Zum Hauptinhalt springen

Wenn Worte nicht mehr reichen: Mit neuroaffektivem Psychodrama von der posttraumatischen Belastung zur posttraumatischen Heilung

©detailblick-fotoDie Auswirkungen der Jahre 2020/21 werden uns noch lange begleiten: nicht nur, was die ökonomischen Folgen der Lockdowns betrifft, sondern vor allem auch die psychischen Folgen. Wir sehen uns mitten in einer enormen zwischenmenschlichen Katastrophe gefangen.

Der im Frühjahr 2020 erste verordnete Rückzug vom Sozialleben wurde von einigen willkommen geheißen: Endlich war Zeit, zur Ruhe zu kommen, in den eigenen vier Wänden seinen Belangen nachzugehen, zu entspannen – ohne gleichzeitig das Gefühl zu haben, etwas zu verpassen.

Doch bereits im Mai 2020 zeigten sich erste psychologische Folgen: Die von der Uni Erfurt initiierte COSMO-Studie1), die die psychischen Belastungen der Bevölkerung engmaschig monitort, hat bereits wenige Wochen nach dem 1. Lockdown psychologische Beeinträchtigungen festgestellt.

©males_design

Psychisch vorbelastete Menschen reagierten auf die erzwungene Abschottung und den Verlust der sozialen Stabilität schon wenige Wochen später mit einer Zunahme der jeweiligen Symptomatik: Angststö- rungen und depressive Zustände wurden verstärkt. Im Lockdown fallen viele positive Verstärker weg, die bis dato eventuell ausreichten, um die psychische Funktionsfähigkeit annähernd stabil zu halten.

Doch mehr und mehr wurde der Handlungsspielraum eingeengt. Jene Ressourcen, die wir in der Verhaltenstherapie als Erstes im Rahmen eines Aktivierungsplans auf die Tagesordnung setzen würden wie soziale Anbindung oder auch Sport, waren plötzlich nicht mehr zugänglich: „Niemanden treffen und am besten nicht mehr raus!“ war die Devise.

Das geht jedem an die Substanz, früher oder später. Mehr und mehr wurden sich viele Menschen bewusst, dass kaum mehr Entscheidungsautonomie und Handlungsfreiheit bestehen: Es ist insbesondere diese erlebte Hilflosigkeit, die frühere Traumata triggert.

©pikselstockEinsamkeit macht krank

Menschen versuchen zu kompensieren: Wenn nur noch wenige oder keine funktionalen Coping-Strategien (= Bewältigungsmechanismen) mehr bleiben, steigt Suchtverhalten jeder Art: Alkoholmissbrauch, Essstörungen, aber auch Online-Kaufsucht, Medien-, Sport- und Sexsucht sind auf dem Vormarsch, Verschwörungstheorien heizen auch Paranoia und schizophrene Psychosen an, die permanente Konfrontation mit Krankheit ist u. a. Futter für Hypochondrie und Zwangserkrankungen.

Wenn Manfred Spitzer im Jahr 2018 Einsamkeit als Todesursache Nr. 1 beschreibt2), wird deutlich, dass Isolation beträchtlichen Stress auch aufs Gehirn ausübt, mit der entsprechenden Kaskade an Folgen wie Immunschwäche, Blutdruckanstieg, Degeneration hippocampaler Neuronen, Krankheitsanfälligkeit etc. Auf psychologischer Ebene sind v. a. im 2. Lockdown verringerte Frustrations- und Ambiguitätstoleranz, schnellere Reizüberflutung und durch die soziale Entwöhnung Verminderung der sozialen Kompetenz und Zunahme von Misstrauen zu verzeichnen.

Zunehmend wird unsere Entscheidungsfreiheit eingeschränkt: Diese Beeinträchtigung der sog. Selbstwirksamkeit bedingt „erlernte Hilflosigkeit“, ein von M. Seligman bereits in den 1960ern beschriebenes depressogenes Konzept3).

Erst 2016 wurde dieses Konzept von M. Seligman selbst und S. Maier insofern adaptiert, dass nun Passivität als Reaktion auf einen Schock als standardmäßige, ungelernte Reaktion auf längere aversive Ereignisse beschrieben ist4). Wenn also Lebewesen über einen längeren Zeitraum hinweg nicht kontrollierbaren Situationen ausgeliefert sind, reagieren sie mit Passivität: Dies ist neurobiologisch gut erforscht.

Dieser Prozess, der auf das Überleben des Organismus abzuzielen scheint, ist serotoningesteuert. Der dorsale Nucleus Raphe unterdrückt so Flucht- und Wehrimpulse. Die Raphe-Kerne sind Teil der Formatio reticularis und befinden sich im Hirnstamm – dem Hirnbereich, der zahlreiche Vitalfunktionen reguliert.

Durch das Erlernen von Selbstwirksamkeit (und Psychotherapie zielt ja immer auch darauf ab, genau diese Selbsteffizienz wiederherzustellen: also Wahlmöglichkeiten zu vermitteln, sich so oder eben anders zu verhalten) kann diese Passivität überwunden werden. Das Ausüben und Erleben von Kontrolle im eigenen Leben geht mit der Aktivierung des medialen präfrontalen Kortex einher, der seinerseits dann den dorsalen Raphe-Kern inhibiert.

Wenn Hilflosigkeit erlebt wird, treten Interessenverlust, Antriebsminderung, Motivationslosigkeit auf. Austausch, Kommunikation wird dann nicht mehr als entlastend, sondern als verpflichtend und belastend erlebt. Obgleich die Förderung von Kohärenz und Selbstwirksamkeit seit vielen Jahren auch vom Gesundheitsministerium als wichtige Maßnahmen zur Krankheitsprävention und Gesundheitsvorsorge proklamiert wird, werden diese wichtigen psychohygienischen Faktoren aktuell vernachlässigt.

Interpersonelles Vertrauen geht durch die soziale Entwöhnung mehr und mehr verloren und das Gefühl der Bedrohung durch die Mitmenschen nimmt zu – die Suggestion, jede zufällige oder intentionale Begegnung mit einem anderen Menschen stelle eine Gefahr für die eigene Gesundheit dar, zeigt Wirkung. In ihrer Wirkung wird diese Suggestion durch eine zweite verstärkt: Die unterschwellige Botschaft, es gäbe die Möglichkeit, das Leben garantiert zu verlängern und dauerhaft gesund zu bleiben, wenn man sich nur ausreichend durch Isolation schütze, trägt dazu bei, in jedem sozialen anderen eine potenzielle existenzielle Gefährdung zu sehen.

Wir entwöhnen uns vom Miteinander – und mit uns entwöhnt sich unser Gehirn. Unser Empathievermögen ist auch durch die Unmöglichkeit der mimischen Wahrnehmung, bedingt durch die Gesichtsmasken, beeinträchtigt. Auch daran passt sich unser Gehirn in seinen Spiegelneuronensystemen an: Wir verlernen den wohlwollenden Umgang miteinander, wir verlieren die selbstverständliche Identifikation mit dem anderen.

Wenn nun Erwachsene schon nach den ersten Wochen des 1. Lockdowns mit einer Beeinträchtigung der psychischen und in Folge physischen Gesundheit reagieren – wie die ersten COSMO Monitorings der Uni Erfurt zeigten – welche Auswirkungen hat ein Jahr sozialer Entwöhnung auf Kinder? Für einen 50-Jährigen stellt ein Jahr 1/50 seiner Lebenszeit dar – er kann auf 49 Jahre Vorerfahrung zurückgreifen und kann eine bessere Zukunft antizipieren. Für einen 5-Jährigen macht ein Jahr 1/5 seines Lebens aus, die Hälfte seiner bewussten Erinnerung. Für den Bedürfnisverzicht (fehlende Gemeinschaft, kein gemeinsames Spiel etc.) hat ein sich entwickelndes Gehirn einen hohen Preis zu zahlen: Es verliert mehr und mehr auch seine sozialen Funktionen.

Umso weitreichender sind die Auswirkungen der globalen zwischenmenschlichen Krise der Jahre 2020/21, mit denen wir wohl nun Jahrzehnte zu ringen haben werden, für jene, die bereits zuvor psychisch instabil waren: vor allem Menschen mit psychischen Störungen und Menschen, die traumatisch vorbelastet sind.

Entwicklungstraumata und erlebte Hilflosigkeit

Potenziell traumatische Erlebnisse treffen uns alle: Wir alle haben bis durchschnittlich vier belastende Lebensereignisse zu bewältigen. Das Risiko, eine PTBS zu entwickeln, steigt mit dem Grad der erlebten Hilflosigkeit. Besonders hilflos, gar ausgeliefert, sind wir in unserer Kindheit: So sind Bindungstraumata wohl die seelischen Belastungen, die (unbehandelt oder falsch behandelt) bis ans Lebensende tiefe Spuren hinterlassen, die uns hochgradig in unserer Soziabilität beeinflussen.

Insbesondere bei Entwicklungstraumata greifen herkömmliche Therapien oft nicht. Zu tief sind die Narben, die fehlende soziale Anbindung im Kindesalter hinterlassen haben. Denn eben das macht Entwicklungstraumata aus: Das sich entwickelnde „Ich“ hatte kein „Du“, das es wohlwollend und fürsorglich angeleitet hätte, sich über seine Empfindungen und Gefühle in einem sicheren, spiegelnden Umfeld zu entdecken. Emotionaler und/oder physischer Missbrauch, auch Vernachlässigung und Überbehütung, führen i. d. R. dazu, dass eigene Gefühle nicht wahrgenommen, nicht verstanden werden können: Die (über das Prinzip der Neurozeption) wahrgenommene Bedrohung durch Bezugspersonen bewirkt, dass sich der Organismus in einem hohen Arousalzustand (= eine hohe Aktivierung) befindet. Doch meistens kann als Kind weder die Überlebensstrategie des Angriffs noch der Flucht angewendet werden. So greift die Physis auf die letzte bleibende Überlebensstrategie zurück: Die Psyche friert ein, spaltet Gefühle ab, dissoziiert.

Wir Menschen als soziale Tiere sind traumaresistent, wenn wir uns in einem sicheren sozialen Umfeld befinden: Bevor überhaupt die klassischen animalischen Überlebensreaktionen des Fight-Flight-Freeze in Kraft treten, suchen wir Unterstützung und Orientierung in unserer Gruppe: Dieser Mechanismus, der höheren Säugetieren angeboren ist, beschreibt Stephen Porges in seiner Polyvagal-Theorie. Wenn jedoch diese Sicherheit fehlt, weil entweder von unseren Bezugswesen selbst Gefahr ausgeht oder sie nicht verfügbar sind, wenn Angriff und Flucht vor der Gefahr nicht möglich sind (ähnlich die bei der medial aufbereiteten Bedrohung durch ein Virus), greift als letzter Überlebensversuch die Erstarrung.

Wenn Trauma also ein Einfrieren von (unaushaltbaren) Gefühlen meint, meint seelisches Heilen ein Auftauen der Gefühle. So können sie nach und nach Teil meines Selbst werden, sie können in mein Ich reintegriert werden. Dabei ist die Wahrnehmung der eigenen Empfindungen und Emotionen Grundvoraussetzung für die Wahrnehmung und Einordnung der Emotionen anderer.

Solange jemand also seine eigenen Gefühle nicht kennt oder unterdrücken muss, kann er nicht empathisch mit anderen sein. Darüber hinaus tendiert gerade der entwicklungstraumatisierte Mensch dazu, mimische Expressionen anderer Menschen zu missinterpretieren: So wird ein neutrales Gesicht z. B. als bedrohlich oder auch eine angespannte Mimik als positiv erregt wahrgenommen.

Psychodrama:
Umschreiben des Lebensskripts durch neuroaffektive Regulation

Dies alles gilt es in der Therapie zu berücksichtigen.

Wie soll ein Mensch, der seine eigenen Empfindungen kaum oder nicht wahrnehmen kann, denn darüber berichten? Worte reichen hier nicht aus, um einen therapeutischen Effekt zu erzielen, um die Heilung zu initiieren.

Es braucht andere Methoden, um Sicherheit erfahrbar zu machen: Erfahrbar vor allem auch dadurch, dass eigene, bislang unzugängliche Gefühle, gespürt und ausgedrückt werden können. So kann schlussendlich der Mensch, dessen Sein durch Geist, Körper und Handlung bestimmt ist, ganz werden.

Es braucht also die direkte körperliche Erfahrung, um den Heilungsprozess anzustoßen. Und gerade, wenn es um Entwicklungstraumata, um ambivalentes und unsicheres Bindungsverhalten geht, profitiert der Klient am meisten von gruppentherapeutischen Ansätzen.

Wenn in der Allgemeinbevölkerung ungefähr die Hälfte aller Personen sichere Bindungserfahrungen aufweist, zergliedert sich die andere Hälfte in Menschen mit ambivalentem, vermeidendem oder desorganisiertem Bindungsverhalten. Diese Menschen sind anfälliger für die Entstehung von psychischen und physischen Krankheiten. Somit sind in unseren Praxen Klienten (m/w/d), die „sicher gebunden“ sind, eher die Ausnahme. Hohe Komorbiditäten bringen entwicklungstraumatisierte Personen zu uns.

Insbesondere das Psychodrama, angeleitet als Improtheater mit psychologischer Zielsetzung, ist m. E. besonders hilfreich, um desintegriertes emotionales Erleben zu reintegrieren. In einer psychodramatischen Gruppe hat jedes Gruppenmitglied gleichzeitig auch durch seine simple Präsenz eine therapeutische Funktion.

In einem neuroaffektiven Psychodrama stehen das Darstellen und Erleben von Emotionen, die bisher vermieden werden mussten, im Vordergrund: Die eigenen Narrative können dargestellt und umgeschrieben werden, die Agierenden kommen ins Handeln zurück. So kann Selbstwirksamkeit zurückgewonnen werden. Das eigene Lebensskript kann neu redigiert werden, Resilienz wird erworben.

Auch dadurch, dass (vielleicht das erste Mal überhaupt?) erlebt wird, dass Gefühle aushaltbar sind, dass sie nicht vom Mitmenschen reglementiert, zensiert und bestraft werden, dass er sie mit aushält, erfolgt eine Wiederanbindung an ein „Wir“. Das „Wir“, das uns durchs Leben trägt.

In meiner Praxis biete ich Workshops an, bei denen im Schauspiel die Interdependenz von Psyche/Geist, Körper und Handlung direkt erfahrbar wird: Unter Anleitung meines erfahrenen Kollegen, dem Coach und Schauspiel-Profi Jörg Schur, werden so das „Ich bin“, „Ich wirke“ und „Ich bewirke“ bewusst.

Der Mensch erhält die Wahlfreiheit zurück, was er sein will, wie er mit anderen in Kontakt treten will, welche Spuren er auf dieser Welt hinterlassen will.

„Ich bin“
„Ich wirke“
„Ich bewirke“

Literaturhinweise

1) https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/web/
2) Spitzer, M. (2018): Einsamkeit – die unerkannte Krankheit: schmerzhaft, ansteckend, tödlich. Droemer Verlag
3) Seligman, Martin E. P. (1975): Helplessness: On Depression, Development and Death. San Francisco: W. H. Freeman
4) Maier, Steven F.; Seligman, Martin E. P. (July 2016): „Learned helplessness at fifty: Insights from neuroscience“. Psychological Review. 123 (4): 349–367

Dr. phil. Marion Friedrich
Lehrbeauftragte der Universität Augsburg im Fachbereich Analytische Philosophie, Dozentin für die Paracelsus Schulen, Schwerpunkte humanistische Methodik und Verhaltenstherapie, Praxis in Augsburg
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Fotos: ©pikselstock