Gesunde Empathie. Gesunde Abgrenzung.
So können wir das richtige Mittelmaß leichter finden!
Vielen Menschen fällt es schwer, in herausfordernden oder manchmal sogar in alltäglichen Situationen die Balance zwischen Empathie und Abgrenzung zu finden. Häufig besteht das Risiko, entweder von seinen Mitmenschen als wenig empathisch und verständnisvoll wahrgenommen zu werden oder sich andererseits im persönlichen Kontakt so sehr zu verausgaben, dass es ab einem gewissen Punkt sogar für die eigene psychische Gesundheit schädlich werden kann. Doch wie schaffen wir es nun, das rechte Mittelmaß zu finden?
In meiner Tätigkeit als Coach, Psychologische Beraterin und Paarberaterin erlebe ich insbesondere bei meinen hochsensiblen Klienten (immer m/w/d), wie schwer es ihnen fällt, nicht ständig die Bedürfnisse anderer Menschen über die eigenen zu stellen und auch mal mit gutem Gewissen ein „Nein“ auszusprechen. Häufig verlieren sie sich aufgrund ihrer sehr stark ausgeprägten Empathie emotional förmlich im Gegenüber und schaffen es dabei oftmals nicht, sich nicht unmittelbar in den Sog der Gefühlswelt der Mitmenschen hineinziehen zu lassen.
Doch nicht ausschließlich hochsensible Menschen (HSP) kennen die Herausforderung, einerseits empathisch auf ihre Mitmenschen einwirken zu können und andererseits in wichtigen Situationen für sich selbst einzustehen und sich abzugrenzen. Für viele Menschen fühlt es sich nahezu wie ein Drahtseilakt an, beide Aspekte auszubalancieren.
Je nachdem, welche Erfahrungen wir in unserer Kindheit gesammelt haben, welche traumatischen Erlebnisse wir durchleben mussten und welche Glaubenssätze und sonstigen Konditionierungen uns prägten, tendieren wir in der Regel entweder eher in die eine oder die andere Richtung. Es hat sich als sehr hilfreich in der Zusammenarbeit mit meinem Klientel erwiesen, die Ursachen zu erforschen, gewisse schmerzhafte Erfahrungen zu heilen oder das Erlebte andernfalls zumindest „friedvoll zu integrieren“.
Damit aber nicht genug: Obwohl wir in einer fortschrittlichen Zeit leben, was die Technisierung und die Wissenschaft anbelangt, ist die Psychologie immer noch vergleichsweise „jung“. Die wenigsten Menschen sind wahrhaftig in der Lage, reif und erwachsen mit ihrem Gefühlserleben umzugehen. Also, wenn sie mit ihren eigenen Gefühlen überfordert sind, wie sollen sie dann mit den emotionalen Ausbrüchen ihrer Mitmenschen reif und verantwortungsbewusst umgehen können? Neben der „inneren Schattenarbeit“, wie ich selbst den inneren Reinigungs- und Heilungsprozess nenne, ist das Erlangen eines größeren Bewusstseins, einer Klarheit wichtig. Ja, es ist ein längerer Prozess, zu lernen, sich selbst liebevoll im größten Gefühlschaos halten zu können.
Auch für mich selbst war das ein längerer Weg. Es ist jedoch ein Weg, der Leichtigkeit, Freude, Mitgefühl mit sich selbst und anderen sowie die Fähigkeit einer klaren und zugleich liebevollen Abgrenzungsfähigkeit mit sich bringt. Stück für Stück können wir dadurch lernen, uns selbst achtsam und mitfühlend wahrzunehmen – mit all unseren Sonnen- und Schattenseiten. Wir spüren hin, welches Gefühl nun gesehen und angenommen werden möchte.
Es kann einiges an Mut bedeuten, sich bestimmten Themen zu öffnen, weshalb es angeraten ist, den Umgang mit gewissen schwerwiegenderen Themen in einem geschützten Rahmen und zudem mit professioneller Unterstützung zu meistern. Doch wenn wir an den Punkt gelangen, uns uns selbst gegenüber zu öffnen, Selbstmitgefühl und Verständnis für diese verdrängten Anteile in uns zu erzeugen, fällt es uns von Mal zu Mal leichter, Schicht für Schicht abzulösen und zudem auch akut auftretende „Gefühlswellen“ händeln zu lernen.
Dieser Weg bringt uns in unsere wahre innere Stärke. Er ermöglicht uns schließlich, zu erkennen, dass wir unsere Gefühle nicht verdrängen müssen, denn wir können uns ihnen nun mit Verständnis und zugleich einer mutigen Klarheit und Besonnenheit zuwenden. Haben wir dies einmal geschafft, finden wir zugleich viel leichter den Zugang zu unseren eigenen Bedürfnissen wieder. Wir sind an diesem Punkt des Prozesses wieder mit uns selbst verbunden.
Der positive Nebeneffekt ist, dass daraus eine automatische Selbstverständlichkeit entstehen kann, für sich selbst einzustehen – sich also abgrenzen zu können. Die Selbstverbundenheit ermöglicht die einfachere Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse und lässt uns diese gegenüber unseren Mitmenschen klar – und dennoch respektvoll – zum Ausdruck bringen. Eine sehr schöne Formulierung, die mir an dieser Stelle in den Sinn kommt, ist: „Es ist kein Nein zu dir, sondern ein Ja zu mir.“
Natürlich besteht dennoch das Risiko, dass unser Gegenüber mit unserem „Nein“ nicht umgehen kann. Aber auch dieses Unverständnis können wir ab einem gewissen Zeitpunkt einfach verständnisvoll und liebevoll „so stehen lassen und akzeptieren“.
Die vergangenen Jahrtausende haben uns als Menschheit deutlich gezeigt, wohin ein unbewusster Umgang mit den eigenen Gefühlen (und Gedanken) und somit das „Projektions-Drama“ führen. Auch heute können wir die fatalen Auswirkungen sehen, die dieses Verhalten mit sich bringt. Wir sehen Menschen, die in Machtpositionen sitzen und mit ihren Gefühlen kindisch und unreif umgehen und dadurch Kriege anzetteln und zigtausende Mitmenschen ins Verderben stürzen. Es ist notwendig, dass wir als Gesellschaft endlich erkennen, dass es so nicht weitergehen kann und wir alle lernen dürfen, „emotional erwachsen zu werden“ und daher den Weg der Eigenverantwortung zu beschreiten.
In diesem Moment kommt die „Aufgabentrennung“ ins Spiel: In einer zwischenmenschlichen Beziehung trägt jeder Part zu 50 % Verantwortung. Für diese 50 % ist jeder jedoch zu 100 % verantwortlich. Dabei ist die Rede von Gefühlen, Gedanken und dem Verhalten. Leider erkennen viele Menschen, die sich selbst als Opfer begreifen, die Möglichkeit zur Selbstermächtigung in der gelebten Eigenverantwortung nicht. Sie fühlen sich schuldig sowie ohnmächtig und halten sich damit zugleich selbst gefangen. Sicherlich mag es im ersten Moment angenehmer erscheinen, einen anderen Menschen zu verurteilen und ihn in die Täterrolle zu schieben, aber schlussendlich erfolgt daraus eine Form der Schwächung und Selbstentmachtung.
Wenn wir die Verantwortung für unser eigenes Fühlen, Denken und Handeln von uns weisen, verlieren wir jedoch nicht nur die Verbindung zu uns selbst, sondern darüber hinaus zu unserem Mitmenschen. Wir stumpfen ab, weil wir in eine unbewusste Form eines Automatismus verfallen. Darin verlieren wir nicht nur uns selbst, sondern die überhitzten Gemüter schaukeln sich gegenseitig hoch.
So ein Umgang miteinander kann niemals zu einem konstruktiven Ergebnis führen. Hier ist weder Raum für Mitgefühl noch für eine Form der klaren und zugleich liebevollen und achtsamen Abgrenzung. Die „Aufgabentrennung“ in sein Leben integrieren zu wollen, erfordert eine bewusste Entscheidung in puncto Eigenverantwortung. Es ist absolut kontraproduktiv, diese Regelung sozusagen bloß in eine Richtung zu leben.
Wenn also z. B. mein Mitmensch traurig ist, weil ich für mein Bedürfnis (vielleicht dem Wunsch nach Alleinsein) einstehe und dieses nicht mit seinem Bedürfnis (dem aktuellen Wunsch nach Beisammensein) übereinkommt, darf ich ihm die Verantwortung für sein Gefühlserleben überlassen. Gleichermaßen sollte das Prinzip der „Aufgabentrennung“ aber nicht als Berechtigung für rücksichtsloses, empathieloses und massiv egoistisches Verhalten missbraucht werden. In der genannten Beispielsituation könnte ich der Traurigkeit und Enttäuschung meines Mitmenschen daher meinerseits empathisch und verständnisvoll begegnen, indem ich z. B. in einem mitfühlenden und wohlwollenden Ton sage:
„Ich verstehe, dass du jetzt traurig und enttäuscht bist, weil ich dein Bedürfnis gerade nicht erfülle. Das ist vollkommen in Ordnung. Ich melde mich im Laufe der Woche bei dir und wir schauen gemeinsam, was und wann wir zusammen etwas Schönes unternehmen können. Darauf freue ich mich schon sehr!“
Je nachdem, welchen Bewusstseinsstand unser Gegenüber in sich trägt und inwieweit er sich bereits mit sich selbst und seinen „inneren Schattenthemen“ befasst hat, kann die Reaktion entweder besänftigt und seinerseits verständnisvoll ausfallen, oder aber er gerät beispielsweise in Wut und möchte diskutieren. Hier ist es dann wieder an uns, weiterhin für uns einzustehen und die Verantwortung für die Gefühle des Gegenübers auch bei ihm zu belassen. Schließlich wissen wir nicht, welche unaufgelösten Themen in ihm schlummern, und wir können diese nicht lösen bzw. liegt dies nicht in unserem Verantwortungsbereich. Natürlich wäre es sinnvoll, möglichst viele Menschen in unserem Umfeld zu inspirieren, die „Aufgabentrennung“ in ihr Leben zu integrieren. Dabei dürfen wir selbst als ein Positivbeispiel dienen. Wenn wir dieses einfache Tool verstanden haben und es in unser Leben Einzug gehalten hat, werden perspektivisch gesehen davon nicht nur unsere zwischenmenschlichen Verbindungen profitieren, sondern es sorgt auch für großes inneres Wachstum.
Weiterhin werden wir wahrnehmen, dass wir mehr Selbstbewusstsein, Klarheit, Mitgefühl mit uns selbst und anderen sowie Leichtigkeit in uns tragen. Es macht sich ein innerer Frieden in uns breit, weil wir wissen, dass wir zum einen gelernt haben unsere eigenen Gefühle zu meistern, und wir des Weiteren auch verständnisvoll (und zugleich liebevoll abgrenzend) mit dem emotionalen Schmerz unserer Mitmenschen umgehen können.
Das sorgt dafür, dass uns mehr Zeit und Energie zur Verfügung steht, da diese nicht mehr in (unnötige) zwischenmenschliche Dramen fließt. Ein sehr schöner weiterer Aspekt, den ich so erlebe, ist, dass ich mich mir selbst inzwischen unglaublich verbunden fühle und dies zugleich für mein soziales Umfeld gilt. Ich bin nicht mehr dazu getrieben, meine eigenen „inneren Schattenthemen“ in meinem Gegenüber zu bekämpfen, weil ich mich der Situation, meinen Gefühlen und meinem Gegenüber hilflos ausgeliefert fühle. Viel mehr nehme ich Trigger inzwischen fast schon mit einer Art kindlicher Neugierde und aus der Perspektive eines Beobachters wahr. Ich steige nicht mehr in das vermeintliche Drama mit ein, was mein Verstand aufgrund der Bewertung einer Situation und der Gedanken und Gefühle, die in mir erzeugt werden, kreieren möchte.
Zudem kann ich die aufkommenden Gefühle dadurch viel leichter und auch schneller „durchfließen“ lassen. Ich muss sie nicht mehr aus Angst vor Überforderung verdrängen. Dadurch fühle ich mich leichter und freier. Ja, es bedarf eines kontinuierlichen und bewussten Trainings und der ständigen erneuten sowie bewussten Entscheidung dazu, den Weg in die Eigenverantwortung zu gehen. Aber es lohnt sich schlussendlich ungemein!
Fazit: Diesen Weg zu beschreiten, bedeutete damals für mich und später für meine hochsensiblen Klienten einen reifen und erwachsenen Umgang mit den eigenen Gefühlen und (destruktiven) Gedanken zu lernen. Weiterhin führte dies dazu, uns selbst liebevoll und verständnisvoll zu begegnen und deshalb viel leichter für die eigenen Bedürfnisse einstehen und uns abgrenzen zu können. Der klare und gleichermaßen empathische Umgang mit den Mitmenschen konnte somit in allen möglichen Lebensbereichen deutlich vereinfacht und angenehmer gestaltet werden. Verbitterung, Wut, Schuldzuweisungen und gegenseitiges Verletzen ist nicht mehr notwendig.
So öffnet sich ein Raum für Verbundenheit, Verständnis, Empathie, gemeinsames Wachstum, Selbsterkenntnis und Leichtigkeit. Und wieder einmal wird uns klar: „Alles im Leben entspringt einer Entscheidung.“
Wenn wir uns eine Gesellschaft mit mehr Mitgefühl, Zusammenhalt, Verständnis und Respekt wünschen, darf jeder von uns aus sich heraus den ersten Schritt in diese Richtung gehen, oder um es abschließend und treffend mit den Worten von Mahatma Gandhi zu sagen:
„Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir für diese Welt wünschst.“
Mahatma Gandhi
Isabelle Maria Kühler
Coach, Psychologische Beraterin, Paarberaterin in Recklinghausen, Autorin. Sie unterstützt hochsensible Menschen dabei, persönliche Herausforderungen im Bereich „Liebe und Partnerschaft“ anzugehen.
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