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Die Bedeutung der Liebe in Beratung und Therapie – Teil 1: Selbstliebe und Nächstenliebe

„Die Liebe ist die Mitte von allem.
Im Menschen wie im Wirken Gottes.
Und von der Mitte her breitet sie sich
aus wie eine Flamme.
Wer sich die Liebe ganz zu eigen macht,
der wird in keiner Richtung fehlgehen.
Denn die Liebe ist die Mitte von allem.
Sie ist die Seele und das Auge.
Sie rundet den Lauf der Welt und
verwirklicht das Gute.“

Hildegard von Bingen

Vor ca. zehn Jahren habe ich meine Lebensaufgabe erkannt: die unendliche Lebenswirklichkeit der Liebe neu zu entdecken, zu entwickeln und weiterzugeben.

Daraus ist schließlich das Buch „Liebevolles Dasein“ entstanden. Darin begebe ich mich in zehn Kapiteln auf die Spurensuche nach der ursprünglichen Bedeutung und Schönheit der Liebe und beschreibe wesentliche Elemente, die für ein erfülltes Leben förderlich sind. Ich wähle davon für diese dreiteilige Beitragsreihe drei Elementarkräfte aus, die insbesondere in Bezug auf Beratung und Therapie von Bedeutung sind:

  • Selbstliebe und Nächstenliebe
  • Vertrauen zu sich selbst und seinen Mitmenschen
  • Die befreiende Wirkung der Vergebung: Vergebung annehmen sowie sich selbst und seinen Mitmenschen vergeben.

Selbstliebe und Nächstenliebe

Bereits Meister Eckhart sagte:
„Hast du dich selber auf
die rechte Art lieb,
so hast du alle Menschen lieb,
wie dich selbst.“

Ich empfehle meinen Klienten immer wieder, einen Liebesbrief an sich selbst zu schreiben. Gerade am Anfang des gemeinsamen Heilungs- bzw. Lösungswegs dient dies einer wichtigen Bestandsaufnahme und Bewusstwerdung. Viele Menschen tun sich damit schwer. Jedenfalls dient es uns allen, die Liebe zu sich selbst zum Ausdruck zu bringen. Ich gebe dazu folgende Tipps:

– Zu Beginn die Augen schließen und die Verbindung zum inneren Zentrum voller Liebe und Weisheit herstellen. Das ermöglicht eine gute Verbindung des Verstandes mit dem Herzen, die sehr förderlich ist.

– Danach kann all das geschrieben werden, was einem spontan einfällt. Ergänzend kann es dienlich sein, das zu beschreiben, was an körperlichen, emotionalen, mentalen, kreativen, intuitiven und geistigen Eigenschaften und Fähigkeiten geschätzt wird.

– Anstatt eines Briefs können auch andere kreative Ausdrucksweisen dienlich sein – ein Gedicht, ein Bild usw.

– Bei allem darauf achten, sich nicht von dem leiten zu lassen, was von außen, z. B. von der Werbung, als „ideal“ dargestellt wird, sondern auf das vertrauen, was in einem selbst ist.

Die Bedeutung der Liebe zu sich selbst wurde in den letzten Jahren wieder neu entdeckt und es wurde bereits viel dazu geschrieben. Eine Initiative, die genau in diese Richtung geht, hat der Neurobiologe Dr. Gerald Hüther Anfang 2021 ins Leben gerufen. Sie heißt „liebevoll.jetzt“ und lädt zum liebevolleren Umgang mit sich selbst ein. Ich kann aus eigener Erfahrung bezeugen, wie genial es ist, sein Leben an diesem Prinzip auszurichten: liebevoll zu mir selbst zu sein. Daraus ergibt sich ein Leben in Fülle, d. h. mit Gesundheit, Güte und Erfolg.

Fremdbestimmung – Folgen – Lösung

Das Gegenteil ist der Fall, wenn wir uns zu sehr nach dem richten, was andere meinen, was wir tun müssen, bzw. was andere meinen, wie wir sein müssen. Dies wird begünstigt und verstärkt, wenn z. B. folgende Einstellungen im Menschen gebildet wurden:
„Ich kann niemandem vertrauen (auch mir selbst nicht).“
„Ich kann zu wenig.“
„Ich bin schlecht.“
Bei vielen Menschen nehme ich genau das als Grundproblem wahr. Die Folgen davon sind weitreichend: Unzufriedenheit, Stress, Krankheiten usw.

Natürlich gibt es noch andere Möglichkeiten, diese Symptome zu beschreiben und zu erklären. Ich möchte mich jedoch auf Lösungswege konzentrieren. Viele Menschen suchen die Lösung im Außen, z. B. in Bü- chern oder in anderen Menschen. Dies kann gelegentlich auch nützlich sein, bringt jedoch meist nur eine vorübergehende Besserung. Eine gründliche Lösung können wir in uns selbst finden. Darin zeigt sich die tiefgreifende Liebe und Wertschätzung zu uns selbst: im Bewusstsein zu leben, dass wir das Potenzial in uns tragen, um Probleme lösen zu können.

Es gibt viele Probleme oder – anders ausgedrückt – Aufgaben, die wir selbst lösen können. In diesen Fällen hilft es oft schon, in einer entspannten und ruhigen Atmosphäre die Augen zu schließen und in sich das zu erkennen, was gut und wichtig ist. Die Menschen, die ich im Rahmen der Potenzialentfaltung begleite, sind immer wieder selbst überrascht, was sie dabei an Hilfreichem, Gutem und Schönem entdecken. Bereits nach etwas Übung ist es möglich, dies bequem zu Hause durchzuführen.

Bei der Lösung von tiefergehenden Problemen ist eine umfassende Therapie notwendig, insbesondere wenn die Würde eines Menschen missachtet bzw. verletzt worden ist. Bei meinen Klienten sehe ich die beste Entwicklung und die größte Verbesserung durch Visualisierungsübungen, in denen ich sie dahingehend begleite, in sich selbst ihr Potenzial und die Lösung ihrer Probleme zu entdecken. Dabei zeigt sich das, was für die jeweilige Person gut und wichtig ist.

Es können positive Erlebnisse sein, die wirklich geschehen sind oder die potenziell möglich sind, es können aussagekräftige Symbole oder wegweisende Worte sein. Insbesondere wenn ein Mensch von innen her selbst entdeckt, unendlich geliebt zu sein und lieben zu können, hat dies eine große befreiende und erlösende Wirkung. Das sind oft sehr bewegende Momente, in denen nicht selten Tränen der Erleichterung und Freude fließen. Das grundlegende Prinzip beschreibt ein Zitat, das ich in Brasilien gefunden habe:

„Wenn ein Ei durch eine Kraft von
außen zerbricht, endet das Leben.
Wenn ein Ei durch eine innere Kraft
zerbricht, beginnt das Leben.
Die großen Veränderungen im Leben
beginnen von innen nach außen.“

Liebevoll mit sich selbst sein

Zudem möchte ich eine Haltung bzw. ein Phänomen unterstreichen, weil es für alle Menschen dienlich ist: Es ist der liebevolle Umgang mit sich selbst. Dies hört sich vielleicht einfach an, doch die Umsetzung braucht immer wieder Entschiedenheit, Mut und Übung. Viele Menschen sind es nicht gewohnt, bei sich selbst zu sein, und kennen somit auch nicht ihre lebendigen inneren Bedürfnisse.

Der Komiker, Volkssänger und Volksweise Karl Valentin sagt dazu treffend:

„Heute mache ich mir eine Freude
und besuche mich selbst ...
hoffentlich bin ich daheim.“

Manchmal habe ich den Eindruck, dass es heutzutage für den Menschen einfacher ist, zum Mond (dazu braucht es drei Tage) oder zum Mars (dazu braucht es sieben Monate) zu gelangen, als zu sich selbst.

Doch es gibt eine gute Nachricht: Wir können lernen und darin wachsen, zu uns selbst zu finden und liebevoll mit uns selbst umzugehen. Dabei hilft diese Frage: „Was dient dazu, liebevoller mit mir selbst umzugehen?“

Ich empfehle, sich diese Frage immer wieder, gerne auch mehrmals täglich zu stellen. Daraus ergeben sich kleine und große Entscheidungen, die für unser Leben absolut förderlich sind. Seitdem ich dies praktiziere, ist mein Leben liebevoller, schöner und erfolgreicher. Ich verbringe mehr Zeit mit mir selbst, mit meiner Frau und mit unserem Kind. Ich achte mehr auf gesunde Lebensmittel, auf mehr Bewegung und bin mehr in der Natur. Von all dem profitieren meine Klienten, all meine Mitmenschen und meine gesamte Umwelt.

Ich darf jedoch auch eingestehen, dass immer wieder falsche innere Einstellungen auftauchen oder ich mich zu sehr von außen bestimmen lasse. Dann darf ich barmherzig mit mir selbst sein, mich daran freuen, dass mir dies bewusst geworden ist, und mich wieder neu an diesem Prinzip ausrichten: liebevoll zu mir selbst sein.

Mit Egoismus hat das Ganze im Übrigen nichts zu tun. Im Gegenteil: Je mehr wir liebevoll mit uns selbst umgehen, desto mehr werden wir unsere Mitmenschen und unsere gesamte Umwelt liebevoll behandeln.

Es gibt dazu einen wunderbaren Text von Bernhard von Clairvaux. Einem guten Freund schrieb er:

„Wenn du vernünftig bist,
erweise dich als Schale
und nicht als Kanal,
der fast gleichzeitig empfängt
und weitergibt,
während jene wartet,
bis sie gefüllt ist.
Auf diese Weise gibt sie das,
was bei ihr überfließt,
ohne eigenen Schaden weiter.“

Erst aus der eigenen Fülle entstehe die wahre Freigiebigkeit einer „gütigen und klugen Liebe“, während mit dem Ausströmen auf Kosten der eigenen Substanz nicht geholfen sei. „Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut?“, fragt er.

Meiner Meinung nach liegt in der Haltung des liebevollen Umgangs mit sich selbst ein enormes Potenzial. Ich bin zuversichtlich, dass dieses Prinzip einen erheblichen Beitrag dazu leisten wird, nicht nur persönliche Probleme zu lösen, sondern auch die vielen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit.

In den nächsten Ausgaben wird jeweils ein Artikel zu zwei weiteren wesentlichen Grundlagen bzw. Ausdrucksformen der Liebe erscheinen: Vertrauen und Vergebung.

Michael Leberle
Heilpraktiker für Psychotherapie, Coach und Kursleiter

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Foto: ©Photoguns