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Stellen Sie sich vor, es geschieht ein Wunder

Lösungsorientierte Beratung einer depressiven Klientin

Nicht nur Heilpraktiker für Psychotherapie, sondern auch Psychologische Berater dürfen Klienten mit depressiven Störungen begleitend beraten. Dabei sollten eine Verbesserung der Lebensqualität des Klienten und der Umgang mit der Depression im Vordergrund stehen. Therapeutische Maßnahmen, die auf eine direkte Verbesserung der depressiven Symptomatik abzielen, sind Heilpraktikern für Psychotherapie und spätestens im Fall einer endogenen Depression Psychologischen Psychotherapeuten oder Psychiatern vorbehalten. Auch die reine Lebensberatung birgt jedoch vielfältige Möglichkeiten, Klienten mit einer depressiven Symptomatik hilfreich dabei zu unterstützen, einen Ausweg aus der Krise zu finden und den Alltag trotz der Depression zu bewältigen. Zudem trägt die Verbesserung der Lebensqualität oftmals zu einem Rückgang der depressiven Symptomatik bei. Das folgende Fallbeispiel aus meiner Praxis soll eine Variante lösungsorientierter Beratung mit einer depressiven Klientin veranschaulichen.


DIE SITUATION DER KLIENTIN

Die Klientin, zum Zeitpunkt der Beratung 24 Jahre alt, litt seit ihrer Jugend an wiederkehrenden depressiven Phasen unterschiedlichen Ausmaßes. Aktueller Anlass für das Beratungsgespräch war eine erneute depressive Phase, die seit etwa sechs Wochen andauerte. Die junge Frau bewältigte zwar weiterhin ihren Alltag und ging auch normal zur Arbeit, dennoch litt sie zunehmend unter der depressionsbedingten Antriebs- und Kraftlosigkeit. In den letzten Wochen hatte sie viel Energie für den Kampf gegen die depressive Symptomatik aufgewendet, so dass sie das Gefühl hatte, am Ende ihrer Kräfte zu sein und nicht mehr lange durchhalten zu können. Sie hatte Angst, dass sie es bald nicht mehr schaffen würde, jeden Tag arbeiten zu gehen, und dass sie dann über kurz oder lang ihren Arbeitsplatz verlieren könnte. Zudem klagte sie darüber, dass sie es einfach leid war, immer, wenn sie sich gerade einigermaßen gefangen und ihr Leben wieder unter Kontrolle hatte, erneut durch eine depressive Phase ausgebremst zu werden.

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Am Vorabend des Erstgesprächs hatte sie ihrem Partner von ihren negativen Gefühlen und ihrer Hilflosigkeit erzählt und ihm auch gesagt, dass sie einen Termin mit einer Therapeutin gemacht habe. Darauf hatte er, ihrem Empfinden nach, sehr gereizt und unfreundlich reagiert. Die Klientin schilderte ihren Partner auch sonst als wenig verständnisvoll ihr gegenüber. Anstatt sie zu unterstützen, betrachtete er ihre Depressionen als "Launen". Nachdem er ihr gesagt hatte, ihr sei "sowieso nicht mehr zu helfen" und sie "schmeiße nur noch Geld zum Fenster raus", wollte die Klientin den Gesprächstermin schon absagen, um ihren Freund nicht noch weiter zu verärgern. Sie hat sich aber doch dagegen entschieden, weil sie überzeugt war, dass sie wirklich Hilfe brauchte. Ihr Freund hatte sehr wütend auf ihre Weigerung reagiert und die Wohnung im Streit verlassen. Seitdem hatte er sich auch nicht mehr bei ihr gemeldet und sie wusste nicht, wo er war. Die Klientin befürchtete nun, er könnte sich endgültig von ihr trennen, vor allem weil sie schon seit Langem spürte, dass er sich innerlich immer weiter von ihr entfernte. Zermürbende Streits und gegenseitige Beschuldigungen, an allem Schuld zu sein, waren an der Tagesordnung. Dennoch wollte die Klientin an der Beziehung festhalten, da sie selber schließlich auch "eine Zumutung für jeden Partner" sei, wie sie sich ausdrückte.

VORGEHEN IN DER BERATUNG

Nachdem die Klientin ihr Problem geschildert hatte, standen mir mehrere Möglichkeiten für ein weiteres Vorgehen zur Verfügung. Zum einen hätte ich ihre Hilflosigkeit, Traurigkeit, Angst und Resignation aufgreifen und mit ihr darüber sprechen können. Auf der anderen Seite bestand die Möglichkeit, ressourcenorientiert zu arbeiten, mich also in der Beratung auf ihre Stärken zu konzentrieren und ihr diese (wieder) bewusst zu machen. Ich habe mich aus mehreren Gründen für die letztgenannte Möglichkeit entschieden. Zum einen wusste ich aus früheren Gesprächen mit Menschen in einer depressiven Phase, dass eine Konzentration auf die negativen Gefühle eine vorübergehende Verschlimmerung auslösen kann. Zum anderen waren schon aus der Problemschilderung Stärken der Klientin zu erkennen, die ihre Situation unter Umständen positiv beeinflussen konnten. Und nicht zuletzt kann die Klientin so auch in künftigen Krisen vom Wissen um ihre Stärken profitieren, was einen großen Vorteil der ressourcenorientierten Therapie darstellt. Der weitere Gesprächsverlauf soll aus Gründen der Nachvollziehbarkeit in Dialogform dargestellt werden. Während die Klientin anfangs noch oft in die Problemsprache zurückfiel und die negativen Aspekte ihrer Situation sowie das Zutun der Menschen in ihrer Umgebung dazu betonte, richtete sich ihr Fokus durch die konsequente Lösungs- und Ressourcenorientierung des Beratungsgesprächs dann immer mehr auf ihre Stärken und ihre Möglichkeiten, aktiv etwas zur Lösung des Problems beizutragen.

DAS BERATUNGSGESPRÄCH: WELCHES DER PROBLEME STEHT IM VORDERGRUND?

Klientin: Das ist so sinnlos, ich mache immer alles nur noch schlimmer, egal was ich mache. Ich bemühe mich und versuche dies und mache das und überwinde mich, aber es bringt nichts. Seit Wochen fühle ich mich, als wäre ich in einem Hamsterrad gefangen. Ich strampele und strampele, aber es ist keine Ziellinie in Sicht. Ich sollte es einfach sein lassen. Ich bin so kaputt, ich kann einfach nicht mehr!

Beraterin: Sie sind wirklich sehr erschöpft und verzweifelt im Moment, das verstehe ich. Können Sie mir denn sagen, welches der Probleme im Moment für Sie im Vordergrund steht, für welches Problem Sie zuerst eine Lösung finden müssen?

Ich will endlich aus dieser verdammten Depression heraus. Ich bin so kaputt und ausgelaugt. Warum machen es mir denn alle so schwer? Mein Freund hat kein Verständnis für mich und zieht sich immer mehr zurück, obwohl ich ihn so sehr brauche. Ich habe überhaupt niemanden, an den ich mich mal wenden und bei dem ich mich mal ausheulen kann. Ich kann einfach nicht mehr! (die Klientin weint, wischt die Tränen aber sofort mit einer wütenden Geste weg)

Sie wollen also aus der Depression heraus. Wie kann ich Ihnen dabei behilflich sein, was denken Sie?

Ich weiß es doch auch nicht! (vergräbt das Gesicht in den Händen) Vielleicht können Sie mir gar nicht helfen. Mein Freund sagt das ja schon lange, dass mir nicht mehr zu helfen ist. Wahrscheinlich hat er recht. Ich habe auch keine Kraft mehr, es ist einfach alles zu viel für mich. Ich werde meinen Job verlieren, ich werde meinen Freund verlieren, ich werde einfach alles verlieren.

Zu Beginn des Beratungsgesprächs sprach die Klientin noch beinahe ausschließlich in der Problemsprache. Sie betonte ihre Kraftlosigkeit und beklagte sich, dass alle es ihr schwer machten, anstatt sie zu unterstützen. Als Berater kann man darauf beispielsweise reagieren, indem man die Verzweiflung der Klientin aufnimmt und Verständnis dafür signalisiert. Dennoch sollte man in einem lösungsorientierten Beratungsgespräch von Anfang an darum bemüht sein, den Gesprächsverlauf in Richtung einer Lösungsorientierung zu lenken. Dazu fragte ich die Klientin zunächst, welches der Probleme im Vordergrund stand und woran zuerst gearbeitet werden sollte. Ein klar definiertes, möglichst konkret beschriebenes Ziel ist vor allem in der lösungsorientierten Therapie und Beratung wichtig. Je genauer ein Klient sein Ziel definiert und je detaillierter er beispielsweise beschreiben kann, wie sein Leben ohne das Problem aussehen würde, desto eher kommt man einer möglichen Lösung auf die Spur. In diesem Fall antwortete meine Klientin, sie wolle aus der Depression heraus. Das zeigte mir, dass sie zumindest eine grobe Zielvorstellung und ein umschriebenes Problem, nämlich die Depression mit ihren potenziellen Folgen, hatte. Noch nicht klar ersichtlich war zu diesem Zeitpunkt, ob die Klientin sich selbst als Teil der Lösung wahrnahm und somit eher dem Kliententyp "Kundin" (ein solcher Klient erkennt sich als Teil des Problems bzw. der Problementstehung und ist bereit, auch aktiv zur Lösung beizutragen) oder dem Typ "Klagende" (ein solcher Klient sieht die Verantwortung für das Problem und daher auch für dessen Lösung bei anderen) zuzuordnen war. Auf die weiterführende Frage, wie ich der Klientin bei der Lösung ihres Problems behilflich sein könnte, antwortete diese, dass das vielleicht gar nicht möglich sei. Dies war ein erster Hinweis darauf, dass die junge Frau den Eindruck hatte, die Lösung des Problems liege nicht in ihren Händen. Schließlich ordnete ich sie aufgrund der Tatsache, dass sie sich im weiteren Gesprächsverlauf als Teil des Problems zu erkennen schien, einem Mischtypus aus "Klagender" und "Kundin" zu.

RESSOURCENORIENTIERUNG: WIE HABEN SIE ES GESCHAFFT, DURCHZUHALTEN?

Wie haben Sie das eigentlich geschafft, trotz all der Probleme der letzten Monate – den vielen Konflikten mit Ihrem Freund, der mangelnden Unterstützung, der erneuten Depression, der Angst, Ihren Partner und Ihren Job zu verlieren – so lange durchzuhalten? Obwohl es so viel Kraft kostet?

Ich weiß nicht. Irgendwie ist es gegangen, aber jetzt bin ich wirklich am Ende meiner Kraft. Ich würde so gern einfach schlafen, um wieder ein bisschen zu Kräften zu kommen. Ich bin so müde, aber ich kann nicht schlafen. In meinem Kopf dreht sich alles, und mein Freund ist auch noch weg. Das kann doch kein Mensch aushalten!

Und trotzdem haben Sie es bis jetzt ausgehalten, irgendwie. Ich frage mich immer noch, wie. Ihre Probleme wären schon für einen gesunden Menschen im Vollbesitz seiner Kraft sehr belastend. Und Sie stecken mitten in einer Depression. Ich glaube, Sie müssen sehr willensstark sein, um eine solche Situation so lange durchzuhalten.

Ach, (wehrt ab) so toll ist das nun auch wieder nicht. So toll, wie Sie sagen, schaffe ich das doch gar nicht. Ich habe schon Probleme, morgens aus dem Bett zu kommen, geschweige denn, den Tag zu überstehen. Was soll daran toll sein?

Ich bin sicher, dass es sehr schwer war, dass es viele Momente gab, in denen Sie fast aufgegeben hätten. Aber Sie haben durchgehalten. Und selbst jetzt, wo Sie fast keine Kraft mehr haben, haben Sie noch einen Versuch gestartet, haben bei mir angerufen und einen Termin vereinbart. Sie haben nicht einfach resigniert. Es muss Ihnen wirklich sehr wichtig sein, durchzuhalten.

Ja, (zögernd) das ist mir wirklich sehr wichtig. Wenn ich es diesmal nicht schaffe, dann wahrscheinlich gar nicht mehr. Wenn ich jetzt nicht durchhalte und auch noch meinen Job verliere, gehe ich endgültig unter, glaube ich.

Und Sie haben es immerhin schon eine ganz schön lange Zeit geschafft, ohne aufzugeben, trotz all der Probleme. Kennen Sie das auch sonst von sich, dass Sie Dinge, die Sie wirklich wollen, auch irgendwie schaffen?

Ja, eigentlich schon. Ich bin wohl ziemlich dickköpfig (lächelt).

Sie sind ziemlich dickköpfig, und wenn Sie sich etwas in den Kopf setzen, dann schaffen Sie es auch. Okay. Und jetzt haben Sie sich in den Kopf gesetzt, möglichst schnell wieder aus dieser Depression herauszukommen, habe ich das vorhin richtig verstanden? Ist das Ihr Ziel?

Ja, das will ich unbedingt. Ich muss das irgendwie schaffen.

In diesem Teil des Gespräches stand die Ressourcenorientierung im Vordergrund. Ich vermied konsequent die Problemsprache, indem ich mich auf die Frage konzentrierte, wie die Klientin so lange durchgehalten hatte, und ihr dafür auch Komplimente machte. Schließlich deutete ich die herausgefundene Stärke der Klientin, nämlich das bisherige Durchhalten, als Ausdruck ihrer allgemeinen Willensstärke um. Als sie die Umdeutung akzeptierte und sich selbst als "dickköpfig" bezeichnete, griff ich diesen Ausdruck auf und übernahm so unaufdringlich die Sprache der Klientin, was in Beratung und Therapie das Gefühl des Verstandenwerdens und der Akzeptanz verstärkt. Außerdem kann es sein, dass die Klientin die entdeckte Stärke eher anerkennt und damit arbeiten kann, wenn sie sie selbst benannt hat. Danach steuerte ich das Gespräch, mit den neu entdeckten Stärken "Durchhaltevermögen" und "Willenskraft" in petto, erneut in Richtung einer Lösungsfindung. Dies geschah, indem ich die Stärken der Klientin in Bezug auf das Erreichen von gesteckten Zielen noch einmal nannte und dann auf das jetzige Ziel, nämlich das rasche Herauskommen aus der depressiven Phase, bezog. Zusätzlich habe ich mich an dieser Stelle auch noch einmal rückversichert, ob das anfangs genannte Ziel wirklich das vorrangige Ziel der Klientin war. In jedem ressourcenorientierten Beratungsgespräch geht es immer auch darum, die Stärken der Klienten herauszufinden und zu betonen. Man hebt die gefundenen Stärken konsequent hervor und ignoriert oder relativiert etwaige Einschränkungen und Zweifel des Klienten, oder man deutet sie um. Oftmals sind die Stärken unter den vielen Schwierigkeiten kaum mehr auszumachen, so dass der Eindruck entstehen kann, der Klient bestehe nur noch aus seinem Problem. In solchen Situationen kann es verlockend sein, auch als Berater aus der lösungsorientierten in die problemorientierte Gesprächsführung zurückzufallen. Wir tun damit jedoch dem Klienten keinen Gefallen. Das Sprechen über eine problematische Situation kann zwar anfangs Erleichterung verschaffen, führt dann aber häufig vor allem zu einer Verschlechterung des Befindens. Zum erleichternden Schildern der Problematik gibt es im Erstgespräch selbstverständlich Gelegenheit. Je länger oder häufiger man die Hoffnungslosigkeit jedoch darüber hinaus bespricht, je mehr Raum man ihr einräumt, desto hoffnungsloser scheint in der Regel auch die Situation zu sein. Das Herausfinden von Stärken hingegen steigert den Optimismus, das Problem am Ende erfolgreich lösen zu können.

LÖSUNGSORIENTIERUNG: STELLEN SIE SICH VOR, ES GESCHIEHT EIN WUNDER

28-01-wunder2Wenn Sie sagen, Sie wollen unbedingt aus dieser Depression heraus, was denken Sie wäre notwendig, damit Sie das schaffen können?

Was dazu notwendig wäre ... (überlegt) Ich habe keine Ahnung. Ein Wunder wahrscheinlich.

Ein Wunder, okay. Stellen Sie sich einmal vor, dass genau dieses Wunder geschieht. Stellen Sie sich vor, Sie gehen heute Abend ins Bett, schlafen ein, und während Sie schlafen passiert ein Wunder und Ihr Problem ist gelöst. Nun wissen Sie davon aber nichts, wenn Sie morgen früh aufwachen, denn Sie haben ja geschlafen. Woran werden Sie trotzdem merken, dass Ihr Problem gelöst ist, dass Sie nicht mehr depressiv sind?

Ach ja, das wäre zu schön, um wahr zu sein. Woran würde ich es merken? (überlegt lange) Also, zuerst einmal würde ich gleich nach dem Weckerklingeln aufstehen, anstatt noch so lange liegen zu bleiben, bis ich schon fast zu spät bin, um es noch pünktlich zur Arbeit zu schaffen. Ich würde vielleicht sogar ein bisschen früher aufstehen und vor der Arbeit noch joggen gehen, das mache ich sonst immer. Nur wenn ich meine Depressionen habe, kann ich mich nicht aufraffen.

 

Sie würden also gleich nach dem Weckerklingeln aufstehen und vielleicht sogar vor der Arbeit noch joggen gehen. Das klingt toll. Was wäre sonst noch anders, wenn Ihr Problem gelöst wäre?

Ich weiß nicht. Es fällt mir gar nicht so leicht, mir das vorzustellen. Warten Sie mal ... na ja, ich würde wahrscheinlich etwas Schönes anziehen, mir in Ruhe die Haare frisieren und mich vielleicht mal wieder schminken. Im Moment habe ich zu solchen Dingen irgendwie keine Lust, auch wenn ich weiß, dass ich mich wohler fühle, wenn ich hübsch aussehe.

Jetzt konzentrierte sich das Gespräch ganz auf die Lösungsfindung. Zunächst fragte ich deshalb die Klientin, was ihrer Ansicht nach notwendig war, um das Problem zu lösen. Bei dieser Frage handelte es sich um eine Abwandlung der Frage, wie ich als Beraterin der Klientin bei der Lösung ihres Problems behilflich sein könnte. Die Entscheidung für diese neue Art der Fragestellung traf ich, weil ich vermeiden wollte, dass die Klientin erneut in die Problemsprache zurückfiel, was sie beim Stellen der Frage in der ursprünglichen Version getan hatte. Dass die Klientin auf die Frage ausgerechnet mit der Floskel "ein Wunder wahrscheinlich" antwortete, ist reiner Zufall (wenn auch in der Praxis gar nicht so selten) und natürlich eine gute Vorlage für das Stellen der Wunderfrage. Notwendig ist eine solche Reaktion seitens des Klienten jedoch keineswegs. Die Wunderfrage kann ganz allgemein zur Zielorientierung und Lösungsfindung eingesetzt werden.

Eine möglichst genaue Vorstellung von den eigenen Zielen zu haben, zu wissen, was dann anders sein und wie man sich fühlen wird, wenn das Ziel erreicht ist, hat aber auch den positiven Effekt, dass eine detaillierte Fantasievorstellung zum Durchhalten in schlechten Phasen motivieren kann. Wenn man in der Praxis die Wunderfrage stellt, ist es wichtig, dem Klienten Zeit zum Nachdenken zu lassen. Wenn der Berater drängelt oder ungeduldig wirkt, wird er nicht die Antworten bekommen, die er für das weitere Vorgehen braucht.

Auf Bemerkungen wie die meiner Klientin, dass das eine schwierige Frage ist oder dass es nicht leicht ist, sich eine Situation ohne das Problem vorzustellen, sollte man eingehen. Am besten ist es, zu bestätigen, dass diese Frage schwierig zu beantworten ist, den Klienten aufzufordern, sich mit der Antwort Zeit zu lassen und dann abzuwarten. Wenn dem Klienten etwas einfällt, kann man ihm wieder Komplimente für seine guten Ideen machen. In jedem Fall sollte man als Berater weiterfragen, bis dem Klienten nichts mehr einfällt. Dazu kann man beispielsweise an jedes Kompliment die Frage "Was wäre sonst noch anders?" anhängen. Gut ist es auch, zwischendurch kurze Zusammenfassungen des bisher Gesagten zu machen.

BEDEUTSAME DRITTE: WORAN WÜRDE IHR FREUND MERKEN, DASS EIN WUNDER GESCHEHEN IST?

Das ist ja schon eine ganze Menge. Es ist wirklich nicht leicht, sich eine solche Situation vorzustellen, aber Sie machen das toll. Ich bin sicher, Ihnen fallen noch andere Dinge ein, die Sie anders machen würden.

Woran könnte zum Beispiel Ihr Freund merken, dass ein Wunder passiert ist und dass Sie nicht mehr depressiv sind, ohne dass Sie es ihm erzählen?

Oh, das ist leicht. Ihm würde auffallen, dass ich nicht so griesgrämig bin wie während der Depression. Ich würde ihn mit einem Kuss aufwecken, und wir würden gemeinsam frühstücken. Na ja, und dass ich anders aussehe, würde er wohl auch merken.

Und wenn Ihr Freund all diese Veränderungen an Ihnen bemerkt, was meinen Sie, was wird er dann anders machen?

Er wäre wahrscheinlich nicht so genervt von mir. Meine ständige schlechte Laune setzt ihm schon sehr zu, sagt er. Vielleicht würde er mir sagen, dass er mich hübsch findet. Das hat er mir schon lange nicht mehr gesagt. Aber ich finde mich ja selber nicht hübsch, so wie ich mich im Moment vernachlässige.

Okay, er wäre also nicht so genervt von Ihnen. Was würde er stattdessen tun? Anstatt genervt zu sein, meine ich.

Ich nehme an ... hm ... also, vielleicht würde er sich beim Frühstück auch mit mir unterhalten, anstatt sich hinter einer Zeitung zu vergraben oder SMS zu schreiben. Im letzten Jahr haben wir uns kaum noch unterhalten. Dabei hatten wir uns früher immer etwas zu erzählen. Ich weiß eigentlich gar nicht mehr, was er so macht und was ihn beschäftigt.

Wow, das ist ja wirklich einiges, was Sie ändern werden, wenn Sie nicht mehr depressiv sind. Sie werden also früher aufstehen, vor der Arbeit noch joggen gehen, sich hübsch zurechtmachen und mit Ihrem Freund frühstücken. Dabei werden Sie beide sich unterhalten, und vielleicht wird er Ihnen auch ein Kompliment wegen Ihres Aussehens machen.

Das klingt wirklich nach einem sehr schönen Morgen.

Zu Beginn dieses Gesprächsabschnitts wurde die Schwierigkeit der Wunderfrage betont und die Klientin so in ihrer Wahrnehmung bestärkt. Außerdem wurde sie durch das Kompliment, sie mache das toll, zum weiteren Überlegen ermutigt. Dabei habe ich die Fragestellung ein wenig verändert, indem ich fragte, woran ihr Partner merken würde, dass das Wunder geschehen und die Klientin nicht mehr depressiv ist. Dieses Fragen nach den sogenannten bedeutsamen Dritten, also nach Menschen, die im Leben des Klienten eine wichtige Rolle spielen, ist auch eine mögliche Technik, wenn jemandem trotz gründlichen Nachdenkens überhaupt keine Veränderung nach einem Wunder einfallen mag. Indem man dann fragt, was von einem bedeutsamen Dritten bemerkt werden könnte, kommt man oftmals trotzdem einer möglichen Lösung näher.

In diesem Fall hatte die Frage jedoch einen anderen Hintergrund. Eine Verbesserung der Partnerschaft war von der Klientin zwar nicht explizit als Ziel benannt worden, dennoch wurde im Gespräch schnell deutlich, dass sie sich in ihrem Kampf gegen die Depression mehr Unterstützung von ihrem Freund erhoffte. Indem ich sie nach Veränderungen fragte, die der Partner bemerken würde, suchte ich deshalb nach möglichen Lösungsansätzen für das Beziehungsproblem der Klientin. Nachdem die Klientin auf die Frage geantwortet hatte, erfragte ich auch, was der Freund wohl anders machen würde, wenn sich die Klientin verändert hätte. Indem diese es für möglich erachtete, dass ihr Freund die Veränderungen nicht nur bemerken, sondern sogar mit positivem Verhalten darauf reagieren würde, hielt sie bereits den Schlüssel zu einer Lösung ihrer Beziehungskrise in der Hand.

So übernahm sie ihren Teil der Verantwortung und gewann Kontrolle über die vermeintlich unkontrollierbare Situation zurück. Wichtig in diesem Abschnitt sind außerdem kleine Manipulationen in der Formulierung. Beispielsweise sagte ich in der kurzen Zusammenfassung am Schluss bewusst, "was Sie ändern werden" und nicht "was Sie ändern würden". Auch als die Klientin vermutete, ihr Freund wäre "nicht mehr so genervt" von ihr, ließ ich sie diese Aussage umformulieren, indem ich sie fragte, was er "stattdessen tun" würde. Erst danach schildert die Klientin tatsächlich die möglichen positiven Veränderungen an ihrem Partner.

HAUSAUFGABE: TUN SIE SO, ALS SEI DAS WUNDER BEREITS GESCHEHEN

Ich werde Ihnen jetzt eine Hausaufgabe für die Zeit bis zu unserem nächsten Treffen geben. Eigentlich sind es sogar zwei Aufgaben, und sie sind auch nicht einfach. Ich bin daher nicht sicher, ob ich Ihnen diese schwierige Aufgabe nicht zu früh stelle. Ich denke aber, Sie können das schaffen, und deshalb habe ich mich entschieden, es zu versuchen.

Die erste Aufgabe ist, dass Sie an einem Morgen in der kommenden Woche, den Sie selbst bestimmen, einmal so tun, als sei das Wunder, das Sie beschrieben haben, bereits geschehen. Stehen Sie direkt nach dem Weckerklingeln auf, gehen Sie joggen, machen Sie sich hübsch und frühstücken Sie mit Ihrem Partner. Beobachten Sie bitte ganz genau, was an diesem Tag anders ist als an den Tagen, an denen Sie depressiv sind. Was ist für Sie selbst anders, was ist anders im Zusammensein mit Ihrem Partner? Das Beobachten ist schon die zweite Aufgabe. Bei unserem nächsten Termin werden wir dann darübersprechen. Haben Sie die Hausaufgabe verstanden?

Die Hausaufgabe sollte, wenn sie denn verordnet wird, dem Beziehungstypus entsprechen. Ich hatte die Klientin als Mischtypus aus "Klagender" und "Kundin" eingeordnet. Daher bekam sie eine kombinierte Hausaufgabe mit einem Verhaltens- und einem Beobachtungsteil. Der Verhaltensteil, der vor allem Klienten vom Typ "Kunde" als Hausaufgabe gegeben wird, bestand darin, sich an einem Tag so zu verhalten, als sei das Wunder bereits geschehen. Dieser Hausaufgabentypus ("so tun als ob") kommt in der lösungsorientierten Therapie häufig vor. Wieder wird betont, dass die Aufgabe schwierig ist, und ich unterstrich dies noch, indem ich vorgab, die Aufgabe sehr früh zu stellen. Diese Aussage kombinierte ich jedoch mit dem Kompliment, dass ich der Klientin zutraute, die Aufgabe dennoch zu schaffen. Eine solche Betonung der Schwierigkeit führt allgemein dazu, dass Klienten sich zunächst einmal geschmeichelt fühlen, weil ihnen gleich zu Anfang die Bewältigung einer so schwierigen Aufgabe zugetraut wird.

Das weckt gleichzeitig den Ehrgeiz, es auch wirklich zu schaffen, um den Berater in seiner positiven Einschätzung zu bestätigen. Zudem entsprach das Zutrauen in dem konkreten Fall den herausgearbeiteten Stärken der Klientin. Wenn sie die Hausaufgabe dann tatsächlich durchführen, stellen die meisten Klienten fest, dass sie ihnen wider Erwarten relativ leicht fällt. Das führt dazu, dass die Hausaufgabe als Erfolg angesehen wird und sich somit positiv auf die Stimmung und das Selbstwertgefühl der Klienten auswirkt. Auch in diesem Fall konnte die Klientin die Hausaufgabe gut umsetzen. Sie suchte sich einen Tag aus, an dem ihr Freund noch nicht wieder zu Hause war, und war sehr überrascht, wie positiv sich die "nicht-depressiven" Aktivitäten auf ihre Stimmung auch für den Rest des Tages auswirkten. Von da an begann sie ohne weitere Absprache mit mir jeden Tag so, als sei das Wunder geschehen. Als ihr Freund das erste Mal wieder zu Hause übernachtete, setzte sie ab dem nächsten Morgen auch den ihn betreffenden Teil der Aufgabe um. Er reagierte auf die Veränderungen zunächst misstrauisch und verhalten, dann aber immer positiver. Unseren folgenden Termin nahm die Klientin zwar noch wahr, er diente aber nur mehr der Besprechung der Hausaufgabe und der Rückversicherung, dass sie jederzeit einen neuen Termin bekommen könnte, wenn sie ihn brauchen würde.




Tanja Schnura
Jahrgang 1975. Ausbildung zur Heilpraktikerin und Psychologischen Beraterin an der Deutschen Paracelsus Schule, Zulassung 2001.
Seit 1999 ehrenamtliche Mitarbeit in einer Beratungsstelle für Menschen in Krisensituationen. Psychologiestudium, Abschluss 2005 als Diplompsychologin. Leitung einer Therapiegruppe für Angehörige von Borderline- und Selbstverletzungspatienten seit 2005.
Selbstständige Tätigkeit in einer Naturheil- und Beratungspraxis, freie Mitarbeit in einer Frauenarztpraxis. Arbeitsschwerpunkte sind Beratung und Therapie bei Borderline-Persönlichkeitsstörung, selbstverletzendem Verhalten sowie Ehe-, Partnerschafts- und Sexualproblemen.

An der Apostelkirche 3
30161 Hannover
Telefon 0511/3110 04
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