Wut vs. Mut. Ausdrucksformen, mögliche Ursachen, Lösungsweg
Im Moment scheint das Wut-Thema so eine Art Modethema zu sein. So beobachte ich das seit einigen Jahren bei Webinar- oder Seminarwerbungen. Dabei fällt auf, dass Wut etwas Gefährliches, Therapie- oder Beratungs-Bedürftiges zu sein scheint. Gewöhnlich wird Wut als negativ, als gestörte Impulskontrolle oder allgemein abwertend wahrgenommen.
Hier soll ein anderer wesentlicher Aspekt von Wut aufgegriffen werden. Anscheinend ist vielen Menschen nicht bewusst, dass Wut und Mut in der gleichen Lebensenergie ihren Ursprung haben. Meist wird Wut mit destruktiv und Mut mit konstruktiv interpretiert. Und im täglichen Leben bleiben wir alle oft in der Interpretation hängen.
Beides, Wut und Mut, sind Ausdrucksformen einer Lebensenergie, die vorwärtsgerichtet ist. Beide Ausdrucksformen sind auf Aktivität ausgerichtet, auf Lebendigkeit. Und manchmal müssen erst innere Blockaden beseitigt werden, um diese Lebendigkeit konstruktiv ins Leben zu bringen.
Der österreichische Psychiater Wilhelm Reich hat das als einer der Ersten erkannt und auch mit den Verspannungen des „Muskelpanzers“ gearbeitet. (W. Reich war einer der Begründer der heutigen Körperpsychotherapie.)
Diese Zeilen beschreiben unsere westlichen Sichtweisen, meist in Redewendungen umschriebene Wahrnehmungsvorgänge wie „Wut im Bauch“, „Kloß im Hals“, „das ist mir auf den Magen geschlagen“ ..., also im weitesten Sinn mit psychosomatischen Symptomen.
Die folgenden Überlegungen sind eher am indischen Chakra-System orientiert. Schließlich haben die asiatischen Heilkundigen ca. 3 000 – 4 500 Jahre mehr Erfahrung mit den Beobachtungen des menschlichen Körpers gesammelt und haben diese präzise dokumentiert.
Wut vs. Mut – beide Ausdrucksformen entspringen einem Chakra1), dem Solarplexus-Chakra. Es wird auch häufig als MachtChakra bezeichnet, was irreführend sein kann. Alle Chakren stehen für verschiedene „Macht“-Aspekte. Beim 3. Chakra geht es im Wesentlichen um Selbstbeachtung.
Wenn es im 3. Chakra überhaupt um „Macht“ geht, dann um die innere Macht, die eigenen Emotionen zu erkennen und auszubalancieren. Oft wird, anstatt erst das eigene innere Gleichgewicht zu finden, z. B. erst auf andere „projiziert“ und als Wut gelebt/interpretiert, was im Moment tatsächlich als Mut seinen Ausdruck findet. Das passiert oft als erste Reaktion, wenn das gegenwärtig „schwierige“ Thema mit den eigenen Vorstellungen oder dem Selbstbild nicht übereinstimmt. In Versammlungen oder Gesprächskreisen ist das für aufmerksame Teilnehmer (immer m/w/d) oft zu bemerken.
Beispiel
Eine angespannte Energie („dicke Luft“) ist fast greifbar im Raum – manche Menschen ignorieren diese Energie, ein Teil will sie abwehren oder kleinreden usw. „Wegsingen“ ist da schon eine kreative Form, um die Energie zu beruhigen. Jedoch – manche Energie will ausgedrückt, nicht beruhigt werden – sie will erkannt und gelebt werden. Das ist z. B. der „edle Zorn“. Wird „edler Zorn“ gelebt – ist er danach sofort weg. „Da ist weder Ego noch Emotion. Da ist Erkennen der Situation und da ist situationsgerechtes Handeln im Sinne von: Hebe dich hinweg, Satan. Erblühe, Leben.“2)
„Edler Zorn“ ist weg, sobald er gelebt ist (eigene Erfahrung). Wut brodelt im Inneren nach bzw. klingt nur langsam ab. „Wenn dieser Zorn derjenige ist, den wir als edlen Zorn bezeichnen können, dann wirkt er so, dass der Mensch da, wo er den Zorn erlebt, zu gleicher Zeit eine Herabdämpfung seines Ich-Gefühles hat.“3)
Interessanterweise wird dieser innere Vorgang „edler oder heiliger Zorn“ vom Akteur erst dann erlebt, wenn er egofrei und emotionslos agieren kann: Erkennen der Situation und situationsgerechtes Handeln. Dass bedeutet, dass auch Gefühle da sind – und da sein dürfen. Gefühle und Emotionen sind etwas Unterschiedliches.
Gefühle werden oft mit Emotionen (= alte, im Unterbewusstsein gespeicherte bzw. unterdrückte Gefühle) verwechselt oder gleichgesetzt. Das führt zu Missverständnissen. Emotionslos heißt nicht gefühllos.
Viele Kreisteilnehmer bzw. Außenstehende werden das Geschehen, je nach eigener emotionaler Lage, mit Wut in Verbindung bringen. Den inneren Prozess sehen sie ja nur bedingt – oder gar nicht. „Wir sehen die Welt nicht so, wie sie ist, sondern wie wir sind.“4)
In Gruppenprozessen braucht es im Allgemeinen nur zwei oder drei „Akteure“, die den Mut haben, sich für einen solchen Moment zur Verfügung zu stellen.
In fortgeschrittenen Gruppen wird der Prozess manchmal sogar gewünscht, weil emotional unbeteiligte Teilnehmer als Beobachter und Lernende nicht gefühlsmäßig eingebunden sind. Das erfordert selbstverständlich eine gewisse Bewusstseinsreife.
Von Emotionen getriggerte Wut bleibt, solange die Emotionen ungeklärt sind. Diese Wut drückt sich immer dann aus, wenn klärungsbedürftige Emotionen in einer angespannten Situation durch eine Handlung oder Bemerkung ausgelöst werden. Manchmal geschieht das sogar „explosiv“ und wird als „Jähzorn“ fehlgedeutet – etwas völlig anderes als der erwähnte „edle Zorn“. Die beiden Zorn-Typen werden von Laien gerne undifferenziert in einen Topf geworfen.
Sobald Mut, gepaart mit Klugheit, in das Leben gebracht werden, kann sich konstruktives Miteinander entwickeln. Ohne entspannte Klugheit wird aus Mut und dem daraus folgenden Tun vielleicht nur Draufgängertum oder Rücksichtslosigkeit.
Wenn ich mit jemanden an seinem Wut-/ Mut-Thema arbeite, kommt häufig vorneweg die Angst vor möglichen eigenen negativen Reaktionen hoch. Die Angst vor Veränderung lauert zudem im Hintergrund. Diese Angst vor den eigenen Reaktionen wird mit dem Ablegen der oben erwähnten Blockaden im Verlauf der Arbeit schnell als Illusion offensichtlich. Wut wird im Allgemeinen unterbewusst sofort als aggressiv5) im Sinne von Gewalt interpretiert. Ist die Ursache von Wut also möglicherweise Angst? Vielleicht sogar Angst vor der eigenen Lebensenergie? Angst vor dem Feuer der eigenen Gefühle? Wollen deshalb die wenigsten mit der „Wut/Mut“-Energie wirklich lösungsorientiert arbeiten?
„Wütende“ Menschen haben die positiven Ausdrucksmöglichkeiten einer Stresssituation scheinbar ausgeblendet. Der Umgang mit dieser vorwärtsgerichteten Lebensenergie aus dem 3. Chakra verläuft also augenscheinlich unbewusst oder wird aus (meist unbewussten) Interpretationen gespeist.
Sobald ich darauf hinweise, es bewusst mache, erweitert sich der Handlungsspielraum in der Regel zügig. Dann kann geübt und mit den neuen Erfahrungen „gespielt“ werden. Wer jemals bewusst und angstfrei mit den beiden Ausdrucksformen gearbeitet hat, weiß, dass das sehr befreiend und heilend sein kann. Dieser bewusste Umgang mit den Ausdrucksformen Wut und Mut setzt Energie frei, die das Herz-Chakra stärkt. Ein kraftvolles oder machtvolles Herz-Chakra wollen viele – den Weg dahin gehen nur wenige bewusst.
Welchen Weg könnte jemand gehen, um den Wut-Triggern im täglichen Leben nach und nach die Macht zu nehmen und vom Opfer (der eigenen Emotionen) zum Schöpfer (der eigenen Herzenskraft) werden?
Mögliche Schritte
- Aufmerksamkeit entwickeln, wann und in welchen Situationen Wut auftaucht
- die Wut vorerst nicht ausleben, sondern als Veränderungspotenzial „benutzen“ und halten/nicht festhalten oder kleinreden
- identifizieren welche Menschen (z. B. Frau, Mann, Partner, Chef ...) diese Trigger auslösen
- in die ursprüngliche Situation eintauchen
- als Beobachter(!) erforschen
- und danach klären
Das kann ein vernünftiger Weg sein, um die emotionalen Trigger zu identifizieren und zu entfernen. Ein Weg, der von Menschen gegangen wird, die ihr Leben verändern wollen. Der Klärungsprozess geht selten „über Nacht“ oder in einem Wochenendseminar. Es ist häufig ein kurviger Entwicklungsprozess heraus aus der Komfortzone der Gewohnheiten.
Dieser Weg braucht den Mut zur Aufmerksamkeit – und für eine gewisse Zeit einen angstfreien Begleiter/Coach, der den Weg schon gegangen ist. Denn der „Weg von der Wut zum Mut“ wird von einem solchen Begleiter bei den auftauchenden Herausforderungen mit Gelassenheit und Mitgefühl begleitet.
Quellen
1) Caroline Myss: Chakren – Die sieben Zentren von Kraft und Heilung.
2) https://bumibahagia.com/2019/08/02/heiliger-zorn/
3) Rudolf Steiner: Vortrag „Die Mission des Zornes“, 1909, http://anthroposophie.byu.edu/oeffentlich.html
4) Stephen Covey: Wir sehen die Welt nicht so, wie sie ist, sondern wie WIR sind.“
5) Aggression: „sich nähern“, aus lat. ag– (in Zus. vor g für ad) „zu, nach hin“ und lat. gradi „schreiten, festen Schrittes gehen“, zu lat. gradus „Schritt“ im Sinn v. Angriff – lat. aggressio, Gen.-onis, „Angriff“, zu lat. aggredi „angreifen, überfallen“, (Wissen.de)
Literatur
- Rhea Powers & Gawain: Durch‘s Feuer. Partnerschaft als spiritueller Weg. Falk Verlag
- Sam Keen: Feuer im Bauch. Über das Mann-Sein. Kabel Verlag
Helmut Konrad
Heilpraktiker für Psychotherapie, Konfliktberater und Telefoncoach
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