Stress und Resilienz
Stress – die Geißel der Menschheit schlechthin. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat Stress – auch schon vor Corona – als die größte Gefahr für die Gesundheit im 21. Jahrhundert bezeichnet. Seit der Pandemie – ob des Lockdowns, Homeoffice oder der Kurzarbeit – scheint der Stress allgegenwärtig. Sogar Städte klagen über Umsetzungsstress und arbeiten an ihrer Resilienz.
Was bedeutet Stress denn eigentlich für uns? Ist es schon normal, sich überfordert zu fühlen? Oder dreht sich die Welt einfach viel zu schnell?
Ich möchte Ihnen in diesem Artikel aus meiner Perspektive als psychologischer Berater einen kleinen Aus- und Überblick über Stress, Resilienz und Wege aus der Krise geben.
Die Definition von Eustress und Distress
Viele Stressforscher (immer m/w/d) sehen Stress als etwas Subjektives. Stress ist also nicht an einem objektiven Maßstab messbar, sondern etwas ganz Individuelles, das von Mensch zu Mensch unterschiedlich bewertet wird. Dabei spielt die Balance zwischen den gestellten Anforderungen und den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen eine zentrale Rolle. Sind die Ansprüche höher als das, was wir geben können, ist Stress die natürliche Reaktion.
Der Unterschied zwischen Eustress und Distress
Eustress ist der „gute“ Stress. Er fordert und motiviert uns, uns weiterzuentwickeln. Ein bestimmtes Maß an Eustress ist sogar notwendig, damit wir uns an so manche Herausforderungen heranwagen. Denken Sie an den ersten Kuss oder ein wichtiges Vorstellungsgespräch. Dieser Stress bringt uns dazu, uns anzustrengen und das Beste aus uns rauszuholen. Doch Eustress ist nur bis zu einem gewissen Punkt gesund. So können die Ansprüche, z. B. bei einem sportlichen Wettkampf, der uns eigentlich Spaß macht, immer weiter steigen.
Wenn die Anforderungen sowohl körperlich als auch mental dann nicht mehr zu bewältigen sind, verwandelt der Eustress sich in den negativen Distress. Gerade bei Distress spielt der Faktor Zeit eine große Rolle. Damit ist nicht nur der Termindruck gemeint, sondern auch die Zeitdauer, die wir belastenden Situationen ausgesetzt sind. Denken Sie nur an den chronisch zu vollen Schreibtisch am Arbeitsplatz oder anhaltende Konflikte zu Hause.
Was löst Stress aus?
Stress hat viele Ursachen. Distress wird durch zu hohe Anforderungen oder Belastungen aller Art (Stressoren) ausgelöst. Traumatische Erlebnisse wie Gewalteinwirkung, Schmerzen, Unfälle, Verletzungen, aber auch Zeitdruck auf der Arbeit, Lärm, Angst, Mobbing oder monotone Arbeitsbedingungen zählen dazu. Zu hohe (aber auch zu niedrige!) Leistungsanforderungen können genauso wie sozioökonomische Faktoren, z. B. Arbeitslosigkeit oder ein ungenügendes Einkommen, ebenfalls Stress verursachen. Kritische Lebensereignisse (wie der Verlust eines nahestehenden Menschen oder eine Kündigung mit prekären finanziellen Folgen, eine Scheidung, ein ungewollter Umzug) können die Entwicklung von Stresserkrankungen beeinflussen.
Und gerade in Zeiten von Corona mit Lockdown, sozialer Vereinsamung, Zukunftsängsten und vielen ungewollten Veränderungen durch Homeoffice und Co, spüren wir vielleicht stärker als sonst, was uns stresst und unter Druck setzt.
Die Auswirkungen von Stress
Stress kann sich sehr vielgestaltig auf unseren Körper, die Psyche und das Verhalten auswirken. Allgemein setzt unser Körper in Belastungssituationen Stresshormone wie Adrenalin und Kortisol frei. Diese aktivieren das ganze System.
Die Bronchien werden weiter, um mehr Sauerstoff aufzunehmen. Die Atmung wird schnell und flach. Unser Herz schlägt schneller und stärker, der Blutdruck steigt und die Blutgefäße verengen sich. Die Muskeln werden besser durchblutet. Insgesamt stellt sich der Körper auf einen höheren Energieverbrauch ein und gibt unter anderem auch mehr Zucker ins Blut ab. Die Verdauung dagegen wird verzögert, die Schmerzempfindlichkeit nimmt ab. Somit sind wir „kampfbereit“.
Wenn die Gefahr vorüber ist, nimmt die Produktion der Stresshormone ab und der Körper beruhigt sich. Hält der Stress jedoch länger an, bleibt der Hormonspiegel hoch und wir können uns nicht mehr ausreichend erholen. Das führt zu einem ununterbrochenen Erregungszustand, was mit der Zeit Erschöpfung und weitere körperliche und psychische Probleme entstehen lassen kann.
Die körperlichen Folgen
Die negative Anspannung kann sich überall im Körper bemerkbar machen:
- Abnahme von Gedächtnisleistung und Konzentrationsfähigkeit
- Tinnitus oder Hörsturz
- Herz-Kreislauf-System
- Bluthochdruck, erhöhte Blutfettwerte, verstärkte Ablagerungen in den Gefäßen erhöhen das Herzinfarktrisiko
- Herzrhythmusstörungen mit Herzrasen oder -stolpern, Schwindelgefühl und Brustschmerzen - Magen-Darm-Beschwerden durch vermehrte Produktion von Magensäure, Sodbrennen, Bauchschmerzen, Übelkeit, Appetitlosigkeit und chronische Verdauungsbeschwerden
- Anfälligkeit für Diabetes durch den erhöhten Kortisolspiegel
- schwaches Immunsystem
- Muskelverspannungen mit Kopf- und Rückenschmerzen
- Hauterkrankungen wie Neurodermitis oder Psoriasis
Die psychischen und emotionalen Folgen
Neben dem Körper leidet natürlich auch unsere Psyche unter der Dauerbelastung. Die psychischen und körperlichen Auswirkungen von Stress beeinflussen und verstärken sich gegenseitig. Dadurch entsteht ein Teufelskreislauf:
- innere Anspannung und Unruhe mit Konzentrationsschwierigkeiten
- Nervosität und Reizbarkeit
- Angst und Wut (oftmals ausgelöst durch die gefühlte Hilflosigkeit, sich aus der stressbehafteten Situation befreien zu können)
- Depressionen mit Schlafstörungen
- Panikattacken mit Herzrasen, Schweißausbrüchen, Schwindel, Atemnot und Beklemmungsgefühl
- Burnout
Die langfristigen Gefahren von Stress
Stress birgt neben den beschriebenen Folgen noch weitere langfristige Gefahren. So können Konflikte in der Partnerschaft und Spannungen im sozialen Umfeld aufgrund der angespannten psychischen Situation entstehen. Die Persönlichkeit kann sich aufgrund der Zukunftsängste und Sorgen um den Arbeitsplatz oder die finanzielle Lage verändern, es kann zu psychosomatischen Störungen kommen. Vereinsamung, sozialer Rückzug, eine Abnahme der gewohnten Kreativität, fehlender Antrieb, dauernde Müdigkeit, Lethargie und Überforderung sind nur einige der möglichen Konsequenzen von chronischem Stress.
Ein Abrutschen in ein Suchtverhalten, Ess- und Schlafstörungen, ambivalentes Verhalten und das Gefangensein in einer negativen Denkspirale sind weitere denkbare Folgen. Bei Kindern kann es zu Schulangst und -problemen kommen. Eine geringe Selbstverantwortlichkeit und das Verharren in der Opferrolle verstärken den gefühlten Druck. Angststörungen und Depressionen, wie sie einige Psychologen auch jetzt schon als Folgen der Coronakrise sehen, sind ebenfalls dem Stress in jeder Form zuzuordnen.
Was professionelles Stressmanagement für Sie tun kann
In den meisten Fällen wird ein Leben ganz ohne Stress nicht möglich sein. Doch mit einem professionellen Stressmanagement kann sehr viel Druck aus dem Alltag genommen werden. In meiner Praxis haben sich, individuell auf die persönliche Situation abgestimmt, unter anderem folgende Methoden bewährt.
Autogenes Training. Eine wissenschaftlich anerkannte Entspannungstechnik, bei der wir den Körper rein durch unsere Vorstellungskraft in einen tiefen Entspannungszustand versetzen. Damit ist es möglich, ortsunabhängig zu jeder beliebigen Zeit zu entspannen und neue Kraft zu tanken.
Qigong. Die „Arbeit mit der Lebensenergie“ ist eine traditionelle chinesische Meditations-, Konzentrations- und Bewegungs- übung. Damit können wir eine bewusste Verbindung von Bewegung, Atem und Vorstellung schaffen und uns so selbst besser wahrnehmen.
Achtsamkeitstraining. Die bewusste und wertungsfreie Wahrnehmung des Geschehens im Hier und Jetzt. Stress, wie beim allgegenwärtigen Multitasking, hindert uns daran, im Moment zu sein. Eine bewusste Wahrnehmung führt zu einer Distanz zwischen den stressigen Vorgängen um uns herum und unserer Innenwelt.
Progressive Muskelrelaxation. Ein bewährtes und wissenschaftlich anerkanntes Verfahren. Die PMR macht sich zunutze, dass zwischen einer erhöhten Muskelanspannung und einer psychischen Anspannung eine Wechselwirkung besteht. So kann die Entspannung der Muskeln zu einer geistigen Entspannung führen.
Hypnose. Im Trancezustand ist die rechte, kreative Hirnhälfte hochaktiv. Ich arbeite mit der nichtmedizinischen Hypnose, mit der viele Problemstellungen, die mit Stress verknüpft sind, gut bearbeitet werden.
Psychologisches Beratungsgespräch und Walk & Talk: Auch ein psychologisches Beratungsgespräch kann neue Perspektiven eröffnen. Im Gespräch mit einem Außenstehenden klärt sich vieles und man kann wieder offen sein für neue Lösungsansätze. Ich biete ein solches Gespräch in meiner Praxis auch als „Walk & Talk“ an. Bei diesem „Spaziergang“ entwickelt sich das Gespräch ganz natürlich und fließend und die zusätzlichen Impressionen aus der Natur entstressen die Situation zusätzlich.
Meditation. Geführte Meditationen sind ein besonders sanftes und vielfach bewährtes Mittel, um die Gedanken zur Ruhe zu bekommen und Stress abzubauen. Manche Meditationen funktionieren im Gehen oder Tanzen, manche brauchen Trommeln. Am weitesten verbreitet sind Meditationsformen, die in aller Stille ablaufen.
Resilienz und Stress
Resilienz – ein in letzter Zeit viel gehörtes Wort. Alles und jeder will mehr Resilienz erreichen, in Coronazeiten sowieso. Aber was genau ist das und was hat Resilienz mit Stress zu tun? Resilienz beschreibt die Stärke, mit Krisensituationen gut fertigzuwerden. Der Begriff leitet sich vom lateinischen Wort „resilire“ ab („abprallen“). Auch in der Physik gibt es die Resilienz. Dort versteht man darunter eine elastische Substanz, die selbst nach starker Deformation von selbst wieder in den ursprünglichen Zustand zurückkehrt.
Dieses Bild können wir sehr gut auf uns Menschen in Krisensituationen übertragen: Wir werden deformiert und im besten Fall kehren wir von selbst nach dieser „Beschä- digung“ wieder in unseren Ausgangszustand zurück. Manche von uns haben diese Fähigkeit, wieder aufzustehen, von klein auf, andere müssen sie sich erst aneignen. Die gute Nachricht: Es ist nie zu spät, die eigene Resilienz zu steigern.
Warum überhaupt Resilienz?
Resilienz brauchen wir, weil sie die Kompetenz für einen guten Zugriff auf unsere Ressourcen in Krisen ist. Und erst so haben wir die Grundlage für ein gesundes und erfolgreiches Leben in einer unsicheren und sich verändernden Welt. Resilienz lässt sich am besten als die Fähigkeit zur optimalen Anpassung an sich ändernde Gegebenheiten definieren – eben an unser stressiges, sich stetig wandelndes Leben mit seinen Höhen und Tiefen.
Die sieben Säulen der Resilienz
Psychologen unterscheiden sieben Säulen der Widerstandskraft. Je mehr dieser Eigenschaften sich ein Mensch aneignen kann, desto besser wird er Krisen handhaben.
1. Optimismus. Selbst in schweren Lebenskrisen optimistisch zu bleiben, fällt oft nicht leicht, kann aber als eine Art von Notwehr angesehen werden.
2. Akzeptanz. Erst wer das eigene Schicksal akzeptiert, kann damit beginnen, die anstehenden Probleme in Angriff zu nehmen. Das Gegengewicht dazu wäre die Ablehnung, die nur dazu führt, dass unsere Kräfte unnötig verschlungen werden.
3. Lösungsorientierung. Nicht die Frage „Warum gerade ich“ ist relevant, sondern „Was kann ich jetzt tun, um aus dieser Situation möglichst unbeschadet herauszukommen?“ Das bedeutet nicht, ein schreckliches Ereignis nicht als schrecklich zu bewerten! Es ist schrecklich! Hier geht es nur um den nächsten Schritt.
4. Opferrolle verlassen. Wer sich als Opfer sieht, fühlt sich ohnmächtig und alleingelassen. Ein bisschen Selbstmitleid ist völlig in Ordnung, verbaut aber auf Dauer den Weg nach vorne.
5. Verantwortung übernehmen. Schuldgefühle oder auch nur anderen die Schuld zu geben, ist die falsche Strategie. Wichtiger wäre es, realistisch einzuschätzen, welchen Teil man selbst beigetragen hat, und dafür auch die Verantwortung zu übernehmen.
6. Netzwerke aufbauen. Soziale Bindungen steigern das eigene Selbstwertgefühl. Freunde geben den oft notwendigen Rückhalt, um Krisen gelassener zu überstehen. Einsamkeit hingegen führt zu immer stärkerem Rückzug.
7. Zukunft planen. Dabei geht es nicht darum, sich andauernd mit der schlimmsten aller Möglichkeiten zu beschäftigen. Ein vorausblickendes Krisenmanagement kann aber dazu beitragen, plötzlich auftretende Probleme leichter zu überwinden.
Resiliente Menschen wirken oft außerordentlich stark, begabt oder begünstigt. Ihnen scheint alles zu gelingen. Selbstverständlich kennen aber auch diese Menschen Verzweiflung und Depression. Den Unterschied macht, wie sie damit umgehen. Denn wie sagte bereits Václav Havel:
„Hoffnung ist nicht
die Überzeugung,
dass etwas gut ausgeht,
sondern die Gewissheit,
dass etwas Sinn macht,
egal wie es ausgeht.“
Selbsthilfe bei Stress
Manche Strategien, die wir selbst gegen den Stress entwickeln, sind in Wahrheit nicht gut für uns. Dazu gehören Medikamente zum Erhalt der Leistungsfähigkeit, Rauchen oder Alkohol zur Entspannung oder auch das Verdrängen des Problems und Resignation. Was also können Sie wirklich tun, um dem Stress Einhalt zu gebieten?
Machen Sie sich keine Vorwürfe, wenn Sie trotz übervollen Schreibtisches eine Pause machen. Pausen machen den Kopf frei und danach können Sie besser und konzentrierter arbeiten.
Versuchen Sie, positiv und im Moment zu denken, und malen Sie nicht gleich den Teufel an die Wand. Sonst entsteht schon Stress, bevor es einen wirklichen Grund dazu gibt.
Behalten Sie den Überblick, zum Beispiel mit einer To-do-Liste. Das gibt Ihnen das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben, und Sie sehen effektiv, was Sie bereits geschafft haben.
Seien Sie nett zu sich selbst und belohnen Sie sich, wenn der Stress zu viel wird. Ein Saunabesuch, ein gutes Buch oder ein ausgiebiger Spaziergang in der Natur entspannen Sie.
Bewegung ist ein wichtiges Ventil für Stress. Sie müssen nicht gleich einen Marathon laufen, aber regelmäßiges Auspowern bei Ihrer Lieblingssportart ist ein hervorragender Ausgleich zu einem stressigen Alltag.
Jürgen Volk
Psychologischer Berater (VFP)
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