Schuldgefühle können selbst dann heftig sein, wenn gar keine Schuld vorliegt – warum eigentlich?
Uwe Britten im Gespräch mit dem Psychoanalytiker Dr. Mathias Hirsch
Herr Dr. Hirsch, Schuldgefühle bleiben oft ein ganzes Leben lang psychisch sehr mächtig in uns – warum?
Wir müssen zunächst einmal erkennen, dass Schuldgefühle für unser Zusammenleben notwendig sind. Sigmund Freud hat sie sogar als die Grundlage unserer Kultur bezeichnet. Wir brauchen sie, um einen Regulationsmechanismus im Zusammenleben zu haben. Sie sind, wenn man so will, eine Gebrauchsanweisung dafür, wie wir anderen, letztlich damit aber auch uns selbst möglichst wenig schaden. Schuldgefühle haben also einen prospektiven Anteil, weil sie unser zukünftiges Verhalten mitsteuern. Wenn wir uns anderen gegenüber weniger schädigend verhalten, begegnen auch die uns wohlwollender und nehmen uns in ihrer Mitte auf.
Retrospektiv sagt uns unser Über-Ich, dass wir besser noch mal darüber nachdenken sollten, ob ein zurückliegendes Verhalten wirklich günstig war oder ob wir zukünftig in vergleichbaren Situationen nicht doch besser anders reagieren sollten. Hier reden wir von eher gesunden Schuldgefühlen.
Allerdings gibt es auch ungesunde bzw. pathologische Schuldgefühle. Diese Schuldgefühle fußen auf traumatischen Erlebnissen und negativen Beziehungserfahrungen. Hierbei haben wir im Über-Ich etwas ausgebildet, was die Ich-Funktionen stark beeinträchtigt. Ich will es mal so ausdrü- cken: Das Über-Ich ist dann wie ein Erwachsener, der es mit einem Kind nicht gut meint. Das Ergebnis ist, sich selbst gegenüber geradezu feindlich zu reagieren, woraus ein erniedrigendes Selbstbewusstsein rührt. Solche Gefühle können einen Menschen in der Tat das ganze Leben über begleiten. Therapeutisch geht es mit diesen Klientinnen und Klienten darum, eine Entlastung vom Über-Ich zu bewirken.
Und was genau macht diese pathologischen Schuldgefühle so stark?
Diese Gefühle sind ein sehr starkes Bindeglied zwischen den sogenannten Primärobjekten, also wichtigen Bezugspersonen aus der frühen Kindheit, und den Personen, die die Schuldgefühle haben. Diese Bindungen waren häufig sehr gestört, sind aber gleichwohl tief verwurzelt, das heißt, sie waren immer ambivalent. Das gilt insbesondere Personen gegenüber, denen man sich wie ein Opfer ausgeliefert gefühlt hat. Es entsteht das, was man im Extremfall ein „traumatisches Introjekt“ nennt. Oder anders ausgedrückt: Das „Täterintrojekt“ treibt weiterhin sein Unwesen. Pathologische Schuldgefühle setzen die Taten des Täters somit fort, wodurch dieser sehr mächtig wird. Noch über den Tod des Täters hinaus wirken diese Gefühle nach.
Solche misshandelten Opfer fühlen sich im Erwachsenenleben weiterhin oft als Opfer von jemandem und verhalten sich auch so. In der Therapie klagen diese Personen intensiv über ihre Schuldgefühle und ihr mangelndes Selbstwertgefühl. Dieses Sich-nichts-wert-Empfinden kann bis zur Suizidalität gehen. Im Grunde geben sie dem Täter immer noch recht. Sie selbst sind schlecht.
Diese Erkenntnisse gehen schon zurück auf Sándor Ferenczi, der die Grundlagen für die heutige Psychotraumatologie gelegt hat und der das die „Identifikation mit dem Aggressor“ nannte. Wegen des geringen Selbstwertgefühls fällt es diesen Menschen schwer, sich aus den Bindungen an den Täter zu lösen. Weil dieses Schuldgefühl im Grunde irrational ist, ist es notwendig, dass sich der Klient während der Therapie über die ursprüngliche Beziehungsqualität und -realität klar wird. Diesen Prozess müssen wir therapeutisch anleiten.
Wir müssen also differenzieren, ob jemand einem anderen einen Schaden zugefügt hat. Dann hat er reale Schuld auf sich geladen, die er anerkennen und damit ein Schuldbewusstsein entwickeln kann, sich auch um Wiedergutmachung bemühen wird. Oder ob dem Schuldgefühl gar keine tatsächliche Schuld zugrunde liegt. In diesem Fall wird sich der Betreffende mit dem Täter von damals identifizieren, der ihn ja als wertlos betrachtete, ihm obendrein die Schuld am Gewaltgeschehen gab („blaming the victim“ als häufigste Schuldabwehr). Dann liegt ein irrationales Schuldgefühl vor, das dem Täter die Schuld abnimmt, letztlich um die Beziehung zu ihm zu retten – ein Kind ist ja im Falle familiärer Traumatisierung auf den oder die Täter lebensnotwendig angewiesen.
Übrigens ist interessant zu beobachten, dass die soziale Umgebung solcher Menschen oft diese Bereitschaft, in Beziehungskonstellationen so etwas wie eine „Opferrolle“ zu übernehmen, spürt und dann auch auszunutzen versteht, um dadurch sozusagen zum verlängerten Arm des damaligen Täters zu werden.
Ich erinnere mich an eine Patientin, der in einem Arbeitsteam vom Chef stets die Rolle zugeschrieben wurde, auf etwas zu verzichten, um die Arbeit am Laufen zu halten, und die sich so anpassen konnte, dass sie stets gute Arbeit machte. Einmal kam sie ganz verstört in die Sitzung und berichtete, dass ihr der Chef, der sie doch immer lobte, den bereits bewilligten Urlaub gestrichen habe – sie müsse die Kollegin, die sie vertreten sollte, einarbeiten, dabei hatte diese Kollegin so viel Erfahrung, dass das bestimmt nicht nötig sei. Sie rätselte, ob sie vielleicht Schuld daran habe, dass sie den Urlaub nicht bekommen sollte. Um ihre Schuldgefühle zu mindern, gab ich zu bedenken, ob der wohl ziemlich narzisstische Chef sie nur so lange loben würde, wie sie für ihn, den tollen Chef, gute Arbeit mache, aber gekränkt sei, wenn sie etwas für sich beanspruche und nicht völlig für ihn da sein wolle.
Schuldgefühle lassen sich sogar bei Opfern von sexuellem Missbrauch finden.
Ja, denn ein Kind, das das Opfer einer solchen Gewalt beispielsweise durch den eigenen Vater wird, schafft es psychisch nicht, den Vater als schlecht, gewalttätig und schuldig daran zu erleben, dass er ihm etwas entsetzlich Böses antut. Sonst würde das Kind den Vater mental aufgeben müssen, als Vater „verlieren“. Aber ein Kind braucht doch den Vater dringend. Gleichzeitig weiß das Kind durchaus, dass ihm etwas Böses geschieht. Es bezieht nun das Böse lieber auf sich, um sich das Bild vom guten Vater zu erhalten. Wenn der Vater so etwas tut, muss das Böse in ihm, dem Kind selbst, liegen. Es selbst trägt also die Schuld für das, was der Vater tut. In anderen Kontexten hat man das „Stockholm-Syndrom“ genannt, wo sich nach einem Überfall die Geiseln mit den Tätern identifizierten und ihnen halfen.
Diese Mädchen und jungen Frauen werfen sich vor, ja eigentlich den Vater verführt zu haben. Das stärkt sogar noch einmal den Täter, er bleibt dadurch noch mächtiger. Diese Opfer brauchen den mächtigen Tä- ter, denn ein mächtiger Mensch kann sie in anderen Situationen ja schützen, wenn sie selbst wieder einmal schwach sind; sie halten sich ja selbst für wertlos. Das ist die Tücke bei derartigen frühen Beziehungskonstellationen, dass die eigenen Schuldgefühle so stark bleiben. Bei der Partnerwahl später im Erwachsenenalter werden häufig im Wiederholungszwang genau solche Konstellationen wieder gesucht.
Bleiben wir bei den Beziehungen unter Erwachsenen: Indem man anderen Schuldgefühle macht, kann man ganze Familiensysteme beherrschen.
Ja, weil man damit alle anderen dazu bringt, etwas zu tun, was man selbst will, denn sie müssen doch schließlich Rücksicht nehmen auf einen. Man macht sich die anderen damit gefügig. Sándor Ferenczi hat das den „Terrorismus des Leidens“ genannt, wenn ständig kranke oder depressive Eltern die Lebendigkeit ihrer Kinder empfindlich unterdrücken. In Ehedynamiken hängt es vom Partner ab, ob er solche Zuweisungen leicht hinnimmt, weil er aufgrund seiner eigenen Geschichte entsprechend psychisch strukturiert ist und schnell Schuldgefühle aktualisiert, oder ob er sich – ohne Schuldgefühl – abgrenzen kann. Im ersten Fall erzeugen sie Schuldgefühle in sich selbst, sodass die andere Person die jeweils eigene Problematik, also seine Schuld, nicht mehr zu erkennen braucht. In Psychotherapien kann es ein jahrelanger Prozess sein, bis solche Strukturen aufgebrochen werden. Bei solchen Klienten muss man eben an der Über-Ich-Entlastung arbeiten und das ist doch in der Regel deshalb so mühsam, weil das Schuldgefühl die Bindung an die frühen Objekte repräsentiert.
Noch einmal zurück zu den therapeutischen Interventionen: Ist es therapeutisch leichter, wenn gar keine Schuld vorliegt?
Ja, es müsste zuerst geklärt werden, wieweit den Vorwürfen durch den Partner oder von anderen ein realer Schuldanteil überhaupt vorliegt, und wenn dann das Schuldgefühl nicht allzu stark ist, ist es leichter, das Irrationale von der Realität zu differenzieren. So etwas ist im Grunde schnell zu durchschauen. Dann wird klar, dass die andere Person in erster Linie Macht ausüben will oder manchmal auch das eigene angegriffene Selbstwertgefühl stärken will. Die Klienten müssen dazu die Beziehungsqualität durchschauen lernen, also das, was auf beiden Seiten passiert. Sie müssen sich selbst und das Zusammenspiel mit dem Partner in einem lebensgeschichtlichen Kontext sehen. So kann nach und nach ein neues Selbstbild aufgebaut werden. Das bewirkt eine größere Ich-Stärke und die ungleichen Beziehungsanteile verändern sich.
Was tun Sie, wenn jemand auch nach einer langen Therapie nicht aus diesen „pathologischen“ Strukturen aussteigen kann. Fällt Ihnen auch dann noch eine Intervention ein?
Was auf der Grundlage eines stabilen Vertrauens und einer tragfähigen Beziehung möglich ist und sehr wirkungsvoll sein kann, ist, wenn der Therapeut mehr oder weniger aktiv in die Rolle des ehemaligen Täters geht. Die Voraussetzung dabei ist aber, dass sich über eine geraume Zeit eine tragfähige Beziehung entwickeln konnte. Dann kann sich der Klient mit seiner Übertragung auf den Therapeuten zur Wehr zu setzen lernen, und zwar durchaus auch mal über eine emotional aggressive Reaktion, indem er im heutigen Therapeuten den damaligen Täter sieht. Dann können Klienten den Therapeuten auch mal anschreien und richtig sauer sein.
Ich habe so etwas sogar mal ganz unbewusst bei einer jungen Klientin, einer Medizinstudentin, ausgelöst. Sie stammte aus einer Migrantenfamilie, in der der Vater ein hartes Regiment führte, um es milde auszudrücken. Nach mehreren Monaten der Therapie veränderte sich die anfangs positive Beziehung zu mir.
Am Anfang einer Sitzung fiel mir auf, dass die Patientin eine Anderthalb-Liter-Flasche Wasser mit in die Stunde brachte, die sie sich auch sofort an den Mund setzte und dann unentwegt in kleinen Schlucken trank. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass sie regelrecht Angst vor mir hatte, und es lag auf der Hand, dass die Flasche sie beruhigen und ihr Sicherheit geben sollte. Irgendwann erwähnte ich ihr stetiges Trinken und sagte etwas streng, der Mensch brauche nicht so viel zu trinken, er könne auch mal fünfzig Minuten ohne Flüssigkeitszufuhr auskommen. Sie antwortete, nein, das sei wichtig, das hätte sie im Studium so gelernt. Es sei gesund, der Mensch brauche regelmäßig Flüssigkeit. Nun, antwortete ich, das sei eine Behauptung der Getränkeindustrie, die das in die Welt setze, um Umsatz zu machen. Da sprang sie plötzlich auf und schrie mich geradezu an, ich sei genauso autoritär wie ihr Vater, von mir ließe sie sich nichts sagen.
Das war meinerseits völlig intuitiv, es war keine bewusste, aber doch kontrollierte Intervention. Aber nun hatten wir unser Thema. Danach konnten wir gemeinsam die familiären Verhältnisse, insbesondere den autoritären Charakter des Vaters, ansehen und zurechtrücken. Ein solches realistisches Empfinden der vergangenen Beziehungsverhältnisse in der Therapie bewirkt eine realistischere Sicht auf die beteiligten Personen und sogar auf die eigenen aggressiven Emotionen. Es handelt sich um eine Art Anfangsrebellion, die früher nicht denkbar war. Das sind Formen von Emanzipation und Selbstbehauptung. Plötzlich können die Klientinnen und Klienten sich selbst als stark und weniger abhängig erleben.
So etwas muss man dann als Therapeut auch mal aushalten. Man geht dann in die Rolle des autoritären, übergriffigen Vaters und löst diese tief verborgene und nicht zugelassene Wut aus. Oft erschrecken dann erst mal beide Seiten, aber man kann anschließend darüber sprechen – was eben in der Familie nicht geht. Das meine ich, wenn ich sage: die sozialen Verhältnisse zurechtrücken. Übrigens fließen ein paar Minuten nach einer solchen emotionalen Interaktion oft die Tränen.
Vielen Dank für Ihre interessanten Ausführungen, Herr Dr. Hirsch.
Dr. Mathias Hirsch
Arzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, niedergelassener Psychoanalytiker sowie Gruppenanalytiker. Sein Buch „Schuldgefühl“ ist vor Kurzem im Psychosozial-Verlag erschienen.
Uwe Britten
Fachjournalist und Herausgeber der Buchreihe „Psychotherapeutische Dialoge“
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