Kommt Ihnen das bekannt vor?
Wie die Betrachtung alt- und neumeisterlicher Gemälde bei Problemlösungen helfen kann
In einem Museum oder einer Galerie werden dem Besucher meist Kunstwerke im Rahmen einer bestimmten Ausstellungskonzeption im Einklang mit Architektur, Raumfarbe, Licht und Vermittlungsmedien präsentiert. Jeder Besucher gestaltet dennoch seinen Aufenthalt individuell, beginnt der Besucherleitung folgend oder intuitiv, betrachtet die Werke mit einem Audioguide, personengeführt oder ohne weitere Informationsaufnahme von außen.
Ich habe ein neues Verfahren entwickelt und seit mehr als einem Jahr mit über 50 Personen getestet, das Kunstwerke im Dienst der psychologischen Beratung und Lebensberatung in einen neuen Kontext stellt und auch für Heilpraktiker, Psychologen und Psychotherapeuten, vor allem für solche mit kunsthistorischer, künstlerischer oder kunsttherapeutischer Vorbildung, interessant ist. Es wurde nach Methoden der kunsthistorischen Bildanalyse weiterentwickelt und nennt sich „Emotionale Bildanalyse im Dialog“ (nach Ines Täuber).
Während in einer Kunstinstitution Gemälde seitens der Besucher selten nach Belieben abgehängt, zusammengestellt, berührt und in diesem Zusammenhang neu betrachtet werden können, ist das mit Abbildungen in Postkartengröße durchaus möglich. Dabei geht es darum, die Wahrnehmung eines Problems beim Klienten für ihn selbst und für den Berater besser erfahrbar werden zu lassen und damit letztlich eine Basis für die Problemlösung zu erhalten. Besonders Menschen, denen es schwerfällt, ein Problem genauer mit Worten zu beschreiben, oder die davor zurückschrecken, selbst künstlerisch tätig zu werden, ist die Methode eine willkommene ergänzende Hilfestellung.
Anmerkung: Der Ausdruck „Klient“ soll im Sinne des Textflusses hier stellvertretend für die weibliche und männliche Form stehen.
Die „Emotionale Bildanalyse im Dialog“ lässt sich grob in vier Phasen einteilen
In der ersten Phase äußert der Ratsuchende sein Problem in Worten, soweit es ihm möglich ist – z. B. zu Themen wie Partnerschaft, Beruf, Familie etc. Er wird gebeten, sich in die Konfl iktsituation hineinzuversetzen und in sich hinein zu fühlen (als würde er einer bestimmten Person gegenüberstehen). Dann werden ihm ca. 70 Kunstpostkarten mit alt- und neumeisterlichen Gemälden (Genreszenen, Landschaften, abstrakte Malerei etc.) aus dem 15. bis Anfang des 20. Jahrhunderts so zur Verfügung gestellt, dass er alle Karten auf einen Blick betrachten kann.
Diese Kunstwerke zeigen Motive mit atmosphärischer, emotionaler Aufladung eines Geschehens. Sie befinden sich in durchsichtigen Taschen, die auf großen Pappen neben und untereinander angebracht sind, und können jederzeit herausgenommen werden können.
Der Klient sucht sich intuitiv bis zu zehn Karten aus, die ihn zu dem Problem, bezogen auf Vergangenheit, Gegenwart und wünschenswerte Zukunft, ansprechen. Hierbei ist die spontane, intuitive Entscheidung des Klienten sehr wichtig. Eine eventuelle Angst, sich zu entscheiden oder nicht die richtigen Karten zu wählen, könnte an dieser Stelle für den Berater oder Heilpraktiker schon ein wichtiger Hinweis z. B. auf perfektionistische Tendenzen sein. Man kann den Klienten an dieser Stelle ermuntern, sich auf sein Gefühl zu verlassen. Eine Entscheidung sollte jedoch auf keinen Fall erzwungen werden.
In der zweiten Phase werden die Karten auf einen Tisch gelegt. Die anschließende Betrachtung der Kunstwerke erfolgt zwar mit Führung des Beraters, die Einfühlung, Interpretation und vor allem die Bezugnahme auf das Problem geschieht jedoch allein durch den Klienten. Die Kunstpostkarten werden zunächst nach Wichtigkeit, nach Vergangenheit, Gegenwart und positiver Zukunftsvision aus der Entscheidung des Klienten heraus geordnet. So kann der Beratende einen ersten Eindruck bei der Zusammensetzung der Bilder gewinnen.
Nun übernimmt der Berater erst einmal die kurze formale und inhaltliche Beschreibung des für den Klienten wichtigsten Bildes, wie Bildaufbau, Darstellung, Farben, Technik (z. B. Öl auf Leinwand), Pinselduktus oder Epochenzugehörigkeit nach individueller Bildauffassung des Malers, wobei er immer Ergänzungen durch den Klienten anregt. An dieser Stelle können Details benannt werden, die zunächst vielleicht übersehen wurden aber dennoch von Wichtigkeit sein könnten. Schon diese Phase geht mit der emotionalen Analyse langsam in die dritte, die „Brückenphase“ über.
Hier bietet der Berater ein „Sprungbrett“, das der Klient nehmen kann oder auch nicht. Beispielsweise könnte auf dem Bild eine Waldpartie mit figürlichem Geschehen im Vordergrund abgebildet sein. Die Frage, wie sich der Wald für den Klienten „anfühlt“, könnte von ihm damit beantwortet werden, dass er sich geborgen und geschützt fühlt oder es ihm eher unheimlich ist und er mit dem Gedanken spielt, die Orientierung könnte ihm dort schwerfallen. Von besonderer Wichtigkeit ist, dass sich der Berater an diesem Punkt jeglicher Bewertung und Bedeutungseinordnung enthält, um diesen Prozess nicht durch seine Wahrnehmung zu überlagern.
Die Testphase hat gezeigt, dass ein und dasselbe Bild je nach Klient andere und sogar völlig entgegengesetzte Bedeutungsebenen enthalten kann. Zuletzt, in der vierten Phase, kann die Frage gestellt werden, ob dieses Gefühl in irgendeinem Zusammenhang mit dem Problem des Klienten steht (natürlich immer mit der ausdrücklichen Option, hier auch mit „nein“ zu antworten).
Nun wird dem Klienten die Interpretation überlassen. Hierbei stellten sich in der Testphase erstaunliche Ergebnisse heraus, die die intuitive Fähigkeit eines Menschen klar vor Augen führten, sich von einem Bild buchstäblich magnetisch angezogen zu fühlen, das in Teilen oder ganz als Spiegel eines Problems dienen kann. Die Umsetzung in die aktuelle Problematik erfolgt durch den Klienten meist mühelos selbst. So kann sich herausstellen, dass er oder sie erst jetzt mit Worten viel besser formulieren kann, warum ihm oder ihr eine Situation unbehaglich ist, und das eigentliche Problem dadurch besser fokussiert.
Das Verfahren regt darüber hinaus an, eine Problematik mit weiteren Worten oder gar einem Bildvergleich besser zu beschreiben. Hat ein Ratsuchender z. B. vorher nur sagen können, dass er öfters in Streit gerate, obwohl er sein Bestes tue und nun nicht weiter wisse, so könnte er nun äußern, dass er sich durch einen bestimmten Arbeitskollegen in die Enge gedrängt fühlt, zwei Partner in verschiedene Richtungen driften oder – in Bezug auf zukünftige Visionen – dass er sich wieder mehr Urlaub gönnen und an die See fahren sollte, die ihm gute und schnelle Erholung bietet.
Die letzten drei Phasen können mit allen gewählten Abbildungen durchlaufen werden, oft ergibt sich im Gespräch, welche Karte die nächstliegende sein könnte, und gleichzeitig geben diese Karten dem Gespräch neue Impulse. Je genauer ein Problem beschrieben wird, desto besser lassen sich danach Lösungen mit den Klienten ausarbeiten.
Natürlich bilden diese Kunstwerke ein Problem nicht gänzlich eins zu eins ab, denn auch sie stammen aus einem künstlerischen Prozess anderer Menschen, die eine eigene Wahrnehmung, Intention und Kunstauffassung besaßen. Daher ist die selektive Analyse mit Anleitung und Begleitung des Beraters wichtig. Es werden auch keine Kunstwerke verwendet, die schockierende Abbildungen zeigen, die den Betrachter verwirren oder ängstigen könnten, somit bleiben ästhetische und emotionale Grenzen gewahrt.
Es ist zu empfehlen, dieses Verfahren für ein und dasselbe Problem nur einmal anzuwenden, da es allein der näheren Beschreibung eines Problems dient und eine nochmalige Nutzung in der Regel zu derselben oder fast derselben Auswahl an Bildern mit geringer Abweichung und damit keinem besseren Ergebnis führt.
Jedoch hat die „Emotionale Bildanalyse im Dialog“ auch mehrere Vorteile. Sie bietet zunächst einmal neben der sprachlichen Ebene auch eine bildliche für Berater und Klient an, die verbal nicht gänzlich ausdrückbar und beschreibbar ist. Dabei ist sie auch für den Berater eine gute Möglichkeit, sich behutsam in die Wahrnehmung seines Klienten hineinzuversetzen, ohne seine eigene Wahrnehmung und seinen Standpunkt ganz zu verlieren. Ihm wird nicht nur verbal ein Bild durch seinen Klienten beschrieben, er kann es gleichzeitig ebenfalls sehen. Die Kunstpostkarten können nicht nur Gemälde, sondern auch Fotografien oder Skulpturen darstellen und sind sofort verfügbar.
Der Klient selbst kann die Bilder mit einer niedrigeren Hemmschwelle für sich bewerten und interpretieren, da sie nicht von ihm selbst stammen oder gar kürzlich erst von ihm angefertigt wurden, sondern nur seine Auswahl darstellen. In manchen Fällen möchten die Klienten für sich selbst nach einer Sitzung eine Kopie einer bestimmten Postkarte mitnehmen, um sie für sich an einem geeigneten Ort zu positionieren, da sie dankbar sind, eine bildhafte Idee ihres Problems oder einer zukünftigen Lösung gefunden zu haben. Letztlich geht ein Klient oft mit dem Gefühl nach Hause, einem ihm nebulösen Problem nicht mehr hilflos ausgeliefert zu sein, sondern buchstäblich wieder die Karten in der Hand zu halten, auch wenn natürlich nicht alle Probleme auf einen Schlag gelöst werden können. Er hat jedoch erfahren, dass er selbst einen erheblichen Teil zur Lösung des Problems beitragen kann und wird ermutigt, dies auch zukünftig zu tun.
Dieses Verfahren wurde von den Klienten gänzlich positiv bewertet. Bisher musste der Analyseprozess nie von vornherein aufgegeben oder unterbrochen werden. Oftmals kamen auch Anfragen mit der Bitte um Anwendung des Verfahrens aus bloßer Neugierde, um eine Fragestellung aus einem neuen ungewohnten und andersartigen Blickwinkel zu betrachten, da sich aus verschiedenen Bildbetrachtungen eine genauere Sichtweise ergibt.
Dieses Verfahren ist vor allem für den Bereich der Beratung psychopathologisch unauffälliger Klienten geeignet. Für Ärzte mit Approbation muss je nach Diagnose eigenverantwortlich entschieden werden, ob dieses Verfahren anwendbar ist.
Für die Zukunft ist denkbar, dass diese Analyse nicht nur im psychologischen Bereich eine wichtige Hilfestellung geben kann, sondern z. B. auch für Heilpraktiker und Ärzte interessant ist, die körperliche Symptome behandeln.
Wenn ein Schmerz für einen Patienten schwer beschreibbar, lokalisierbar oder visuell abbildbar ist, könnte die Auswahl aus künstlerischen Werken durchaus weiterhelfen.
Ines Täuber
Kunsthistorikerin, Historikerin, Romanistin, Kulturmanagerin, psychologische Beraterin in Ausbildung