlung ausschließlich durch Medikamente in keiner Weise auf die psychische Störung eingegangen. So sieht oft der Arzt in dem Verschreiben von ,leichten’ Schlafmitteln oder Medikamenten die einzige Möglichkeit zur Bekämpfung der Schulangst, zur Steigerung der Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit. Jedem von uns sind derartige Rezeptwünsche von Seiten der Eltern, oftmals sogar schon von den Kindern ausgesprochen, bekannt." (Einführung in das Autogene Training mit Kindern, Köln 1980, S. 17.)
MIT DEM AUTOGENEN TRAINING WERDEN NICHT NUR BESCHWERDEN ANGEGANGEN, SONDERN AUCH URSACHEN AUFGEDECKT
Mit dem AT hingegen werden nicht nur die Beschwerden angegangen, sondern auch die Ursachen aufgedeckt. Man gewinnt inneren Abstand zu belastenden Konflikten und klarere Sicht. Vielfach können durch die Entspannungsübungen neue Kräfte gewonnen und dann auch vorher unlösbar erscheinende Probleme aktiv angegangen werden. Stagnationsphasen in der Einzelberatung werden rasch überwunden, wenn die Klienten das AT nicht nur passiv über sich ergehen lassen, sondern es sich wirklich zu eigen machen und dabei erleben, dass sie sich mit diesen Übungen selbst helfen können.
DIE TEILNEHMER KOMMEN ZU EINEM INTENSIVEN AUSTAUSCH ÜBER IHRE LEBENSSITUATION
Über das gemeinsame Bedürfnis, Entspannung zu lernen und Stress abzubauen, kommen die Teilnehmer zu einem intensiven Austausch über ihre Lebenssituation. Hier erzählt die Bandarbeiterin von dem ständig antreibenden Akkordsystem und der Ingenieur von dem ihn bedrängenden Rationalisierungsdruck. Die Abiturientin, die sich auf ihre Prüfung vorbereiten will, hört dem Ehepaar zu, das einen neuen Lebensrhythmus nach dem vorzeitigen Ruhestand sucht. Der junge Mann, der unter der Kritik seines Chefs immer kleiner wird, sitzt neben dem Abteilungsleiter, der sein Magengeschwür auskurieren will. Die Mutter, die sich von ihren beiden kleinen Kindern aufgefressen fühlt, lernt von der Familie, die gleich komplett erschienen ist, um mehr Ruhe und Ausgeglichenheit für ihr Zusammenleben zu finden. Die Ehefrau, die durch die Pflege ihres schwerkranken Mannes stark gefordert ist, wird durch die Krankenschwester getröstet, die die Belastungen des Schichtdienstes abbauen möchte …
EINE ENTLASTUNG UND GESUNDUNG DES EINZELNEN FÜHRT ZU EINER ENTKRAMPFUNG UND BERUHIGUNG DES FAMILIENLEBENS
Mit nur etwas Phantasie kann man sich vorstellen, wie hier jeweils nicht nur der einzelne Kursteilnehmer, sondern die gesamte Familie betroffen ist, und wie umgekehrt eine Entlastung und Gesundung des einzelnen zu einer Entkrampfung und Beruhigung des Familienlebens führt.
Abschließend möchte ich einige Erfahrungen und Anregungen speziell aus den Kinderkursen und Eltern-Kind-Gruppen weitergeben.
Vor einigen Jahren habe ich neben den Gruppen für Erwachsene auch noch solche für Schulkinder angeboten. Das Ausmaß an schulischen und familiären Belastungen, an Verhaltens- und Gesundheitsstörungen, aber auch an Medikamentenmissbrauch ist bekannt. Die Kinder, etwa 60 % Jungen und 40 % Mädchen, kamen auch gern zu den Trainingsstunden, die ich durch verschiedene Bewegungs- und Konzentrationsspiele auflockerte. Dennoch blieben die Erfolge hinter den Erwartungen zurück oder waren relativ kurzfristig. Das lag zweifellos daran, dass sich die Eltern trotz einleitender aufklärender Gespräche die Durchführung der AT-Übungen nicht konkret vorstellen und ihre Kinder beim häuslichen Üben dementsprechend wenig unterstützen konnten. In ihrem Plädoyer für das "Autogene Training mit der ganzen Familie" (Düsseldorf/Wien 1986) schreibt Gisela Eberlein dazu: "Was nützt es, wenn ein Mitglied der Familie Autogenes Training erlernt hat, es anwenden und damit leben möchte, jedoch von den anderen, in diesem Fall den engsten Familienmitgliedern, nicht verstanden wird?" (S. 17.) Waltraud Kruse hält es daher für empfehlenswert, Eltern darauf hinzuweisen, dass das Verständnis für ihre Kinder und die damit einhergehende Selbsterfahrung durch eigene Teilnahme an einem AT-Kurs weiter gefördert werden kann. (a. a. O. S. 41.) Der Kinderpsychiater Gerd Biermann berichtete sogar, dass bei bestimmten Krankheitsbildern (z.B. Asthma) allein mit dem AT bei den Müttern eine Besserung der kindlichen Symptome erreicht werden konnte. (vgl. "Autogenes Training mit Kindern und Jugendlichen", München/ Basel 1975, S. 24ff.)
Von daher lag es nahe, gemeinsame Gruppen für Kinder und Eltern anzubieten. Schon in der Ausschreibung wurde darauf hingewiesen, dass wenigstens ein Elternteil das Kind im Kurs begleiten sollte. Dies leuchtete den meisten Erwachsenen spätestens dann ein, wenn man sie an die alltäglich zu machende Beobachtung erinnerte, wie sehr Nervosität "ansteckt", und ihnen verdeutlichte, dass auch Ruhe "ansteckend" sein kann. Im Kurs stellte ich mich in Sprache und Aufbau der Übungen und Beispiele ganz auf die Kinder ein und mutete den Eltern zu, das für sie Wesentliche daraus zu entnehmen. So wurden z. B. die Schwere, Wärme-, Ruheund Atemimpulse häufig auch in den Handlungsablauf eines Märchens oder einer Phantasiegeschichte integriert vermittelt (vgl. dazu: E. Müller, "Auf der Silberlichtstraße des Mondes", Frankfurt 1985).
DIE ENTSPANNUNG SOLL "AUTOGEN", SELBST ENTWICKELT UND SELBSTGESTEUERT BLEIBEN. NUR DANN KANN SIE AUCH DAS SELBSTBEWUSSTSEIN FESTIGEN
In aller Regel lassen sich die Mütter und Väter gern darauf ein und entdecken an sich selbst wieder ihre kindliche, spielerische, träumerische Seite. Während das Üben im Kurs gemeinsam geschieht, ist es wichtig, die Eltern anzuhalten, die Kinder zu Hause selbständig und ohne ihre Anwesenheit trainieren zu lassen. Die Entspannung soll "autogen", selbst entwickelt und selbst gesteuert bleiben. Nur dann kann sie auch das Selbstbewusstsein festigen und Reifungsschritte erleichtern. Sie soll Spaß machen und nicht den Geschmack von Hausaufgaben oder anderen unangenehmen Pflichten bekommen. Aufgabe der Eltern ist es lediglich, das Kind an die in den Tagesablauf eingebauten Übungssitzungen zu erinnern – und umgekehrt!
Durch das gemeinsame und doch eigenständige Lernen einer neuen Fähigkeit kann sich, wie ich immer wieder beobachte, das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern entkrampfen und das Familienklima insgesamt verbessern. Die Fixierung auf Schulleistungen oder bestimmte Störungen lässt nach, es sei denn, eine Familie ist in einer neurotischen Konstruktion auf den "Symptomträger" angewiesen und lässt aus diesem Grunde eine Therapie bzw. Gesundung des Kindes gar nicht zu. Hier muss dann mit anderen Methoden der Familientherapie weitergearbeitet werden.
Dr. Werner Weishaupt
Dozent und Heilpraktiker für Psychotherapie
Ausbilder von Seminarleitern für das Autogene Training