Buchbesprechungen
Ein Buch mit Fakten, die jeder kennen sollte!
Zum Lebenswerk der schweizerischen Psychoanalytikerin Alice Miller, zusammengefasst in ihrem Buch "Dein gerettetes Leben".In einem anderen Buch von dem Sozialwissenschaftler Stephan Marks fand ich die Bemerkung, dass die Psychoanalytiker Béla Grunberger und Pierre Dessuant den Zustand des ungeborenen Fetus mit vollkommener Seligkeit vergleichen, denn es gibt keine Enttäuschungen und keine Konflikte. Die Ernährung erfolgt kontinuierlich und wie von selbst durch das Blut der Mutter, was sich als paradiesisches Gefühl von wunschlosem Glück und ozeanischer Ewigkeit interpretieren lässt. Die Zellen vermehren sich auf wunderbare Weise wie von selbst – dies ist wie Allmacht.So ist der Zustand des Fetus göttlich und wunderbar.
Diese Hochstimmung geht nach der Geburt nicht verloren, sondern hinterlässt eine bleibende Spur. Sie wird quasi wie in Reserve gehalten und kann im weiteren Verlauf des Lebens in Gestalt von Narzismus reaktiviert werden. Nach dem traumatischen Fall aus dem fetalen Paradies durch die Geburt wird die Suche nach dem verlorenen Zustand zu einem zentralen menschlichen Problem. Immer wieder sucht der Mensch danach, jenes paradiesische Gefühl von Ganzheit, Vollkommenheit, Allmacht, Hochstimmung, Wunder, Unendlichkeit und Reinheit wiederzuerlangen.
Nach Grunberger und Dessuant wird durch den christlichen Glauben ein Denken gefördert, wonach diese ersehnten Ziele wirklich und erreichbar seien. Demzufolge werden fetal-narzistische Vorstellungen auf eine Idee oder Gestalt projiziert: auf einen Messias. Die Vorstellung von absoluter Reinheit wird zum Ideal erhoben und zu idyllischen Bildern wie Goldenes Zeitalter, Paradies, "Gute alte Zeit" usw. ausformuliert.
Schon das kleine Kind hat nach Wurmser das Doppelverlangen, zu sehen und gesehen zu werden, zu bewundern und bewundert zu werden, zu faszinieren und fasziniert zu werden.
Die russische Sitte, Babys zu einem Bündel zu wickeln, und zwar so, dass auch die Arme unbewegbar mit in dem Bündel eingewickelt sind (damit das Baby sich nicht unbeabsichtigt das Gesicht zerkratzt, also nur zum Besten des kleinen Kindes! – Wie überleben nur die Babys in anderen Ländern?!), lässt diese Kinder schon früh erleben, dass man sich nicht bewegen, nichts machen kann. Ein ganzes Volk ist durch derartiges frühkindliches Erleben geprägt.
Oder wenn kulturbedingte Erziehungspraktiken den Blickkontakt zwischen Mutter und Kind verhindern, wie z.B. Johanna Haarer in ihrem Erziehungsbuch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" empfiehlt. Die Autorin rät unbedingt, das Kind von der Mutter getrennt unterzubringen und es ihr nur zum Stillen zu reichen. Wenn das Kind schreit, wird es mit einem Schnuller versorgt. Wenn es weiter schreit, dann, "liebe Mutter, werde hart! Fange ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen oder auf dem Schoß zu halten. (...) Das Kind wird nach Möglichkeit an einen stillen Ort abgeschoben, wo es allein bleibt und erst zur nächsten Mahlzeit wieder vorgenommen wird." Es ist offenkundig, dass sich bei solchen Praktiken ein verlässliches, liebevolles Spiegeln im Auge der Mutter nicht ereignen kann.
Pathologische Scham entsteht also dann, wenn Eltern die Suche des Kindes nach Liebe und Anerkennung, nach dem antwortenden Glanz im Auge der Mutter (von dem Heinz Kohut spricht) nicht befriedigen. Das kleine Kind empfindet das als existenzielle Bedrohung; es fühlt sich liebesunwert, wirkungslos, nichtig. In der Säuglingsforschung wurde beobachtet, dass Kleinkinder schon von den ersten Lebenstagen an auf gestörten Körper- oder Augenkontakt mit Unlust und Rückzug reagieren: Sie wenden Blick, Gesicht oder Körper ab. Diese Reaktionen können sich zu pathologischer Scham entwickeln – umso mehr, wenn weitere Erfahrungen von traumatischen Zurückweisungen, Beschämungen oder andere Formen von Grenzverletzung hinzukommen ... Traumatische Scham bedeutet z.B., dass das eigene Verhalten erlebt wird als: "Ich bin ein Fehler", statt: "Ich habe einen Fehler gemacht."— Das Selbstwertgefühl ist grundlegend beeinträchtigt. Nach Peer Hultberg ist diese Scham mit einer viel tieferen Angst als derjenigen vor Strafe verbunden, nämlich mit der Angst, aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen zu werden. Scham bedeutet Angst vor totaler Verlassenheit, vor psychischer Vernichtung.
Der englische Dichter John Keats beschrieb Scham 1818 als die Hölle, nämlich die unglücklichsten Stunden in unserem Leben, in denen wir uns an die Vergangenheit erinnern und dabei erröten — wenn wir unsterblich sind, muss die Hölle so sein.
In dem Buch von Marks kann man lesen, wie entscheidend die frühe Eltern-Kind- Kommunikation ist: "Im Kreissaal strömte Schweigen aus den Poren der erschöpften Mutter; Schweigen: die uralte Sprache der Niederlage. Der Vater, Major Raza Hyder, ein unerbittlicher Militarist, reagiert voller Wut auf die Nachricht, dass sein Erstgeborenes "nur" ein Mädchen ist. Abwertend blickt er auf das Neugeborene, das in Schweigen verfällt und rot wird: Es wird berichtet, dass das Baby bei seiner Geburt errötete. Ich denke, darunter wird das Mädchen sein Leben lang gelitten haben." Die umfassende Verleugnung der Schmerzen am Beginn unseres Lebens ist verhängnisvoll, weiß die schweizerische Psychoanalytikerin Alice Miller. Stellen wir uns vor, dass ein Mensch eine Wanderung unternehmen will und sich gleich zu Anfang den Fuß verstaucht. Auch wenn er versucht, seine Schmerzen zu ignorieren und weiterzulaufen, weil er sich auf den Weg gefreut hat, werden andere früher oder später wahrnehmen, dass er hinkt. Sie werden ihn fragen, was ihm geschehen ist. Dann wird er seine Geschichte erzählen, sie werden verstehen, warum er hinkt, und ihm raten, sich behandeln zu lassen.
Ganz anders ist es, wenn es um die Leiden der Kindheit geht, die eine ähnliche Rolle im Leben eines Menschen spielen wie der verstauchte Fuß am Anfang einer Wanderung. Man kann sie nicht wegphilosophieren, sie werden den ganzen Weg mitbestimmen, allerdings mit dem Unterschied, dass in der Regel niemand dieser Tatsache Beachtung schenken wird. Der in seiner Integrität Verletzte hat möglicherweise auch keine Erinnerungen. Er spielt mit, wenn er sein ganzes Leben unter Menschen verbringen muss, die die Traumata der Kindheit bagatellisieren.
Alles hängt davon ab, wie Menschen bei der Geburt empfangen und später behandelt wurden. Kinder, die von Geburt an Liebe, Respekt, Verständnis, Freundlichkeit und herzliche Zuwendung erfahren, entwickeln selbstverständlich andere Eigenschaften als ein Kind, das von Anfang an auf Verwahrlosung, Missachtung, Gewalt oder gar Misshandlung stößt, ohne dass ihm jemals ein wohlwollender Mensch beisteht, der es an die Liebe glauben lässt.
Laut Statistik (Olivier Maurel, La Fessée, La Plage 2001) sind mehr als 90 Prozent der Weltbevölkerung fest davon überzeugt, dass man Kinder zu ihrem Besten schlagen müsse. Da fast alle von uns die aus dieser Mentalität erfolgte Demütigung erfahren haben, fällt uns deren Grausamkeit gar nicht auf. Wir kommen nicht, wie man früher meinte, mit einem fertig ausgebildeten Gehirn auf die Welt; dieses entwickelt sich erst in den ersten Jahren des Lebens. Was dem Kind in dieser Zeit zugefügt wurde, hinterlässt oft lebenslange Spuren, im Guten wie im Bösen. Denn unser Gehirn enthält das vollständige körperliche und emotionale, wenn auch nicht das mentale Gedächtnis dessen, was uns geschehen ist.
Das bedeutet, dass Kinder durch Schläge traumatisiert werden und in Abwehr dieses Erlebens die Erinnerung daran verdrängen und die Eltern idealisieren, gleichzeitig aber den Drang behalten, das erlebte brutale Verhalten später gegen andere zu richten, gegen die eigenen Kinder und oft auch gegen Menschen oder Menschengruppen, auf die die ehemals ohnmächtige Wut projiziert und wenn möglich auch ausgelebt wird.
Das Schlagen von Erwachsenen nennt man Folter, schreibt Alice Miller weiter, das von Kindern Erziehung. Und weiter: Wie ist es zu erklären, dass sich in 2000 Jahren kein Vertreter der Kirche am Verhalten Jesu orientierte? Dass sich niemals die Kirche gegen das Schlagen der kleinen Kinder ausgesprochen hat? Dass zwar Barmherzigkeit, Toleranz und Vergebung für Erwachsene gepredigt und ausgeübt werden, aber den Kindern ausdrücklich verweigert werden? Dass stattdessen christliche Schulen in Afrika Einspruch erheben, wenn die Regierung der Republik Komores das Schlagen der Kinder in Schulen verbieten will? Es heißt in dieser Petition, dass das Strafen der Schulkinder zu den religiösen Pflichten gehöre. All das kann man sich nicht anders erklären, als dass die handelnden Erwachsenen in der Tradition der Macht, der Vergeltung und der Rache gegen verleugnete Demütigungen stehen, die sie ahnungslos an die nächste Generation weitergeben.
Wenn die Bibel und der Koran das Schlagen von Kindern eindeutig verboten hätten, könnten wir hoffnungsvoller in die Zukunft blicken. Leider weigern sich jedoch die führenden geistlichen Autoritäten hartnäckig, neue, lebenswichtige Informationen über Gefahren des Schlagens für das kindliche Gehirn in ihrem Bewusstsein zuzulassen, weil sie alle wie vollkommen verängstigte Kinder und wie einst Martin Luther, Calvin und zahlreiche Philosophen vor allem darauf achten, das unbefleckte Bild ihrer eigenen Mutter zu schützen und hochzuhalten. Es ist das idealisierte Bild der Mutter, die angeblich alles richtig gemacht hatte, als sie ihre Kinder erbarmungslos züchtigte. Während mit schönen Worten über Liebe geschrieben wird, weigert man sich, zu sehen, wie die Fähigkeit zu lieben schon bei Kindern zerstört wird.
Es ist nicht wahr, dass in uns allen eine Bestie steckt, wie es so gedankenlos verkündet wird. Die Bestie schlummert nur in Menschen, die als Kinder auf perverse Art behandelt wurden und diese Tatsache verleugnen. Sie suchen und finden Sündenböcke für ihre unbewusste Rache oder zerstören sich selbst mit Drogen und anderen Substanzen, um die an ihnen begangenen Taten nie wahrnehmen zu müssen. Weil der Schmerz für das Kind unerträglich gewesen wäre. Doch der Erwachsene könnte ihn ertragen und könnte damit, dank seines Bewusstseins, die "Bestie" aus der Welt schaffen.
Die Gefahr verbirgt sich in der Geschichte der Kindheit, aber alle Türen, die uns diese Perspektive eröffnen könnten, scheinen hermetisch verschlossen zu sein. Keiner versucht, sie zu öffnen, im Gegenteil, wir unternehmen alles, um uns nicht unserer Geschichte mit ihrem unerträglichen Schrecken, der uns so lange Zeit begleitet hat, stellen zu müssen. Weil es sich um die verwundbarsten und ohnmächtigsten Jahre unseres Lebens handelt, will man nie mehr daran denken. Man will diese Ohnmacht nicht fühlen, und auf keinen Fall wollen wir uns an die Atmosphäre erinnern, die uns umgab, als wir klein waren und machtgierigen Menschen ausgeliefert.
Dennoch beeinflussen gerade diese Jahre unser ganzes Leben, und genau die Konfrontation mit dieser Zeit bietet den Schlüssel an für das Verständnis unserer Panikattacken, unseres Bluthochdrucks, unserer Magengeschwüre, unserer Schlaflosigkeit und — leider — unserer scheinbar unerklärlichen Wut auf ein kleines Baby, das schreit. Die Logik dieser Rätsel zeigt sich, sobald wir uns endlich über den Ursprung unseres Lebens bewusst werden wollen. Wir fangen dann an, unser Leiden zu verstehen, und gleichzeitig verringern sich nach und nach die Symptome. Der Körper braucht sie nicht mehr, weil wir von nun an die Verantwortung für das ehemals leidende Kind übernommen haben.
Dann wollen wir dieses Kind, das wir waren, verstehen, sein Leiden anerkennen und es nicht länger verleugnen.
Buchbesprechung: Peter Bernhard
Zum Lebenswerk der schweizerischen Psychoanalytikerin Alice Miller, zusammengefasst in ihrem Buch
"Dein gerettetes Leben"
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, 319 Seiten, ISBN 978-3-518-41934-2 € 19,90