Differenzielles Lernen in der Psychotherapie
Die Orientierung an den Bedürfnissen der Klientinnen und Klienten, die Optimierung des Therapieaufwands und die Verbesserung des Alltagstransfers sind dauerhafte Anliegen der Psychotherapie. Unter vergleichbaren Gesichtspunkten wird in der Bewegungswissenschaft seit einigen Jahren die Diskussion über die Entwicklung des Sporttrainings geführt. Auch hier stehen Fragen nach einer Technik, die an den individuellen Möglichkeiten der Athletinnen und Athleten orientiert ist, im Vordergrund, begleitet von Überlegungen zur Effektivität und zum sportlichen Transfer der Trainingsinhalte. Nachfolgend soll das Interesse von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten an einem neuen Denkund Handlungsansatz angeregt werden, der seinen Ursprung in der Sportwissenschaft hat.
Von der Sportwissenschaft lernen
Kaum eine Fußballmannschaft von Weltgeltung, die in ihren Reihen nicht wenigstens einen Spieler aus Brasilien hat. Wie aber kommt es, dass brasilianische Fußballer international so erfolgreich sind? Eine Frage, die der Sportwissenschaftler W. I. Schöllhorn in einem Vergleich zuspitzt: „Immer wieder wird die deutsche Form, Fußball zu spielen, mit der brasilianischen verglichen. Auf der einen Seite werden eher mannschaftsorientierte, strukturierte und kämpferische Betonungen vermutet, auf der anderen Seite eher zusammengewürfelte Individualisten mit eher künstlerisch-kreativen Charakteren entdeckt. In unmittelbarer Verbindung hierzu sind beide Formen der Fußballdarbietungen wohl als Resultate unterschiedlicher Ausbildungssysteme zu betrachten. Bei den einen spielerisches Lernen am Strand und in Hinterhöfen in Verbindung mit scheinbar unkontrolliert, zufällig zusammengewürfelten Mannschaften, bei den anderen systematisches Training auf englischem Rasen und in gebohnerten Hallen, gepaart mit strukturierter Planung und Organisation von frühester Kindheit an“ (Schöllhorn et al. 2004, S. 13).
Ist es also die unorthodoxe Art zu lernen und zu trainieren, die jene südamerikanischen „Straßenfußballer“ später als Profis auf internationalem Rasen so erfolgreich macht? Sollte man also im Training besser auf „ungeeigneten“ Untergründen mit „falschen“ Bällen und „verkehrten“ Schuhen kicken, sollte man die natürlichen „Störeinflüsse in Form von Strand oder Hinterhöfen (Schöllhorn et al. 2004, S. 13) zulassen? Aus dieser Diskussion heraus entwickelte der Mainzer Sportwissenschaftler W. I. Schöllhorn seinen Ansatz des „differenziellen Bewegungslernens“ (vgl. Schöllhorn 1999). Charakteristisch für dieses Modell ist die Abkehr von der Vorstellung überindividueller Bewegungs-„Ideale“. Der Grund liegt auf der Hand: Bewegungen lassen sich nämlich nicht identisch reproduzieren (vgl. Hatze 1986; zit. in Schöllhorn 1999, S. 8), sondern bei jedem Ausführungsversuch treten natürliche Bewegungsdifferenzen auf, denen der Ansatz seinen Namen verdankt. Konsequenterweise verzichtet differenzielles Lehren und Lernen auf einschleifendes Üben vorgegebener Bewegungen. Wie aber kann Psychotherapie von diesen Überlegungen profitieren?
Ein Lernprinzip
Einen Hinweis darauf, dass es sich beim „differenziellen Lernen“ nicht nur um einen didaktischen Ansatz des Bewegungslernens handelt, sondern vielmehr um ein allgemeines Lernprinzip, gibt jüngst eine Forschergruppe um Schöllhorn. Die Autoren weisen auf medizinische Einsatzmöglichkeiten hin, wenn es darum geht, Menschen aus einem Zustand herauszuführen, der zu stabil geworden ist (vgl. Schöllhorn, Beckmann & Davids 2010, S. 371). In die gleiche Richtung weisen Ergebnisse aus Untersuchungen von K. Rommel zum differenziellen Stimmtraining (vgl. Rommel 2012). Auch wenn sich keine umkehrbare Beziehung Bewegung = Verhalten formulieren lässt, so liegen doch zahlreiche Lernaspekte vor, die beiden Bereichen gemeinsam sind. Deshalb ist eine Anwendung differenziellen Lernens auf Verhaltenstherapie zu erwägen – mit anderen Worten: auf Bereiche von Psychotherapie, in denen es um Lernen geht. Hierbei lässt sich etwa an Therapie bei Störungsbildern denken, die durch ein hochstabiles, unflexibles Verhalten charakterisiert sind, z. B. Depressionen, Zwänge, Süchte und Phobien.
Unter den Leitgesichtspunkten der Therapiequalität und -effektivität sowie in dem Bestreben, Klientinnen und Klienten einen niederschwelligen Zugang zu individuellen Verhaltensoptima zu eröffnen, werden im Folgenden zunächst die drei wichtigsten Bausteine des differenziellen Ansatzes dargestellt. Abschließend werden einige Schlaglichter auf mögliche therapeutische Konsequenzen geworfen.
Baustein Nr. 1: Lernen heißt verändern
Differenziell betrachtet handelt es sich beim Verhaltenserwerb nicht um einen geradlinigen Prozess, wie er aus der systematischen Desensibilisierung bekannt ist, wo man unerwünschte Verhaltensparameter sukzessiv zu tilgen versucht. Vielmehr wird darunter ein Vorgehen verstanden, das beim „Ausprobieren“ in einem gesicherten Lösungsraum (Handlungsrahmen) auch „Sprünge“ oder „Richtungswechsel“ zulässt, ohne sie als „Fehler“ zu werten. Man kann sich dies so vorstellen, dass man nicht gezwungenermaßen nur geradewegs zum Ziel kommt, sondern indem man „interpoliert“, d. h. jeweils eine Position aufsucht, die zwischen zwei bereits bekannten zulässigen Werten liegt. Dieser Vorgang kann so lange wiederholt werden, bis der individuelle Optimalwert (in Abhängigkeit mit der jeweiligen Handlungssituation) gefunden wird. Die Methode des Interpolierens trägt dazu bei, den Transfer der Lerninhalte zu verbessern: Man lernt, schnell und adäquat mit stetig sich ändernden Verhaltensbedingungen zurechtzukommen (vgl. Römer, Schöllhorn, Jaitner et al. 2009, S. 41). Hier ist etwa an den kontrollierten Umgang mit Süchten oder an das Suchtrückfall-Management zu denken.
Baustein Nr. 2: Veränderung setzt Instabilität voraus
Wie aber lässt sich dieser Veränderungsprozess in Gang setzen? Lernen verfolgt das Ziel, aus einem unteroptimalen Verhalten, wie es vor Beginn des Lernens vorlag, in ein individuell optimiertes Zielverhalten zu wechseln. Übertragen auf den therapeutischen Zusammenhang bedeutet dies: Aus einem hochstabilen („starren“) Verhalten mit Störungswert soll in einen elastischstabilen Zustand gewechselt werden, der flexibles und situativ angemessenes Verhalten zulässt. Nach differenzieller Vorstellung muss hierzu zunächst eine Phase der Instabilität herbeigeführt werden (vgl. Schöllhorn 1999, S. 7), die es erst ermöglicht, dass ein neuer stabiler Zustand aus der Wechselwirkung der Systemelemente (spontan) zutage treten kann (vgl. Nitsch & Munzert 1997, S. 151). Methodisch kann dies z. B. durch „überraschende“, so nicht vorhersehbare therapeutische Interventionen herbeigeführt werden.
Baustein Nr. 3: Am natürlichen Lernverhalten orientiert
Die zentrale therapeutische Aufgabe im Sinne des differenziellen Lehrens besteht also darin, Instabilität in das Verhaltenssystem einzubringen. Als Mittel zum Zweck dienen hierbei in erster Linie Ablaufvarianzen. Sie orientieren sich am natürlichen Lernverhalten, denn: Kein Verhalten lässt sich identisch wiederholen. Vielmehr gehört eine gewisse Verhaltensvarianz zu seinen natürlichen Bedingungen. Situationsbedingt entstehen nämlich bei jeder „Wiederholung“ unwillkürliche Differenzen zwischen der aktuellen und der ihr vorausgehenden Ausführung: Schließlich wird jeder Ausführungsversuch von den ihm vorausgehenden Erfahrungen beeinflusst. Biologische Systeme wie der Mensch machen sich dies in ihrem natürlichen Lernverhalten unbewusst zunutze. Beim „Üben“ gewinnen sie aus diesen Ausführungsdifferenzen Informationen, aufgrund derer sie sich fortwährend an veränderliche Situationen anpassen (vgl. Schöllhorn 1999, S. 7, im Anschluss an Ashby 1956). Deshalb bilden Varianzen den methodischen Kern eines differenziell orientierten Vorgehens. Durch sie werden die ohnehin bei jeder Ausführung auftretenden Differenzen bewusst provoziert und verstärkt.
Beispiel: Eine Klientin ist gewohnt, ihre Einsamkeit zuhause mit Alkohol zu betäuben. Bei einladendem Wetter jedoch geht sie, wenn sie sich einsam fühlt, zuweilen in ein Café, wo sie unter Menschen ist und wo sie dann Alkoholfreies trinkt. Diese Varianzen des Ortes und des Getränks können den Ausgangspunkt für ein differenzielles therapeutisches Vorgehen bilden; geben sie doch Anlass, die Faktoren auf vielfältigste Weise zu variieren. Differenzen werden mithin verstärkt, indem Aufgabenstellungen variiert werden.
Die Varianzen sollten dabei so gestaltet werden, dass die aufeinanderfolgenden Aufgaben sich deutlich voneinander unterscheiden (vgl. Schöllhorn 2005, S. 132); und zwar so deutlich, dass das System nach der erzwungenen Phase seiner Instabilität nicht in das gewohnte starre Verhaltensmuster zurückfällt, sondern in das angestrebte neue stabil-elastische Verhalten übergeht.
Beispiel: Ein Werkstattleiter leidet unter dem Zwang, abends mehrfach kontrollieren zu müssen, ob alle Maschinen ausgeschaltet sind. Er kann erst dann seine Werkstatt verlassen, wenn er alle Maschinen der Reihe nach exakt fünfmal an- und wieder ausgeschaltet hat. In seiner Freizeit liest er gerne Cartoons. Nun erhält er die Aufgabe, anstelle seines abendlichen Kontrollrituals jeweils mit zwei Würfeln die Reihenfolge der Maschinen zu bestimmen sowie die Anzahl der Schaltvorgänge; und immer dann, wenn er eine „sechs“ würfelt, soll er einen witzigen Cartoon anschauen, bevor er im Ablauf fortfährt.
Therapeutische Konsequenzen
Dass Klientinnen/Klienten nicht auf das Vollstrecken vorgegebener Handlungsmuster reduziert werden sollen; dass auf ihre individuellen Voraussetzungen und ihren aktuellen Erfahrungsstand bei der Therapieplanung eingegangen werden soll; dass eine Therapie dort ansetzen kann, wo kleine Abweichungen im Ablauf des zu verändernden Verhaltens auftreten: Alles dies ist psychotherapeutisches Gemeingut. Bei dem Versuch, differenzielles Lernen für die Psychotherapie nutzbar zu machen, kann genau an diesen „Schnittstellen“ zu traditionellen Vorgehensweisen angeknüpft werden. Hier (im psychotherapeutischen Prozess) wie dort (im Bewegungslernen) lautet die Aufgabe, ein zu stabil gewordenes Verhalten in Fluss zu bringen und dem „Lernenden“ zu Wahlfreiheit zu verhelfen. Hier wie dort geht es darum, zu stabile Ausgangsmuster instabil zu machen, um in ein anderes, erwünschtes Verhaltensmuster zu gelangen. Das differenzielle Lernen fordert zu diesem Zweck eine Gestaltung von Lösungsräumen, die das Interpolieren fördern und die Entwicklung individuell optimaler Lösungen zulassen. Das Mittel ist das Variieren von Übungen. Die dauerhaft hohe Lernrate bei diesem Vorgehen kann den therapeutischen Aufwand verringern und die Therapieeffektivität erhöhen. Zugleich kann das Erlernen des Interpolierens den Alltagstransfer verbessern.
Aufseiten der Klientinnen und Klienten:
In einem differenziell gestalteten Lösungsraum können Klientinnen und Klienten individuelle Lösungsansätze erproben. Das Prinzip des interpolierenden Erprobens bedeutet zugleich, dass Verhaltensdifferenzen als Wegmarken eines therapeutischen Prozesses „erlaubt“ sind. Dieser Ansatz, bei dem das therapeutische Augenmerk nicht auf dem Vermeiden oder der Korrektur von Fehlern liegt, sondern auf dem Finden einer individuell passenden Lösung kann einen niederschwelligen Zugang zu ihren individuellen Verhaltensoptima eröffnen. Dabei lässt ein nichtlinearer Therapieverlauf positive Überraschungen zu; Überraschungen, die Aufmerksamkeit, Selbstwahrnehmung und Motivation auf hohem Niveau halten und für mehr Therapiezufriedenheit sorgen können.
Aufseiten der Therapeutinnen/Therapeuten:
Differenziell vorzugehen bedeutet nicht, auf bewährte Techniken verzichten zu müssen und ausschließlich spezielle neu zu entwickelnde Übungen oder Aufgaben anzuwenden. Auch traditionelle Mittel können angewandt werden, doch sollten sie nicht als geradlinige Übungsverläufe oder geblockte Übungen, sondern in randomisierter, d. h. so nicht vorhersehbarer Folge dargeboten werden. Differenziell vorgehende Therapeutinnen und Therapeuten bringen als sachkundige Helfer und Begleiter situativ Instabilität in das Verhaltenssystem ein. Sie definieren Lösungsräume und variieren Aufgaben. Dadurch veranlassen sie überangepasste Klientinnen/Klienten nicht zu zusätzlicher Anpassung, sondern verschaffen ihnen und sich selbst mehr Freiraum – einen Freiraum, der als eine zentrale Voraussetzung therapeutischer Motivation und Berufszufriedenheit gelten darf.
Literatur
- Ashby, R. (1956): An Introduction to Cybernetics, London, Chapman & Hall
- Hatze, H. (1986): Motion variability – its definition, quantification, and origin. Journal of Motor Behavior 18, S. 5-16
- Nitsch, J.R., Munzert, J. (1997): Handlungstheoretische Aspekte des Techniktrainings. Ansätze zu einem integrativen Modell. In: Nitsch, J. R., Neumaier, A., de Marées, H., Mester, J. (Hrsgg.): Techniktraining. Beiträge zu einem interdisziplinären Ansatz, Schorndorf: Hofmann, S. 109-172
- Römer, J., Schöllhorn, W. I., Jaitner, Th. et al. (2009): Differenzielles Lernen im Volleyball. Sportunterricht 58, S. 41-45
- Rommel, K. (2012): Differenzielles Stimmtraining. M.A.-Arbeit in Speech Communication and Rhetoric, Universität Regensburg (erscheint voraussichtlich 2013)
- Schöllhorn, W. I. (1999): Individualität – ein vernachlässigter Parameter? Leistungssport 29, S. 3-12
- Schöllhorn, W. I., Sechelmann, M., Trockel, M. & Westers, R. (2004): Nie das Richtige trainieren, um richtig zu spielen. In Leistungssport 34/5, S. 13-17
- Schöllhorn, W. I. (2005): Differenzielles Lehren und Lernen von Bewegung – durch veränderte Annahmen zu neuen Konsequenzen. In: Gabler, H., Göhner, U., Schiebl, F. (Hrsgg.): Zur Vernetzung von Forschung und Lehre in Biomechanik, Sportmotorik und Trainingswissenschaft, Hamburg, Czwallina, S. 125-135
- Schöllhorn, W. I., Beckmann, H., Davids, K. (2010): Exploiting system fluctuations. Differential training in physical prevention and rehabilitation programs for health and exercise, Medicina (Kaunas) 46, S. 365-373
Katja Rommel B.Sc. M.A.
Gesangsstudium, Sängerin und Gesangspädagogin, Studium der Logopädie, Sprechwissenschaft und Rhetorik, Arbeit als Logopädin mit Patientinnen/Patienten mit psychogenen und organischen Stimmund Redeflussstörungen sowie neurologischen Sprechstörungen in freier Praxis und im klinischen Bereich, im Rahmen der Master-Arbeit Entwicklung eines Konzeptes zum differenziellen Stimmtraining (KaRo®Voice)
Dr. phil. Franz-Josef Schwarz
Studium der sozialen Verhaltenswissenschaft und der Musikwissenschaft; psychotherapeutische Ausbildung, Heilpraktiker für Psychotherapie, VFP-Zertifizierung, therapeutische Tätigkeit in freier Praxis, Tätigkeit in der Lehrerfortbildung sowie in der betrieblichen Fortbildung und Beratung, seit 2001 Leiter der Studienabteilung des Mainzer Konservatoriums, Unterricht in Psychologie und Pädagogik an der Universität und dem Konservatorium in Mainz