Fallstudie: Verlustangst überwinden mit transgenerationaler Arbeit
Die 40-jährige Klientin berichtet unter Tränen, dass sie derzeit schlecht schlafe, nachts hochschrecke und Angst habe, von heute auf morgen alles zu verlieren. Diese große Verlustangst, die sich auf nahestehende Menschen sowie auf die eigene Gesundheit und finanzielle Mittel bezieht, belaste sie sehr. Sie wirkt sehr verzweifelt.
Weiter berichtet sie, dass sie in ihrem Beruf sehr erfolgreiche Phasen und auch Tiefs hätte. Ein Stück weit fühle sie sich dadurch lebendig, die Fallhöhe sei aber beträchtlich.
Im Gespräch arbeiten wir heraus, dass eine Abnabelung von der Mutter während der Adoleszenz nur bedingt stattfand und diese immer noch starken Zugriff auf sie hat. Es falle ihr schwer, Entscheidungen zu treffen, da diese immer Verbesserungsvorschläge in vielen Bereichen unterbreitet hätte.
Hinzu kommt der von der Mutter übernommene Glaubenssatz „Ich darf nicht zeigen, dass es mir gut geht, da es viele Menschen gibt, denen es schlechter geht“. Diese Demut stünde so im Vordergrund, dass die Klientin als Kind selbst bei der Auswahl von zwei Süßigkeiten sich für die Süßigkeit entschieden hätte, welche sie weniger gern mochte. Die Klientin möchte ihre Verlustangst überwinden und sich von der Mutter abnabeln.
Die Behandlungsmethode
Ich entscheide mich an dieser Stelle für transgenerationale Arbeit und bitte die Klientin, zwei Matten (eine für sich selbst und eine für ihre Mutter) im Raum zu platzieren und sich auf ihre eigene Matte zu stellen. Ich lasse die Klientin benennen, welche Gefühle sich in Bezug auf ihre Mutter zeigen.
Themen benennen
Ich gebe der Klientin ein großes, schweres Kissen in die Hand und lasse sie alle eben gespürten Emotionen, die sie negativ mit der Mutter verbindet, symbolisch in das Kissen packen. Wir arbeiten eine Weile, bis wirklich alles in dem Kissen verankert ist. Ich lasse die Klientin diese Last und den empfundenen Mangel spüren, lasse sie ihren Körper wahrnehmen und frage sie, ob sie sich vorstellen könne, dieses Päckchen an ihre Mutter zurückzugeben.
Sie verneint dies, da sie ihrer Mutter keine Schuld zuweisen möchte. Sie liebe ihre Mutter und wisse, dass sie nichts aus böser Absicht falsch gemacht habe. Und sie wisse ohnehin, dass die Mutter das Paket nicht als ihres anerkennen und somit auch nie annehmen würde.
Rollentausch
Nun bitte ich die Klientin, sich auf die Matte der Mutter zu stellen und deren Rolle einzunehmen. Auf die Frage, ob sie die Last der Tochter wahrnehmen könne, sagt sie „Ja“, weist aber tatsächlich darauf hin, dass sie selbst damit nichts zu tun habe. Ich frage sie, ob sie der Tochter dennoch die Last abnehmen würde. Sie bejaht dies und sagt, dass sie sie über alles liebe und alles dafür tun würde, dass ihre Tochter ein freies, glückliches Leben führe.
Metaebene
Die Klientin steht nun wieder auf ihrer Matte. Obwohl sie wahrgenommen hat, dass die Mutter ihr das Päckchen abnehmen würde, fällt es ihr extrem schwer, es ihr auszuhändigen.
Wir arbeiten intensiv an den Ängsten, die sich hier zeigen. Ich hole die Klientin für einen Moment in die Metaebene und lasse sie die Situation von außen betrachten und analysieren.
Rückgabe des Päckchens
Zurück auf ihrer Matte, weise ich die Klientin darauf hin, dass es bei ihrem Festhalten an diesen Themen um die nicht stattfindende Ablösung gehen könne und dass dies der Moment sei, in dem sich etwas verändern dürfe, indem sie die Verantwortung für sich selbst übernehme.
Ich frage sie, ob sie sich vorstellen könne, wie es wäre, ab heute frei von dieser Last und diesem Mangel zu leben. Das stellt sie vor eine große Herausforderung, da sie das Gefühl hat, dass ihre innere Bremse (der Einfluss der Mutter) wegfalle und sie nicht wisse, wie sie mit den frei werdenden Energien umgehen solle.
Ich erkläre ihr, dass sie ab heute ihre innere Bremse selbstverantwortlich regulieren könne. Dies ist eine neue Erkenntnis, die die Klientin sichtlich erleichtert. An dieser Stelle geht es darum, die von der Mutter übernommenen Glaubenssätze (Introjekte) der eigenen Bewertung zu unterziehen und in eigene, stimmige Werte umzuwandeln.
Spüren des Schmerzes
Ich bitte die Klientin, genau hinzuspüren, auf welche Art, mit welchen Worten und mit welcher Geste sie ihrer Mutter das Päckchen zurückgeben würde. Ich ermuntere sie, es einmal auszuprobieren, und versichere, dass sie es jederzeit zu sich zurücknehmen könne.
Sie formuliert ihre Dankbarkeit und ihre Wertschätzung und macht ganz klar, dass diese Last nicht zu ihr gehöre und sie diese nun an die Mutter zurückgebe.
Spüren der Erleichterung
Nun gebe ich der Klientin Zeit, genau hinzuspüren, wie sich ihr Körper und ihre Seele anfühlen. Sie fühlt sich dankbar und frei. Es ist ein sehr liebevolles Gefühl und weniger schlimm, als sie erwartet hätte. Es tritt eine sichtliche Erleichterung ein.
Wahrnehmung familiärer Verstrickungen
Nun lasse ich die Klientin wieder auf die Matte der Mutter treten. Ich lasse sie das Päckchen in ihrer Hand spüren. Sie bekräftigt, dass dies alles nichts mit ihr zu tun habe, sie dennoch dieses Päckchen tragen würde, um ihrer Tochter ein freies und glückliches Leben zu ermöglichen. Ich beginne, mit der Mutter und deren Mutter (der Großmutter der Klientin) zu arbeiten. Ich lasse die Klientin in der Rolle der eigenen Mutter eine Matte für deren Mutter platzieren und sie mit ihr Kontakt aufnehmen.
Im Kontakt mit ihrer Mutter (der Großmutter der Klientin), erkennt die Mutter nach und nach doch, dass die Dinge, die in dem Päckchen stecken, mit ihr zu tun haben. Der Schmerz ist sehr groß, was begründet, warum die Klientin so große Schwierigkeiten hatte, das Päckchen an ihre Mutter zu übergeben. Sie hat die Größe des Schmerzes intuitiv wahrgenommen und wollte ihre Mutter damit nicht belasten.
Die große Verlustangst in dem Päckchen ist da, weil die Großmutter versucht hat, sich das Leben zu nehmen und die Mutter der Klientin für ihre jüngeren Geschwister sorgen musste. Sie musste die Fäden in der Hand halten, um die Familie zu retten, was sich heute immer noch deutlich durch ihr ständiges Eingreifen in das Leben ihrer Tochter (der Klientin) zeigt.
Auch hier nehmen wir einen Rollentausch vor. Ich bitte die Klientin, auf die Matte der Großmutter zu gehen, wo sie aus deren Sicht aus ihrem Leben erzählt.
Sie wuchs in sehr reichen Verhältnissen auf, musste jedoch wegen des Krieges dieses Leben von heute auf morgen verlassen. Die Familie floh und verlor alles. Die Fallhöhe war extrem. Ich ziehe die Parallele zur momentanen Lebenssituation der Klientin (extreme Fallhöhe im beruflichen Kontext). Sie lebten fortan in sehr ärmlichen Verhältnissen und mussten sich alles wieder hart erarbeiten (Demut als hoher Wert der Mutter – sie weiß, wie es sich ganz unten anfühlt).
Rekreation dysfunktionaler Muster
Ich weise die Klientin darauf hin, dass sie sich diese Dynamik in ihrem Leben immer wieder unbewusst kreieren werde, solange sie nicht an dieser Stelle aufgelöst werde. Sie kann diese Verknüpfung nachvollziehen.
Die Mutter der Klientin gibt das Päckchen nach einiger Arbeit sehr wertschätzend, würdigend und auch traurig und verletzt an ihre Mutter zurück. Sie spricht ihre Vorwürfe bzgl. des Suizidversuchs klar aus und spürt den Schmerz, wodurch in dem Moment spürbar Heilung geschehen kann.
Ressourcenorientierung
Ich lasse die Klientin nun an die Stelle des Ahninnen-Kollektivs treten und sie hineinspüren, ob sie das Päckchen an sich selbst zurückgeben würde, was sie sofort verneint.
Ich lasse sie aufzählen, welche Stärken, Fähigkeiten, Kompetenzen und weiteren positiven Eigenschaften sie von ihren Ahninnen mitbekommen hat. Die Klientin formuliert aus Sicht der Ahninnen gute Wünsche an sich selbst. Die Verbindung mit den Stärken der Ahninnen kann ein sehr wirkungsvolles Element auf dem Weg zur Abnabelung sein.
Neue Positionierung im Familiensystem
Nun bitte ich die Klientin wieder auf ihre eigene Matte und lasse sie noch einmal aus dieser Perspektive wiederholen, welche Wünsche, positiven Eigenschaften und Stärken sie von den Vorfahrinnen geschenkt bekommen hat. Des Weiteren frage ich sie, ob sie nun das Päckchen noch zurückhaben wolle, was sie sofort verneint.
Zu guter Letzt lasse ich sie durch Ausprobieren herausfinden, wie eine ideale Positionierung ihrer Matte und der Matte ihrer Mutter im Raum wäre, damit es sich für sie stimmig anfühlt. Hiermit unterstreiche ich das Gefühl der Freiheit und Beweglichkeit.
Sie baut einigen Abstand zu dem Ahninnen-Kollektiv auf und positioniert die Mutter auf ihrer rechten Seite leicht hinter sich. Dies entspricht der natürlichen Ordnung im Familiensystem. Ich bestärke sie darin, ihrer offensichtlich sehr gut vorhandenen Intuition zu trauen, um künftig auch leichter Entscheidungen, unabhängig von der Mutter, treffen zu können.
Konklusion
Transgenerationale Arbeit kann eine sehr gute Möglichkeit sein, Verlustängste zu überwinden. Sie kann ein guter Start in die weitere therapeutische Arbeit sein.
Es tritt oft eine erste große Erleichterung ein und das System kann anfangen, sich neu zu sortieren. Es entsteht die Möglichkeit, sich selbstständig und losgelöst von alten, familiären Belastungen zu entwickeln. Hierbei ist eine therapeutische Begleitung sinnvoll, denn es kann auch ein erstes Gefühl der Leere auftreten. Der neue Raum, der durch die Rückgabe des Familienpäckchens entstanden ist, darf jetzt positiv befüllt werden.
Dinah-Ann Lendzian
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Schwerpunkt Gestaltpsychotherapie, Praxis THERAPIE am DEICH, Elmshorn
Die Bilder zeigen die transgenerationale Arbeit in der Praxis. Fotos: Julia Lundström,
Copyright: Dinah-Ann Lendzian