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Unser Anliegen ist es, die Öffentlichkeit auf besondere Weise für das Thema Depressionen zu sensibilisieren

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Dr. Sandra Maxeiner im Interview mit Dr. Michael Gestmann

2015 03 Depressionen2Frau Dr. Maxeiner, in Kürze erscheint Ihr neues Buch: Dr. Psych’s Ratgeber Depressionen. „Damit ihr wisst, wie ich mich fühle“. Was unterscheidet es von der Flut der Ratgeber zum Thema Depression?

Dieses Buch ist sehr persönlich und zugleich ausgesprochen emotional. Es soll Menschen zum Mitfühlen, Mitdenken und Mitmachen im Kampf gegen Depressionen einladen. Denn nur, wenn man sich wirklich in die Gefühlswelt Betroffener und deren Angehöriger hineinversetzt, echtes Mitgefühl entwickelt und ein gewisses Grundverständnis für ihre Situation aufbringt, kann man sie auch wirksam unterstützen.

Besteht in dieser Hinsicht denn Handlungsbedarf?

Ja, denn die wenigsten haben wirklich eine Ahnung davon, wie sich depressive Menschen tatsächlich fühlen, was in ihnen vorgeht, was sie bewegt, wie sehr sie jeden Tag mit sich selbst kämpfen und welchen Vorurteilen sie tagtäglich begegnen. Deshalb haben wir für unser neues Buch bewusst eine andere Perspektive gewählt, um erstmals die Gefühlswelt, den Alltag, die Hoffnungen und die Wünsche depressiver Menschen und ihrer Angehörigen erlebbar, erfahrbar und damit nachvollziehbar zu machen.

Woher haben Sie die Grundlagen und Informationen für Ihr Buch?

Grundlage waren meine Gespräche, die ich mit betroffenen Menschen geführt habe. Sie haben offen und ehrlich mit mir über ihr Leben mit dieser Krankheit gesprochen. Besonders beeindruckt hat mich dabei immer wieder, welch unglaubliche Sensibilität, welch hohes Einfühlungsvermögen und wie viel Empathie sie trotz ihrer eigenen inneren Leere für ihre Mitmenschen aufbringen. Auch ihre Angehörigen haben mir erzählt, wie sie versuchen, damit klarzukommen, dass ein Partner, Kind oder Verwandter depressiv ist, und was ihnen selbst hilft, mit dieser Belastung umzugehen. Diese sehr persönlichen Auskünfte zeigen offen und schonungslos, wie viel Handlungsbedarf es im Umgang mit dieser weit verbreiteten Krankheit noch immer gibt.

Worunter leiden depressive Menschen besonders?

Die wohl erdrückendste Erfahrung, die depressive Menschen machen, ist die der Gefühlskälte, die sich auf ihre Seele legt. Maya erzählte uns: „Ich wusste, dass diese Personen in meiner Wohnung mein Mann und meine Kinder waren, doch ich konnte nichts fühlen.“ Heidi berichtete, dass alle ihre Gefühle verschwunden waren: „Mich interessierte überhaupt nichts mehr. Ich war nicht mehr ich. Es war, als hätte ich mich in Luft aufgelöst. Nur mein Körper war noch da, wie eine leere Hülle.“

Dana hatte Angst, verrückt zu werden. Sie erzählte, dass sie nach der Diagnose „schwere depressive Episode“ deshalb nachts die Notaufnahme einer psychiatrischen Ambulanz aufgesucht hat: „Es war ein Gefühl, das ich nicht beschreiben kann.“

Für Kerstin war es besonders schlimm, dass sie sich nicht mehr konzentrieren konnte. „Letztes Jahr“, so erzählte sie, „konnte ich keine Bücher mehr lesen, mir keine Filme mehr ansehen oder Gesprächen über längere Zeit folgen ...“

Und dann gibt es noch ein besonders dunkles Kapitel im Leben depressiver Menschen, nämlich die immer wiederkehrenden Selbstmordgedanken, unter denen viele von ihnen leiden – so sehr, dass sich Katja beispielsweise nichts sehnlicher wünscht, als „dass die Selbstmordgedanken endlich aufhören und dass ich sie in den Griff bekomme.“

Was trägt dazu bei, dass es Angehörigen leichter fällt, mit den Belastungen umzugehen, die sich aus der Erkrankung ihres Partners oder Verwandten ergeben?

Die Erfahrungen, die Angehörige da machen, sind sehr verschieden. Wichtig ist, dass sie etwas für sich selbst tun, etwas, um sich selbst zu stärken – denn der tägliche Umgang mit depressiven Menschen ist nicht nur kräftezehrend, sondern oft auch frustrierend und „ansteckend“ (Stichwort: Spiegelneurone). Der dreifachen Mutter und Heilpraktikerin Stefanie z. B. hat Lach-Yoga sehr geholfen, sich selbst zu stärken. „Beim Lach-Yoga ist es so, dass wir lernen, ohne Grund zu lachen“, erklärte sie mir. „Denn auch im Alltag gibt es ja nicht viele Gründe zu lachen.“ Doch da ist noch viel mehr, das ihr hilft, mit der Depression ihrer Tochter umzugehen: „Das sind vor allem die Ressourcen, die ich habe. Ich hab’ schon viel mitgemacht und trotzdem gesehen, dass immer alles gut wird.“

Welchen Rat geben Angehörige?

Tanja beispielsweise, die seit langem mit der Depression ihres heute 25-jährigen Sohnes Tim lebt, rät Angehörigen: „Wichtig ist, sich die Unterstützung zu suchen, die passt, auch wenn es ein langer Weg ist, bis man das Richtige findet. Haben Sie Geduld, denn eine Depression ist kein Schnupfen, der in einer Woche wieder weg ist.“

Stefanie empfiehlt: „Einfach da sein, ohne Sprüche zu machen wie ‘Ja, jetzt müsste es doch mal langsam gut sein’ oder ‘Ich weiß nicht, was du hast, dir geht’s doch gut.’ Zu akzeptieren, dass Depression nicht erklärbar ist.”

Sie brechen in Ihrem Buch aber auch mit einem Tabu. Mit welchem?

Wir lassen junge Frauen zu Wort kommen, die offen, ehrlich und ungeschminkt über ihre Suizidversuche und all das, was sie dazu bewogen hat, berichten. Wir räumen diesem Thema einen hohen Stellenwert in unserem Buch ein, nicht nur weil etwa die Hälfte der depressiv Erkrankten über einen Selbstmord nachdenkt bzw. einen Suizidversuch unternimmt, sondern vor allem auch, weil eine erfolgreiche Suizidprävention nur dann funktionieren kann, wenn alle Betroffenen – und dazu gehören auch die Angehörigen und Freunde – aus ihrer Sprachlosigkeit befreit werden und sich trauen, offen über ihre Ängste und Nöte zu sprechen.

Zu diesem Thema beziehen Sie die Angehörigen-Perspektive mit ein. Warum?

Ein Suizid-(Versuch) ist für Angehörige immer eine Extremsituation, erst recht wenn sie auf diese Weise einen geliebten Menschen verlieren. Häufig plagen sie sich ihr Leben lang mit Schuldgefühlen oder kreisen immer wieder um die eine Frage nach dem Warum, auf die sie doch nie eine Antwort finden. Unser Buch zeigt, wie sich ihr Leben nach dem Suizid-(Versuch) eines nahestehenden Menschen verändert hat und wie sie es geschafft haben, diese außergewöhnliche Lebensphase zu bewältigen. Die Erfahrungen, die sie dabei gemacht haben, sind für jeden, der sich in einer vergleichbaren Situation befindet, sehr wertvoll.

Ein weiteres Kapitel befasst sich mit Männerdepressionen. Inwiefern gibt es Unterschiede zu Frauen, die depressiv erkrankt sind?

Uns hat interessiert, ob Männer tatsächlich anders mit ihrer Depression umgehen und unter welchen spezifischen Problemen sie leiden. Deshalb habe ich auch mit Männern einer Selbsthilfegruppe gesprochen, um die Unterschiede zu Frauendepressionen herauszuarbeiten.

Die da wären?

Depressive Männer sind in einer besonders schwierigen Situation. Denn das tradierte männliche Rollenbild macht es ihnen schwer, sich offen mit ihrer Erkrankung auseinanderzusetzen, steht für sie doch die Sorge um ihre Beziehung, um ihren Arbeitsplatz und um die Reaktionen ihrer Kollegen und Freunde wesentlich häufiger im Mittelpunkt als bei Frauen. Ein „Outing“ als depressiver Mann ist durch die gesellschaftlichen Erwartungen für sie doppelt schwer, denn eine Depression wird – wenn überhaupt – bei einer Frau eher akzeptiert als bei einem Mann. So entscheiden sich betroffene Männer oft dazu, ihre Depression zu verstecken, ihre Symptome zu verleugnen und weiter den „starken Mann“ zu spielen, um nicht ihre Existenz und ihre Partnerschaft aufs Spiel zu setzen.

Inwieweit gehen Sie auf Ursachen, Merkmale, Verlaufsformen und Behandlungsmöglichkeiten von Depressionen ein?

Wir vermitteln natürlich alle relevanten Fakten zu diesem Krankheitsbild, so auch die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Genese und Therapie. Seit einiger Zeit ist beispielsweise belegt, dass Burnout eine Vorstufe einer (Stress-)Depression sein kann. Wir greifen das auf und zeigen, was der Einzelne tun kann, um ein Burnout zu vermeiden.

Der Ratgeberbezug ist demnach gewährleistet?

Auf jeden Fall, denn wir geben zahlreiche Tipps zur Selbsthilfe – auch von Betroffenen für Betroffene sowie Anregungen zum Umgang mit depressiven Menschen und zur Suizidprävention.

Warum haben Sie Bilder und Gedichte von depressiven Menschen in Ihren Dr.-Psych-Ratgeber aufgenommen?

Wenn Sie eines dieser Bilder betrachten, werden Sie sofort spüren, warum wir sie in den Ratgeber aufgenommen haben. Sie spiegeln nicht nur die Gefühlslage dieser Menschen sehr viel stärker, intensiver und unverfälschter wider, als wir sie je in Worte fassen könnten, sondern verhelfen auch den Betroffenen zu mehr Klarheit. Katja z. B. zeichnete ihren Vater, den sie als zehnjähriges Mädchen auf einem Dachboden vor dem Suizid gerettet hat, an einem Galgen. Was dabei in ihr vorgegangen ist und warum sie ihren Vater so dargestellt hat, darüber habe ich mit ihr gesprochen. Einen ähnlichen, sehr emotionalen Zugang zur Erlebniswelt Betroffener geben auch die Gedichte. Persönlicher kann es also kaum werden.

Sie haben sogar Roland Kaiser motivieren können, ein Vorwort zu diesem Buch zu schreiben. Wie kam es dazu?

Ich hatte Roland Kaiser im Rahmen unserer Initiative „Was wirklich zählt im Leben“ interviewt und habe ihn dabei als einen Menschen kennengelernt, der mich ungeheuer beeindruckt hat. Wie sehr er sich für soziale Themen interessiert, sich für benachteiligte und hilfsbedürftige Menschen einsetzt und wie beherzt er für mehr Mitmenschlichkeit und Toleranz eintritt, ist wirklich beispielhaft. Deshalb freut es mich ganz besonders, dass er sich spontan bereit erklärt hat, ein Vorwort für unser neues Buch zu schreiben. Ich bin Roland Kaiser sehr dankbar dafür, dass er mit mir so offen und vorurteilsfrei über Depressionen gesprochen hat, und würde mir wünschen, dass er damit möglichst viele Menschen zum Nachdenken anregt. Mein größter Wunsch wäre, dass wir mit unserem Ratgeber dazu beitragen, dass Menschen ihre eigenen Vorurteile kritisch hinterfragen und depressiv Erkrankten künftig genauso natürlich und empathisch begegnen, wie es Roland Kaiser getan hat.

Sandra Maxeiner/Hedda Rühle: Dr. Psych’s Ratgeber Depressionen. Damit ihr wisst, wie ich mich fühle! Mit einem Vorwort von Roland Kaiser. Jerry Media Verlag, 2015, 440 Seiten, 24,95 €, I SBN 978-3-95236-727-8

Von Sandra Maxeiner und Hedda Rühle sind bereits die Nachschlagewerke Dr. Psych’s Psychopathologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie Band 1 und Band 2 im Jerry Media-Verlag erschienen.

Dr. Sandra Maxeiner Dr. Sandra Maxeiner
promovierte Politik- und Sozialwissenschaftlerin,
Heilpraktikerin für Psychotherapie


Hedda Rühle Hedda Rühle

Dipl.-Psychologin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, eigene Praxis in Berlin, Dozentin an den Paracelsus Schulen
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Dr. Michael Gestmann Dr. Michael Gestmann
Dipl.-Psychologe

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