Von der Zerstörung der Welt
In Don DeLillos Roman Underworld werden die Katastrophenfantasien eines 13-jährigen Jungen, der glaubt, mittels eines magischen Fernblicks Flugzeuge vom Himmel stürzen zu lassen, folgendermaßen beschrieben:
„Ein Flugzeug in der Luft war eine allzu starke Provokation, um sie zu ignorieren. [...] er glaubte, er könne fühlen, wie das Objekt sich selbst danach sehnte, einfach zu bersten. Er brauchte sich nur das Brandbild herbeizuwünschen, und schon würde das Flugzeug in Flammen aufgehen und zerschellen.“
Seine Schwester sagte immer zu ihm: „Na los, jag es in die Luft, das will ich sehen, wie du dieses Flugzeug mit allen 200 Leuten an Bord aus der Luft holst, und es erschreckte ihn, jemanden so reden zu hören, und es erschreckte auch sie, denn sie war sich nicht vollkommen sicher, ob er es nicht doch könnte.“ Das ist eine besondere Fähigkeit Heranwachsender, sich das Ende der Welt als Anhängsel der eigenen Unzufriedenheit vorzustellen.
Woher stammen die Zerstörungs- und Tötungsfantasien eines Jungen, der, so lässt der Roman zumindest vermuten, unter durchschnittlichen Bedingungen aufgewachsen ist und dessen Pubertät im Rahmen des Normalen verläuft?
Geht man davon aus, dass es weniger die individuellen sozialen und entwicklungsrelevanten Umstände sind als die Pubertät selbst, die in dem Jungen die oben beschriebenen Gedanken zur Reifung bringen lässt, so muss in dieser Phase der psychischen und körperlichen Reifung ein gedankliches Zerstörungspotenzial existieren, das alle Heranwachsenden in existenzieller Weise angeht. Im Psychophysikum der Pubertierenden wäre dann, wenn auch in individuell unterschiedlichen Graden, ein ich-syntoner Zerstörungsdrang oder sogar -wahn angelegt, der sich in ausgelebten Aggressionen der einen oder anderen Art niederschlagen könnte, worunter natürlich auch autoaggressive Handlungen fallen würden. Eine solche Annahme würde auch die für dieses Alter typische und nicht selten fatale Faszination für Risikosportarten, die Kultivierung suizidaler oder den Tod in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung rückende Gedankenspiele, exzessiver Drogengebrauch und unreifes sexuelles Verhalten erklären können. Dieses insbesondere im Hinblick auf die mangelnde Wahrnehmung des Liebesobjekts als ein einzigartiges Individuum, sondern eine beliebige Körperlichkeit, an der sich delektiert werden kann.
Im Folgenden sollen die Überlegungen angestellt werden, ob die (männliche) Pubertät als eine Phase der Ausreifung (... und nicht der Verstellung des geistigen Wertehorizonts durch den hormonellen und physiologischen Umbau des Psychophysikums, wie angenommen werden könnte) der geistigen Person begriffen werden kann, die in aufeinanderfolgenden und klar unterscheidbaren Schritten verläuft, in welchen jeweils existenzielle Fragestellungen den Pubertierenden umtreiben und die Aggression in Wort und Tat eine Bewältigungshilfe darstellt, die zunächst einmal von jeglicher Bewertung frei als solche verstanden werden sollte. Natürlich kann es nicht darum gehen, aggressive Handlungen zu verteidigen und Jugendlichen grundsätzlich die Möglichkeit einer Werterealisierung von der geistigen Person her abzusprechen, was diese implizit auf ihr Psychophysikum reduzieren würde, sondern Aspekte der individuellen Genese der geistigen Person nach zu verfolgen.
Folgt man diesen Überlegungen so ergäben sich möglicherweise vier Schritte der Reifung, die individuell und in ihren Ausprägungen schicksalsbedingt durchlaufen werden müssten.
1. Präpubertäre Phase – Kinder wollen die Welt ihrer Eltern erfahren, die Eltern sind dabei unsterblich.
In der ersten Phase einer existenziellen Annäherung an die Welt ist der Heranwachsende in der Welt seiner Eltern geborgen. Die phänomenologischen Weltdeutungen der Eltern werden ebenso akzeptiert wie die vermittelten Möglichkeiten der Werteausrichtung.
Entwicklungspsychologisch und bindungstheoretisch gesehen begründet sich hier vor allem der Wertehorizont des zukünftigen Individuums als Homo amans und seiner besonderen Ausformung des Homo religiosus.
2. Erste pubertäre Phase – Pubertierende wollen die Welt ihrer Eltern zerstören, ihre eigene Person ist dabei unsterblich.
Im zweiten Schritt wird diese Akzeptanz als Hilflosigkeit erkannt und verstanden und es kommt zu einem Aufbegehren gegen den elterlichen Wertekosmos. Der erwachende Körper wird als allmächtig begriffen und aus dieser Allmacht heraus erfolgt die Forderung nach einer Neuformung der Welt.
Entwicklungspsychologisch und bindungstheoretisch gesehen begründet sich hier vor allem der Wertehorizont des zukünftigen Individuums als Homo Faber, denn jede Schöpfung bedarf eines Raums, der schöpferisch erschlossen werden kann. Die Welt wird in dieser Phase phänomenologisch jedoch als etwas erfahren, was sich im Besitz der Vorgängergeneration beendet und dieser zunächst entrissen werden muss. Die unsterbliche und allmächtige Elterngeneration wird in ihrem Herrschaftsanspruch auch über das kindliche Psychophysikum relativiert, phänomenologisch verdeutlicht sich dieser Prozess durch eine körperliche Annäherung, die jedoch Psyche und Physis nicht immer synchron betreffen; das Physikum reift heran, die Psyche bleibt zunächst mit einem fremd werdenden erwachsenen Körper konfrontiert, der ungeahnte und zunächst einmal auch unzugängliche Möglichkeiten bietet.
Aus dieser Reifungsphase heraus lässt sich nicht nur die Faszination der pubertären Jugendlichen für Katastrophenfilme und -szenarien aller Art erklären, sondern auch die Todesversessenheit unterschiedlichster Jugendkulturen. Der symbolische Vatermord, den Freud als Kultur – und die männliche Psyche überschattendes Urereignis verstand, wäre dann als zeitbedingte sexualitätsversessene Fehlinterpretation zu verstehen: Es ging niemals darum, den Vater zu morden, sondern dessen bedrückende Welt zu verbrennen, sobald man Hand an die Streichhölzer legen konnte.
3. Zweite pubertäre Phase – Heranwachsende wollen die Welt von ihren Eltern übernehmen, die Eltern werden dabei als sterbliche Konkurrenten erkannt.
Entwicklungspsychologisch und bindungstheoretisch gesehen begründet sich hier vor allem der Wertehorizont des zukünftigen Individuums als Homo patiens.
4. Erwachsene wollen die Welt für sich und ihre Kinder bewahren, ihre eigene Person wird dabei als sterblich erkannt, es erfolgt ein Friedensschluss mit der Elterngeneration.
Der Wertehorizont des Homo patiens wird im Idealfall verfestigt und bestätigt.
Wie jedes ideale Modell beweist auch dieses seinen Wert nur darin, dass mit seiner Hilfe aufscheinende Probleme erkannt und aufsetzend Lösungsstrategien entworfen werden können.
Die sich aufdrängenden Zerstörungsfantasien, wie sie von Don DeLillo beschrieben werden, verwiesen dann auf das Verhaftet sein des Protagonisten in der ersten pubertären Phase, wobei das Flugzeug stellvertretend für die technisch gestaltete Welt der Elterngeneration stünde und der magische Fernblick als phallische unerwartet räumliche Erweiterung des eigenen Körpers, dessen Erfahrung noch überfordernd ist.
Wie erwähnt kann es nicht darum gehen, das destruktive Potenzial der Jugendlichen moralisierend zu entwerten oder es unbekümmert naiv als einen schicksalhaften Aspekt der psychophysischen Reifung abzutun, auch wenn es hormonelle Auslöser für den Reifungsprozess geben mag. Die Destruktivität muss vielmehr als eine existenzielle Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Welt verstanden werden, indem sich der Jugendliche im wahrsten Sinne des Wortes „Raum“ verschaffen möchte und muss, wobei der hierzu in Verbindung stehende in Reifung begriffene Wertehorizont durch den symbolischen Mord an den (elterlichen) Vorbildern besonders gefährdet ist. Die konkrete Bedrohung erfolgt aus einem kollektiven Denken und Werten heraus, das besonders in dieser Phase Halt und Orientierung leisten kann, und hier gilt wie zu allen Zeiten, dass die einfachsten Werte stets die attraktivsten sind.
Die nur oberflächlich durch religiöse Motivation und Werterfahrung zu erklärenden Grausamkeiten des IS oder jeder anderen terroristischen Organisation, die besonders bei pubertierenden jungen Männern, die zum großen Teil außerhalb eines wie auch immer gearteten islamischen Wertekontextes heranwachsen, inden hierin möglicherweise ihr Fundament, denn die Heilsversprechen jedweden religiösen Fundamentalismus entsprechen fatalerweise dem Denken eines Pubertierenden: Das Heil und die neu zu gestaltende Welt können nur auf den Trümmern der alten Welt gedeihen und je vollkommener und radikaler diese durch unser Zutun in Scherben fällt, desto glänzender wird die als eigen empfundene neue Welt sein.
Sieht man sich um, so könnte man zu dem Schluss kommen, dass die Zahl der Erwachsenen im Abnehmen begriffen ist und die Welt von Pubertierenden jeden Alters übernommen wird.
Spätestens mit dieser Einsicht wird deutlich, dass es sich bei den oben skizzierten Phasen nicht um konkrete in objektiver Zeit zu bemessende Altersabschnitte im Leben eines Mannes handelt.
Auch ein Mann, dessen Körper die Phase der physiologischen Neustrukturierung längst hinter sich gelassen hat, kann ein Leben lang im existenziellen Sinne ein Pubertierender sein, denn es erweist sich, dass die körperliche Reifung die Reifung der geistigen Person nur anstoßen, jedoch nicht vollenden kann, da diese das Produkt einer existenziellen Auseinandersetzung mit der Welt ist und auf Entscheidungen und Handlungen basiert, die zur Ausformung eines Wertehorizonts führen. Wird der Pubertierende nicht durch Vorbild und Erziehung in die Lage versetzt, sich selbst zu einem verantwortungsbewussten Handelnden zu gestalten, besteht nicht nur die Gefahr, dass kollektives Denken das individuelle Denken ersetzt und die geistige Person nicht zur Entfaltung kommen kann.
Praxis Jens Helmig:
Paartherapie - Sexualtherapie - Beratung
www.praxisjenshelmig.de
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