Unbewusstes sichtbar machen
So beschloss ich eine Ausbildung zur Kunsttherapeutin zu beginnen. Im Rahmen von Praktika, die die Ausbildung begleiteten, habe ich interessante Beobachtungen u. a. in einem heilpädagogischen Kindergarten machen können.
In diesem heilpädagogischen Kindergarten wurden entwicklungsverzögerte, geistig und mehrfach behinderte Kinder bis zum Schulalter begleitet, um die Entwicklung ihrer Gesamtpersönlichkeit zu fördern. Die Bildung und Erziehung richtete sich auf folgende Lernbereiche: Sensorik, Motorik, Kognition und Sprache, Selbstversorgung, soziale Beziehung, Natur, Umwelt, musisch-kreative Tätigkeiten sowie Spielen. Die weitere Förderung war auf die Eigenaktivität des Kindes gerichtet, z. B. das therapeutische Reiten oder die Wassergewöhnung. Die Gruppengröße betrug in der Regel 6 Kinder. Jede Gruppe wurde von zwei Fachkräften und weiteren begleitenden Diensten, wie Ergotherapeuten, Gymnastiklehrer, Musiktherapeuten, Psychologen, Krankengymnasten und Sprachtherapeuten, betreut und gefördert.
Wenn die Kinder morgens im Kindergarten ankamen, sammelten sie sich zunächst alle für den Morgenkreis und sangen gemeinsam. Danach gingen sie zur eigenen Gruppe und frühstückten. Hierbei berichteten sie der Erzieherin aus ihren Aufgabenheften, in denen die Eltern wichtige Informationen, wie z. B. Privattermine, Essgewohnheiten, Vorfälle etc. festhielten. Nach den Vorgaben des Wochenplanes wurde nun der weitere Tagesablauf gestaltet. Hierzu gehörten z. B., Verkehrserziehung, Wahrnehmungsübungen, Turnen, bildnerisches Gestalten, Frühstück zubereiten, Fahrzeuge fahren, sprachliche Entwicklung, Einüben lebenspraktischer Fertigkeiten, wie An- und Ausziehen, hygienische Grundregeln usw.
Die Kinder meiner Gruppe waren leicht körperlich behindert oder hatten größere Sehschwierigkeiten, waren hyperaktiv bzw. phlegmatisch oder schwer erziehbar. Aufgabe der Erzieherinnen war es, den Kindern neue Impulse zu geben und sie zu Aktivitäten zu motivieren. Hierzu war viel Geduld und Ruhe erforderlich, da die Kinder nur sehr schwer zu etwas zu bewegen waren. Auch fehlte es ihnen an Dauerhaftigkeit und Konzentrationsfähigkeit.
Am Anfang arbeitete ich mit allen Kindern gemeinsam in einer Lerngruppe. Sie sollten malen, basteln oder mit Ton modellieren. Hier zeigten sich bei einigen Kindern Schwierigkeiten in der Feinmotorik. Es fiel ihnen z. B. schwer, mit der Schere zu arbeiten, Farbe und Kleber zu dosieren oder mit bzw. ohne Themenvorgabe leichte Figuren zu malen. Wiederholt stellte ich fest, dass nur eine Einzelbetreuung den gewünschten Erfolg bringen konnte. Durch die Ermutigung und Sicherheit des einzelnen Kindes sollte die „Ich-Stärkung" bewirkt werden und das Unbewusstsein sichtbar gemacht werden.
Ein Beispiel für die Einzel-Kunsttherapie war die Arbeit mit M., ein 7 Jahre alter Junge. Seine Eltern waren beide berufstätig. Seine 12-jährige Schwester war normal entwickelt. Bei M. handelte es sich um ein entwicklungsverzögertes Kind, das durch eine angeborene Blindheit des linken Auges sehr gehandikapt war, da insbesondere dreidimensionales Sehen bei dieser Augenkrankheit nicht möglich ist. Aufgrund der Sehbehinderung bestand eine Schiefhalsstellung mit einer Wirbelsäulenskoliose. Weiterhin war eine Entwicklungsstörung im fein- und grobmotorischen Bereich festzustellen sowie eine allgemeine Sprachentwicklungsverzögerung.
Beim nächsten Treffen gab ich ihm eine Kreisform-Bildvorlage, in die er mit Kreide eine Spirale zeichnen sollte. Offensichtlich war M. hiermit überfordert und ließ sich auf keine weitere Aufgabe dieser Art mehr ein. Auch Arbeiten mit Ton bereiteten dem Kind ähnliche Schwierigkeiten. Generell tat er sich mit der Darstellung von Formen sehr schwer. Meine Beobachtung war, dass M. den Schritt von der inneren Vorstellung hin zur Sichtbarmachung nur mit sehr viel Mühe vollziehen konnte. Diese Unsicherheit ließe sich zumindest teilweise überwinden durch weitere Bewusstmachung von inneren Bildern. Genau hier kann die Kunsttherapie mit gestalterischen Methoden einen nachhaltigen Erfolg erzielen.
Mein kunsttherapeutisches Konzept war, den Kindern schrittweise z. B. durch zunehmenden Einsatz von Farben und sich steigernde Anforderungen neue Wege aufzuzeigen und ihnen die Angst vor dem Malen zu nehmen. Dadurch sollte die Stärkung ihres Bewusstseins für sich selbst und ihre Umwelt gefördert werden. Bedauernswert ist, dass immer noch an zahlreichen öffentlichen Einrichtungen zu wenig Kenntnisse über kunsttherapeutisches Arbeiten vorhanden sind und somit auch die verdiente Wertschätzung ausbleibt. Leider bestätigt dies den traurigen Trend, dass Kunst im Allgemeinen in der Gesellschaft, im Kindergarten oder in der Schule zunehmend an Einfluss und Bedeutung verliert.
Nicht jede kreative Übung in Bezug auf bildnerisches Gestalten ist jedoch als Therapie zu verstehen. Bei der Kunsttherapiearbeit muss der Klient seine Gedanken , Gefühle, Ängste, Träume und Phantasien zum Ausdruck bringen und seine inneren Bilder vermitteln. Nur so können innere Prozesse bewusst gemacht und Lösungsmöglichkeiten entwickelt werden. Kunsttherapie nimmt den Menschen in seiner Ganzheit an und bietet so eine sinnvolle Alternative zu anderen medizinischen bzw. psychotherapeutischen Behandlungsverfahren oder kann diese gut ergänzen. Trotzdem ist es wichtig, von vornherein klarzustellen, dass Kunsttherapie kein Allheilmittel ist. Es wäre falsch zu glauben, dass mit ihr jedes psychische Problem gelöst werden kann oder dass sie einen Ersatz für Medikamente darstellt. Sie ist vielmehr ein Teil des Behandlungsspektrums. Sie mag für einen bestimmten Zeitraum als Therapie der Wahl im Vordergrund stehen, doch sie musst stets im Zusammenhang mit anderen Verfahren gesehen werden. Das innere Bild, ebenso wie das sichtbare, steht der Ursprünglichkeit des Gefühls viel näher als das Wort. Das Wort kann wahr oder falsch sein. Das erlebte Gefühl, im Unterschied zum gezeigten, das gespielt sein kann, ist immer wahr, und es ist mächtig, mächtiger als das Wort. Darum ist das Bild – auch als therapeutisches Mittel – so wichtig, weil es dem Gefühl so nahe steht. Wir alle wissen, dass die verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen: Klänge, Farben und Formen uns zu unseren Gefühlen tragen, und wir wissen, dass eine Geste, eine Melodie, ein Bild mehr sagen können als viele Worte.
Kunst als Therapie oder Kunsttherapie ist nicht nur den psychisch Kranken, sondern allen und insbesondere den vielen unglücklichen Gesunden unserer Zeit zu empfehlen. Wir leben in einer bunten Welt. Wir können anfangen, eine subjekive Ordnung aufzustellen, einen ganz persönlichen Farbenkanon als Ausdruck unseres Selbst zu entwickeln. Die Arbeit mit bildnerischen Medien hilft uns dabei, uns auszudrücken. Viele benötigen aber Anleitung und Anregung, vor allem psychisch gefährdete und kranke Menschen. Die Kunsttherapie kann jemanden in schwerer Zeit begleiten und ihm Unterstützung anbieten auf der Suche nach seinen Fähigkeiten.
Mi-Hye Park
Studium der Freien Kunst an der HBK Braunschweig.
Ausbildung zur dipl. Psychosozialen Kunsttherapeutin (IFKTP).
Als Seminarleiterin arbeitet sie an verschiedenen Kunstschulen; praktische Erfahrungen insbesondere im Umgang mit Kindergruppen.
Friedrich-Oberheide-Straße 1
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