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Hochbegabung!!!

Was wäre nur gewesen, wenn der Vater von Wolfgang Amadeus Mozart Postbeamter gewesen wäre und nicht Hofkapellmeister in Salzburg: ohne jedes Verständnis für sein Wunderkind und in Erwartung einer Beamtenausbildung; das war und ist ja üblich. Was wäre uns verloren gegangen!

Ja, es geht um Begabung, nicht um Intelligenz. Zumindest, wenn wir anerkennen, dass Intelligenz sich in den multidimensionalen Versionen des Hamburg-Wechsler-Intelligenztests für Kinder (HAWIK) nicht vollständig erfassen lässt. Sein Ergebnis ist der Intelligenz-Quotient, doch der IQ gibt die Reihe möglicher Begabungen nicht hinreichend wieder. Außerdem drohen sie, im niedrigeren Niveau zu verschwinden.

All diese Menschen aus der AutismusSpektrum-Störung (ASS), all die Kinder mit Inselbegabungen statt der bequemeren ADHS: Menschen also, die Informationen schneller und komplexer verarbeiten als der Rest von uns, und denen dann, zumal unseren Kindern, schnell langweilig wird, weil sie unterfordert sind. Das ist nicht gut so. Dafür gibt es mittlerweile verschiedene Tests, die uns weiterführende Informationen liefern.

  • MHBT-P Münchner Hochbegabungstestbatterie für die Primarstufe
  • MHBT-S Münchner Hochbegabungstestbatterie für die Sekundarstufe
  • BIS-HB Berliner Intelligenzstrukturtest für Jugendliche: Begabungs- und Hochbegabungsdiagnostik

Andererseits ist das vielen von uns schon einmal begegnet: Wir treffen auf einen Menschen, über den uns unsere Menschenkenntnis sagt: Irgendetwas ist an diesem hier anders. Nur: was?

Dieser erzählt mir von seiner wirklich erstaunlichen Lebenssituation: Er lebt mit seinen Leuten in einer mongolischen Jurte in der holländischen Tiefebene und erfindet die Innenarchitektur runder Räume neu: ein Klient.

Der andere macht aus eigenem Impuls heraus jeden Tag Übungen, bei denen sich im Nachhinein herausstellt, dass er Alltags-Yoga quasi erfunden hat: Mosche Feldenkrais.

Der Dritte liest in jungen Jahren schon lieber Kant, Gauß oder Humboldt, er verschwindet oft in der Lektüre, statt auf die Piste zu gehen.

Wieder einer hat sich das Wohltemperierte Klavier selbst beigebracht oder komponiert Musikstücke, dass selbst der Jazzpianist Brad Evans Tränen in die Augen bekommt.

Ein Fünfter errechnet Mathematikaufgaben dritter Ordnung im Kopf, die ich persönlich nicht einmal im Ansatz verstehe.

Dieser dort macht in Madrid einen Universitätsabschluss, obwohl seine zutreffende Diagnose „Downsyndrom“ lautet, wer hätte das gedacht!

Es gibt Therapeuten und Autoren, die auch unter einigen Mitmenschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung eine verdeckte, unterforderte Hochbegabung vermuten.

Mir ist eine junge Frau bekannt, die diese soziale Fähigkeit besitzt, in jeder Gruppe, in die sie hineinkommt, das innere Sonnenlicht ein wenig heller strahlen zu lassen, sie selbst hält sich aber leider für dumm, kann man nichts mit bestellen.

Und der Achte, ein Freund von mir, entwickelt in seiner stillen Art ein Verständnis für seine Mitmenschen, das man eigentlich nur noch als transzendental bezeichnen kann.

Ja, solche Begegnungen gibt es. Manche von denen machen mich tatsächlich sehr wütend: Wie kann man nur ...! Und nun berichtet dieser eine Klient (immer m/w/d) davon, dass er in jungen Jahren Schwierigkeiten mit den Menschen seiner Umwelt hatte, und schreibt sich, durch schlechte Erfahrungen gewitzt, selbst den Fehler zu. Er komme heute in seiner Welt so lala zurecht, wenn er Glück hat, lebt aber als Aushilfsarbeiter oder Außenseiter, statt in einer unterstützenden Gemeinschaft. Trifft auf Urteile statt auf Hilfe. Man könnte erst einmal denken, er habe Anpassungsschwierigkeiten, aber dann kommt in mir der Verdacht auf: Das ist es ja gar nicht! Eher hat seine Umgebung Anpassungsschwierigkeiten mit ihm – er ist halt besonders.

Anders, aber nicht krank. Verrückt vielleicht, aber im positiven Sinne: Ein Teil an ihm hat ihn aus der Menge seiner Mitmenschen herausgerückt, und das auch nur, weil er an der falschen Stelle gelandet ist. In einer Gruppe, die denkt, Nägel, die herausragen, gehören eingeschlagen. So findet er den Weg nicht zu einer angemessenen Ausbildung, kein Lehrer erkennt ihn, niemand nimmt ihn beiseite und sagt ihm, dass er eigentlich mit sich anders umgehen könnte. Er muss seinen einmaligen Weg nun ganz alleine finden, und das ist nicht einfach. Zumal ja die Umgebung immer wieder ihren ausgetrockneten Senf dazu geben zu müssen glaubt, und das brennt. Auf der Seele.

Und ein innerer Impuls aber sagt mir: Ich will ihn lieber nicht verändern, was könnte uns als Menschheit verloren gehen! Wir brauchen sie, die Verrückten, die Besonderen, den Nikola Tesla, alle die, die uns etwas Altvertrautes auf neue Weise zeigen können.

Ich will diesem Klienten lieber dabei helfen, sein Verhältnis zu sich selbst zu verbessern: Möge es ihm leichter fallen, sich in seiner Besonderheit zu akzeptieren. Ein Kampf gegen eine Lawine. Wir wären alle besser beraten, wenn wir solchen Mitmenschen wenigstens keine Hindernisse bereiteten: kakisniyapi – Dakota für: Sie legen ihm Steine in den Weg; die derbere Übersetzung möchte ich hier lieber nicht aufschreiben, obwohl sie es trifft.

Ich hatte mich einst schon erschrocken gefragt: Was wäre nur gewesen, wenn der Vater von Wolfgang Amadeus Mozart Postbeamter gewesen wäre und nicht Hofkapellmeister in Salzburg: ohne jedes Verständnis für sein Wunderkind und in Erwartung einer Beamtenausbildung; das war und ist ja üblich. Was wäre uns verloren gegangen! Und wie viele von diesen nicht entdeckten Amadeussen gibt es, z. B. mit einer sozialen Intelligenz auf dem Niveau von Momo (Michael Ende), von denen keiner weiß.

Und da kommt auch schon die nächste Frage dahergerumpelt: Wie oft muss das schon vorgekommen sein, dass ein Kind in eine Familie hineingeboren wird, das seine Besonderheit, seine Hochbegabung nicht einmal erkennen kann. Seit Steinzeits Zeiten. Meine fiese Befürchtung ist, dass eine Reihe von Mitmenschen eine Hochbegabung hat, die einfach noch nicht entdeckt wurde. Statistisch gesehen sind das 15 bis 20 %. So viel Potenzial geht uns verloren!

Gerald Hüther, Forscher für Hirnentwicklungsstörungen am Max-Planck-Institut, formulierte es so: „Vor dem Beginn der Schulzeit haben wir bei 95 % der Kinder eine Hochbegabung festgestellt. Nach der Schulzeit waren das nur noch 2 %.“ Mein erster Gedanke? Das ist ja entsetzlich!

Plötzlich

Wer als Mitmensch oder gar Therapeut mit solchen Begegnungen keine differenzierte Erfahrung hat, steht dann ein wenig hilflos da. Lawinen aus Senf? Das ist kein psychopathologischer Befund, das ist eine verträumte Metapher! Aber ahnen ist nicht wissen. Diese Dinge immer wieder einmal überdenkend flattert mir plötzlich ein Buchangebot auf den Schreibtisch:

„Hochbegabung“, von der Sprachwissenschaftlerin Alma Drekovic und der holländischen Ärztin Noks Nauta.

Unboxing nennt man das neuerdings: Ein neuer Artikel wird ausgepackt. Erster Eindruck: fühlt sich gut an, hochwertige Verpackung.

Zweiter Eindruck: Es gibt ein Büchlein dazu, 67 Seiten zum Gebrauch der 54 Karten. Hierin wird erläutert, für wen diese Karten gedacht sind und wie damit umzugehen ist.

20 Jahre Beschäftigung in der Arbeit und Therapie mit Hochbegabten haben die Autorinnen darin unterstützt, eine Arbeitsanleitung zum Umgang mit diesen anspruchsvollen Zeitgenossen zu entwickeln. Es ist ein Handwerkszeug für die Therapie, das Coaching und die Förderung von Hochbegabten, in verschiedenen Altersstufen und drei verschiedenen Settings: Einzelarbeit, Gruppenarbeit und Selbstcoaching.

Dabei orientieren sie sich am Delphi-Modell der Hochbegabung: schnelle, kluge Denker mit der Fähigkeit, komplexe Materien zu bewältigen, die neugierig, autonom und leidenschaftlich sind und von einer hohen Intensität; also nicht immer der leichteste Umgang im Alltag. Ihr Umgang im Alltag, so schreiben sie, ist geprägt von Schnelligkeit, Kreativität, Komplexität und Intensität. Es ist also nicht nur die Intelligenz, die bei den 2,3 % der Betroffenen laut IQ-Tests herausragt, sondern die gesamte Lebensführung ist betroffen. Das macht sie für sich selbst und andere anspruchsvoll.

Wenn also Elaine Arons Arbeitsgebiet die Hochsensibilität ist, dann weiß sie, wovon sie spricht, wenn sie Hochbegabung und Hochsensibilität nah beieinander ansiedelt und bei 15 bis 20 % der Bevölkerung verortet. Auch wenn die Standardtests etwas anderes sagen und den Begriff enger fassen. Was aber, wenn die Hochbegabung eines Menschen die Wahrnehmung von Stimmungsänderungen oder musikalischen Dissonanzen ist und weit über dem Durchschnitt? Was für eine Verschwendung von menschlichem Potenzial liegt da vor uns! Und wie fühlt es sich an, von seinem Potenzial zu leben und nicht eine 0815- Ausbildung zu machen. Kennen Sie Ihr Potenzial?

Die Kartennutzung geht mit dem Innenleben und dem Außenleben von Hochbegabten auf zwei Ebenen in drei Dimensionen um:

Innen: Stärken, Herausforderungen, Selbstakzeptanz und Sensibilität

Außen: Beruf, Familie, Freundschaften und Liebesbeziehungen

1. Im Einzelsetting mit seinem Coach möge sich der Klient die Aussagen aussuchen, von denen er sich besonders angesprochen fühlt, mit denen er sich identifiziert, Erfahrung hat oder auf die er neugierig ist. Ganz subjektiv.

2. Im Gruppensetting wird der Klient von seinen Erfahrungen berichten, die anderen mögen sich Karten aussuchen, die sie, wieder ganz subjektiv, neugierig machen und zu denen sie etwas fragen wollen; Karten können blind gezogen und reflektiert werden, die Reflexionen können in der nächsten Sitzung verhandelt werden.

3. Im Selbstcoaching werden die Fähigkeiten der Hochbegabten genutzt, das zu tun, was sie sowieso am besten können: reflektieren und ordnen, um für sich selbst und auf der Basis ihrer eigenen Entscheidungen einen unbeschwerten Zugang zu ihrem Potenzial zu bekommen.

Dafür steht ein Set von 54 Karten mit typischen Aussagen Hochbegabter zur Verfügung, zu ihren Gedanken, Gefühlen, Erfahrungen und Überzeugungen im Alltag und in allen wichtigen Lebensbereichen. Die Aussagen betreffen die Potenziale, Herausforderungen, den Selbstwert, Chefs und Kollegen, den Platz in der Familie, die so wertvollen Freundschaften sowie das Liebesleben.

Alle Bereiche also, in denen auch ein Hochbegabter sich manchmal selbst im Weg stehen kann. Und dann ist es schon hilfreich, zu wissen: Du bist nicht allein, auch wenn sich das manchmal so anfühlt. Es geht noch was, wenn man gewillt ist, in das bisweilen heillos scheinende Chaos eine gewisse Struktur zu bringen. An der einen oder anderen Stelle mindestens.

Alles ist eins und ich bin in allem (auch Dakota, aus: aho mitakuye oyasin). Sie sehen, ich beschäftige mich mit der Weisheit alter Sprachen. Das war mit dem Großen Latinum und dem Gräkum an meinem Gymnasium gefordert und hat’s getroffen.

Mein Fazit

Der Klett-Cotta Verlag hat da ein hilfreiches, kleines Handwerkszeug veröffentlicht, hilfreich für alle, die mit mehr oder weniger Hochbegabten zu tun bekommen. Und das dürften statistisch gesehen wir alle sein. 15 bis 20 %! Wann ist Ihnen das zuletzt begegnet?

Den Rest an eigener Erfahrung müssen wir sowieso selbst machen.

Alma Drekovi, Noks Nauta:
Hochbegabung.
Das Kartenset für Coaching, Therapie und Selbstcoaching.
Klett-Cotta Verlag, 2023

Thomas Schnura
Psychologe M. A., Heilpraktiker und Dozent

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