Besinnlichkeit mit Märchen
„Märchen öffnen ebenso wie Imaginationen einen intermediären, symbolischen Raum.“
Hanna Wolter
Märchen laden uns ein, in eine andere, zauberhafte und wunderbare Welt einzutauchen. Wir begeben uns mit den Helden (immer m/w/d) auf ihre Reisen, erfahren Unterstützung und Zuspruch ebenso wie kaum zu überwinden scheinende Hürden und Erschwernisse. Ein Teil von unserer Persönlichkeit wird berührt und spricht auf die Märchenbilder an. Angeregt durch das Märchen können wir in Vergessenheit geratene Ressourcen entdecken und erfahren neue Zuversicht, dass auch wir – wie die Helden im Märchen – unseren Weg gehen und unser Ziel erreichen können.
Besonders in den Herbst- und Wintermonaten können Märchen eine Bereicherung sein: Bei einer dampfenden Tasse Tee gemütlich am warmen Kamin oder der Heizung sitzend, können wir die Zeit der verringerten Außenaktivitäten nutzen, um in uns zu gehen, uns zu besinnen und zu reflektieren: Was habe ich dieses Jahr erreicht? Wo stehe ich auf meinem Lebensweg? Und wohin soll es weitergehen?
„Insofern ist die Beschäftigung
mit Märchen eine möglichst
ganzheitliche Beschäftigung mit
Fragen der Existenz, der Entwicklung,
wie sie sich allen Menschen stellen.“
Verena Kast
Märchen bieten sich geradezu an, uns bei dieser Innenschau zu unterstützen – sind es doch verdichtete Menschheitserfahrungen all der Themen, die uns als Menschen auch heute noch beschäftigen: Die Suche nach dem Sinn und dem eigenen Platz im Leben, Liebe, Treue, Verrat, Tod, Freundschaft … Laut Hanna Wolter, einer Jung`schen Analytikerin, haben Märchen eine zeitlose Qualität, handeln sie doch von „menschlichen Wünschen und Sehnsüchten, ... von seinen [des Menschen] Problemen und Schwierigkeiten und deren Bewältigung.“
Auch im therapeutischen Rahmen lassen sich Märchen gut einsetzen. Mit ihnen können wir z. B. die eigene Biografie besser verstehen, Potenziale wiederentdecken und neue Hoffnung schöpfen.
Als Begleitung bei einem längeren Prozess der Sinnsuche oder der Heilung sind Märchen ebenfalls eine wertvolle Unterstützung. In schwierigen Zeiten, bei Krisen oder anderen Lebensumbrüchen können uns Märchen Kraft und Halt geben. Märchen machen uns deutlich, dass wir mit unserer Situation nicht allein sind: Es gab schon vor uns Menschen, die diesen oder zumindest einen ähnlichen Weg wie wir gegangen sind, Hürden gemeistert, Hilfe angenommen und ihr Ziel erreicht haben.
Daneben gibt es immer auch Menschen, die mit uns gemeinsam auf dem Weg sind, mit denen wir gemeinsam neue Geschichten aus unserem Leben in die alten Erzählungen hineinweben, so, wie es auch Menschen geben wird, die nach uns diesen Weg gehen und ihre eigenen Geschichten hineinweben. Diese Vorstellung hat etwas Tröstliches: Das Leben ist im steten Wandel, wir sind ein Teil davon, ebenso wie alle anderen Menschen – jetzt, früher oder später. Märchen verdeutlichen uns diese Verbundenheit über die Zeiten hinweg.
Lassen wir uns auf die Märchen ein, regen sie unsere schöpferische Wirkkraft an. Wir gestalten unsere eigene Situation, ahnen – wie im Märchen – unsere persönliche Lösung und erschaffen unsere symbolischen Helfer. Wir können z. B. im Anschluss eines Märchens malen, uns dabei von den Farben leiten lassen und das auf Papier bringen, was uns am meisten angesprochen hat, was noch in uns nachklingt und so unser Eigenes zu dem Märchen gestalten.
Wir können uns auch fragen, wo sich in unserem Leben hilfreiche Personen/Situationen/Gegenstände etc. wie die im Märchen finden.
Durch das Wirkenlassen, Hinspüren und Reflektieren kommen wir der besonderen Bedeutung des Märchens für uns auf die Spur. Lieblingsmärchen, die uns begleiten oder in verschiedenen Lebensphasen begleitet haben, und Märchen, die wir ablehnen oder zu früheren Zeiten abstoßend fanden, sagen etwas über uns und unsere Lebenssituation aus.
Es lohnt sich und kann das eigene Leben bereichern, wenn wir uns – wieder – den Märchen zuwenden. Als Zuhörende, Erzählende oder auch als kreativ Gestaltende wie dem Malen eines Märchens.
Fühlen wir uns in ein Märchen ein, können wir die Qualität der darin enthaltenen Symbolik direkt erfahren. Wir fühlen uns verbunden und können das Märchenerleben auf tieferer Ebene mit unserer eigenen Lebenssituation verbinden. Für mich ist es immer ein besonderes Erlebnis, die ganz unterschiedlichen persönlichen Reaktionen auf ein Märchen zu hören, die Erfahrungen zu teilen und somit das Persönliche mit dem Gemeinsamen zu verbinden.
Ich hoffe, dass ich auch Sie inspirieren konnte, in die Welt der Märchen einzutauchen, und Sie neugierig auf Ihre eigene Sicht und Ihre Bedeutung der Märchen für Sie gemacht habe.
Selina Danisch
Heilpraktikerin für Psychotherapie mit Praxis in Braunschweig, Dozentin
Foto: ©tomertu