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Zur Sache, Schätzchen!

App FP 0321 komplett Page25 Image1In meiner therapeutischen Arbeit erlebe ich immer wieder Paare, die aus den unterschiedlichsten Gründen den Koitus, zumindest für einen kurzen, manchmal für einen längeren Zeitraum oder auch grundsätzlich, vermeiden müssen oder wollen. Sie suchen eine sexuell befriedigende Alternative, ohne sich deshalb sexuell unvollkommen, minderwertig, unerwachsen, unnormal oder als Versager zu fühlen.

91846122 Petting HndeDer Koitus als Königsdisziplin, als Krone der partnerschaftlichen Sexualität, hat einen hohen Stellenwert. Ab wann ist ein Paar ein richtiges Paar? Wenn die Zur-Sache-Schätzchen-Klischees erfüllt werden? Koitus-Trophäen-Sammler, Penetrationen im Akkord und Dauererektionen kommen in einschlägigen Filmen vor und suggerieren Normalität. Aber was hat das mit den Realitäten im Beziehungsalltag zu tun?

Petting für Einsteiger

Bei der Gelegenheit fallen mir Sina und Marcel ein. Sie kennen sich seit der Grundschule und sind auch jetzt noch, zwei Jahre vor dem Abitur, in derselben Klasse. Sie „gehen miteinander“ wie man so sagt, sie sind verliebt und werden auch von anderen als Paar wahrgenommen. Selbstverständlich gehen alle im Freundeskreis davon aus, dass beide gemeinsam sexuell aktiv sind, im Sinne von Geschlechtsverkehr. Das ist aber nicht so – Sina ist Jungfrau und Marcel hat ausschließlich Erfahrung mit Selbstbefriedigung. Bislang hören beide einfach nur schweigend und staunend zu, wenn gleichaltrige Freunde über sensationelle sexuelle Koitus-Erfahrungen berichten. Aber was davon ist Wahrheit und was ist Dichtung? Mittlerweile fragen sich die beiden, ob es normal ist, auch ohne Geschlechtsverkehr trotzdem glücklich verliebt zu sein.

144863849 Petting PaarTausend Mal berührt – nie ist was passiert

Beide überlegen, ob es vielleicht nun tatsächlich Zeit für das erste Mal ist. Das erste Mal hat so was Mystisches und ist von nachhaltiger, bleibender Erinnerung. Immerhin hat ein hoher Prozentsatz der Jugendlichen im Alter von 14 bis 16 den ersten koitalen Sex. Meist orientieren sie sich dabei an dem, was medial als normal gilt, und ganz oft sind sie danach aber auch enttäuscht. Häufig passiert alles ganz unromantisch und viel zu schnell. Oder es klappt aus verschiedensten Gründen gar nicht: Aufregung vor dem Neuen und Unbekannten, hohe Erwartungen an sich selbst und den anderen, Leistungsdruck, unvollständige Erektion, vorzeitiger Samenerguss, Schmerzen bei der Penetration, Unsicherheiten in Bezug auf Verhütung und Krankheiten.

An dieser Stelle möchte ich eine Lanze für das Petting brechen.

Sind Sie auch der Meinung, dass Petting lediglich eine präkoitale Technik oder eine Vorform der reifen Sexualität, eine rein pubertäre Vorstufe der Sexualität ist?

Petting fristet vielfach ein Mauerblümchendasein im Schatten des Koitus. Petting ist Amateurliga, nichts Halbes und nichts Ganzes, eine etwas abgewandelte Form der frühkindlichen Doktorspiele, bestenfalls eine Vorspeise zu einem erotischen Hauptmenü.

Diese Schublade wird dem Petting nicht gerecht, wie ich finde. Also raus mit dem Petting aus der Vorspiel-Ecke, rein ins Zentrum der sexuellen Lust, inklusive Orgasmus durch intensives Petting.

Petting kann in allen Lebensphasen und in jedem Lebensalter das Ziel und nicht nur der Weg zum Ziel sein. Freiwilligkeit vorausgesetzt, ist beim Petting alles erlaubt, was den Partnern guttut und Spaß macht, was sie erregt und befriedigt, lediglich der Geschlechtsakt, die Penetration ist tabu.

Sexualforscher beschreiben unterschiedliche Petting-Praktiken: Beim Necking beschränkt sich der Austausch von Zärtlichkeiten auf das Gesicht und die Brüste, beim Soft-Petting bleiben die Partner meist vollständig bekleidet, beim Medium-Petting sind schon ein paar Hüllen gefallen und beim HeavyPetting sind die Partner nackt und können die gesamte Palette partnerschaftlicher Sexualität genussvoll ausprobieren: körperliche Nähe, Intimität, Erregung, Spannung, Befriedigung bis hin zum Orgasmus, alles außer Penetration.

Zurück zu Sina und Marcel, die grade erst beginnen, sich mit Sexualität, Liebe und Partnerschaft zu beschäftigen. Sie sind noch nicht bereit, miteinander zu schlafen, haben aber trotzdem das Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Intimität. In dieser Lebensphase der möglicherweise vorübergehenden oder noch unklaren Beziehungsqualität kann Petting eine klare verbindliche Vorgabe für den sexuellen Handlungsrahmen geben.

Beim Petting können sie sich ganz ohne Druck aufeinander einlassen, sich schrittweise kennenlernen, in dem Tempo, das sie selbst bestimmen. Den eigenen Körper und den des anderen entdecken und erforschen, die eigenen Reaktionen und die des anderen dabei wahrzunehmen, hilft, Vertrauen und Selbstvertrauen aufzubauen. Sich mit den Händen, der Zunge, den Lippen, der Nase auf Entdeckungsreise über den Körper des anderen zu begeben, ist aufregend und eine neue Erfahrung für Sina und Marcel, die sie mit allen Sinnen genießen. Sie fühlen und erleben, welche Berührungen besonders angenehm sind, an welchen Körperstellen sie besonders empfindsam sind und welche Berührungen als unangenehm empfunden werden. Sie erfahren, ob ein bestimmter Geruch oder eine Körperflüssigkeit erregend oder absto- ßend wirken. Und sie treffen klare Vereinbarungen, was man möchte und was nicht.

Gemeinsam stecken beide den Handlungsrahmen ab, der klar definiert vor dem Geschlechtsverkehr endet, ohne dass sie auf sexuellen Genuss, sexuelle Erregung und sexuelle Befriedigung verzichten müssen. Sina weiß jetzt, dass Marcel abgeht wie eine Rakete, wenn sie seine Brustwarzen mit der Zunge stimuliert. Marcel weiß jetzt, dass es Sina total antörnt, wenn er an ihren Zehen knabbert.

Mit dem Verständnis, dass Petting für sich genommen mehr als nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur reifen Sexualität ist, wird für Sina und Marcel die Entscheidung, den Geschlechtsakt irgendwann zu integrieren, zu einer ganz bewussten Neufestsetzung des Zieles ihres Liebeslebens. Auf der Grundlage ihrer Petting-Erfahrungen können sich die beiden dann zu dieser bewussten Entscheidung viel offener und konkreter äußern, was sich mit Sicherheit sehr entlastend und entspannend auf ihr Liebesleben auswirkt.

Petting für Fortgeschrittene

Petting kennt nach oben keine Altersbegrenzung. Auch Erwachsene haben ihre Gründe, warum sie keinen Geschlechtsverkehr haben wollen oder können, sei es, dass sie z. B. aus religiösen Gründen bis zur Hochzeit warten wollen oder dass akute gesundheitliche Gründe eine Penetration langfristig oder vorübergehend unmöglich machen.

Paare, die schon lange zusammen sind, können ihr Liebesleben absolut bereichern, wenn sie einen Rahmen festlegen, in dem sie sich einfach mal ausschließlich auf Petting konzentrieren. Das macht vor allem dann Sinn, wenn Paare irgendwie festgefahren sind in frustrierenden erfolglosen Penetrationsversuchen – mal wegen fehlender vaginaler Lubrikation, mal wegen inkompletter Erektion, mal ist dem einen oder dem anderen die Koitus-Frequenz zu hoch oder zu niedrig, der Bewegungsablauf zu langsam oder zu schnell, zu heftig oder zu lasch, mal kommt der Orgasmus zu schnell oder bleibt ganz aus. Und das Ganze oftmals vor dem Hintergrund, dass der Koitus zur partnerschaftlichen Pflichtübung verflacht ist, um vermeintlichen Erwartungen des jeweils anderen zu entsprechen.

Die ausschließliche Fixierung auf den Koitus führt dann zwangsläufig dazu, dass viele Paare unbefriedigt und unzufrieden den partnerschaftlichen Sex komplett ad acta legen, obwohl sie sich nach Nähe, Intimität und Befriedigung sehnen. In der klassischen Sexualtherapie wird dann häufig tatsächlich erst einmal sexuelle Abstinenz empfohlen mit anschließend langsamer Steigerung der körperlichen Kontakte, angefangen mit asexuellen Streicheleinheiten.

So war es auch bei Renate und Helmut, seit 20 Jahren verheiratet, zwei erwachsene Kinder, erfolgreich im Beruf, das Einfamilienhaus ist so gut wie abbezahlt, beide sportlich, fit, laut ärztlichem Check kerngesund. Nach wie vor ist bei beiden der Wunsch nach körperlicher Nähe und Intimität miteinander vorhanden. Eigentlich gute Voraussetzungen für eine glückliche Beziehung und lustvollen befriedigenden Sex. Helmut könnte jetzt von dem Druck befreit sein, Renate seine Männlichkeit beweisen zu müssen, und für Renate spielt jetzt das Thema Verhütung und ungewollte Schwangerschaft keine Rolle mehr. Wenn sich da nicht im Laufe der Zeit die Unstimmigkeiten, Missverständnisse und Enttäuschungen bei den Koitusversuchen eingeschlichen hätten.

Das Dilemma: Für beide ist partnerschaftliche Sexualität ohne Koitus unvorstellbar und unvollständig. Reine Kopfsache haben Renate und Helmut erkannt und deshalb konnten sie auch mit der Streichelzoo-Methode nichts anfangen. Ich habe die beiden gefragt, ob sie das vom Koitus befreite Petting-Kompakt-Paket als lustvolle und vor allem auch gleichberechtigte Alternative akzeptieren können, ohne den Umweg über Abstinenz und scheibchenweise asexuelle Annäherung.

Noch am selben Tag haben sie angefangen, beim Petting den eigenen Körper und den des Partners noch mal neu zu entdecken und kennenzulernen, die körperlichen und emotionalen Reaktionen auf Berührung und Stimulation zu testen und wahrzunehmen. Sie experimentieren mit den zahlreichen Facetten der partnerschaftlichen koitusfreien Sexualität und merken sehr schnell: Worauf können und wollen wir uns einlassen und worauf nicht. Petting als Erprobungsfeld ermöglicht es ihnen, sich sowohl ihrer übereinstimmenden als auch unterschiedlichen sexuellen Wünsche und Bedürfnisse bewusst zu werden. So gelingt es ihnen zu ihrem eigenen Erstaunen, passgenaue, komplett umfassende, befriedigende Sexualität, aktuell auch ohne Penetration, zu erleben und zu genießen. Zukünftige Koitus-Lust und Koitus-Fähigkeit nicht ausgeschlossen.

Alter schützt vor Petting nicht

Petting kann bis ins hohe Alter praktiziert und genossen werden. Sexualität nimmt auch im Leben älterer Menschen einen hohen Stellenwert ein, ist ein menschliches Grundbedürfnis, auch wenn sich viele Jüngere nur schwer oder gar nicht vorstellen können, dass die eigenen Eltern oder Großeltern Sex haben. Unbestritten ist, dass sich Sexualität im Alter verändert. Vor allem dann, wenn sich gesundheitliche Beschwerden, körperliche Einschränkungen oder Behinderungen einstellen, die sich möglicherweise auch in Kombination mit der Einnahme von notwendigen Medikamenten auf die allgemeine Leistungsfähigkeit und damit auch auf die sexuelle Leistungsfähigkeit auswirken. Hinzu kommt, dass die Selbstwahrnehmung der altersbedingten körperlichen Veränderungen gleichgesetzt wird mit abnehmender Attraktivität.

So ging es Hildegard (81), die beim besten Willen nicht glauben wollte, dass sie für ihren gleichaltrigen Mann Edgar immer noch sexuell reizvoll und begehrenswert ist, trotz ihrer grauen Haare und ihrer faltigen schlaffen Haut. Deshalb wollte sie nur noch im Dunkeln mit Edgar intim sein. Seit ihrer Hochzeitsnacht vor 60 Jahren gibt es ein festes Ritual: Samstagabend ist „Beischlafzeit“, wie sie es nennen, immer mit Penetration, am liebsten in der Missionarsstellung. Anfangs regelmäßig, mittlerweile werden die Abstände zwischen zwei Beischlaf-Samstagen immer größer, und sie wählen jetzt immer öfter bequemere, altersgerechtere Stellungen, z. B. die Löffelchenstellung.

Ohne Hilfsmittel – Gleitcreme für Hildegard, Vakuum-Pumpe für Edgar – ist der Geschlechtsakt nicht mehr möglich. Aber Penetration ist für beide ein absolutes Muss. Sollte sie irgendwann auch mit Hilfsmitteln nicht mehr funktionieren, dann würden sie schweren Herzens jegliche Form von sexueller Aktivität endgültig einstellen, trotz ihres Verlangens nach Nähe und Zärtlichkeit. Dieses „irgendwann“ steht möglicherweise kurz bevor.

Bereits vor fünf Jahren wurde bei Hildegard Arthrose diagnostiziert, die im Laufe der Zeit ihre Beweglichkeit zunehmend immer stärker einschränkt und mit heftigen Schmerzen verbunden ist. In wenigen Wochen muss sich Edgar auf Anraten seines Arztes einer Prostata-Operation unterziehen. Mögliche Nebenwirkungen dieser OP: Inkontinenz und erektile Dysfunktion. Das muss aber keineswegs das Ende des ehelichen Sexuallebens bedeuten.

Davon konnte ich Hildegard und Edgar auch mit Unterstützung der behandelnden Ärzte überzeugen. Petting, der intime Austausch von Zärtlichkeiten durch Streicheln, Schmusen, Küssen, Kuscheln ist keineswegs ein drittklassiger Ersatz für verloren gegangene Koitus-Fähigkeit, sondern eine hochwertige erstklassige Alternative, um die Zufriedenheit mit dem eigenen und dem partnerschaftlichen Sexualleben stabil zu halten.

Und jetzt sind Sie dran!

Sie kennen den stark strapazierten und schon etwas abgenutzten Spruch: Der Weg ist das Ziel? Genau das kann beim Petting der Kern der Botschaft sein. Petting muss nicht die Ouvertüre auf der Sexspielbühne bleiben, sondern kann der opulente Höhepunkt der befriedigenden LiebesspielInszenierung sein.

Was halten Sie vom Petting als eine eigenständige, anspruchsvolle, exklusive Form der leidenschaftlichen, genussvollen befriedigenden Sexualität, vor allem mit dem Blick auf bestimmte Lebensphasen?

App FP 0321 komplett Page28 Image1Dagmar Cassiers:
Sex-Pass und Arbeitsheft.
Therapie- und Coaching-Tool für Menschen, die den Teufelskreis der erfolglosen partnerschaftlichen Konflikt-Lösungs-Versuche unterbrechen wollen.
Verlag tredition

Dagmar CassiersDagmar Cassiers
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Paar- und Sexualtherapeutin, Life-Coach
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Fotos: ©nito, ©Photographee.eu