Überlegungen aus der „Philosophischen Praxis für Lebensmanagement“
Gefühlspornografie, Konsumismus und die mangelnde Intentionalität der Liebe – was mediale Inszenierungen mit uns machen!
Pornografie ist die eindeutige und dadurch für manche Betrachter obszöne Darstellung des menschlichen Geschlechtsaktes in Wort und Bild. Die Pornografie wird hierin weniger wegen ihrer quasi dokumentarischen Inhalte angegriffen und verurteilt, sondern vielmehr weil speziell die Darstellung des weiblichen Verhaltens im Akt als frauenfeindlich wahrgenommen wird. Die Frau werde auf ein reines Sexualobjekt reduziert, das sich Männern schamlos anbietet und deren Sexualität im Wesentlichen reaktiv auf die angenommenen Bedürfnisse des Mannes detailliert vorgeführt wird.
Zudem, so wird argumentiert, schädige die Pornografie den hauptsächlich männlich gedachten Betrachter in der Weise, dass dieser auch im Leben zum Voyeur wird, der Frauen nur noch als Objekte der stimulierenden Beobachtung wahrnehmen kann, wodurch bei entsprechender Veranlagung die Schranke zwischen eingebildeter und vollzogener sexueller Gewalt niedergerissen wird. Letztere in erster Linie jedoch nicht nur von Feministinnen vorgebrachte Kritik ist unzweifelhaft richtig, mehrfach wissenschaftlich belegt und muss daher an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden.
Neben der eindeutigen Darstellung des Geschlechtsaktes hat sich in den letzten Jahren besonders im Medium Fernsehen eine neue Art von Obszönität etabliert, die, im Gegensatz zu Ersterer nur wenig diskutiert wird und deren schädigender Einfluss auf die Betrachter beiderlei Geschlechts bisher übersehen worden ist. Letzteres Phänomen soll im Folgenden als Gefühlspornografie bezeichnet werden. Hier muss jedoch zunächst differenziert werden.
Die Darstellung großer Gefühle ist seit Beginn der abendländischen Zivilisation ein wesentlicher Aspekt insbesondere der dramatischen Literatur. Der griechische Philosoph und Kunsttheoretiker Aristoteles ging in seinem Buch über die Poetik des Dramas von einer reinigenden Funktion der Dramatik aus, da diese durch die Darstellung schicksalhafter menschlicher Lebensaspekte im Betrachter Furcht und Schrecken auslösen sollte. Im stellvertretenden Durchleben soll der Zuschauer in einem komplizierten psychologischen Akt von den so dargestellten extremen Emotionen befreit werden, nicht zuletzt auch, um das Leben als Schicksal mit allen Hö- hen und Tiefen besser annehmen zu können. Wie bei jedem Pharmakon kommt es hier auf die richtige Dosis an: Ein zu wenig kann jene Reinigung oder Heilung nicht bewirken, ein zu viel würde auf die Katharsis in irgendeiner Form schädigend wirken, können wir schließen.
Nimmt man sich einmal die Zeit und schaltet einen Nachmittag oder einen Abend lang durch das Programmangebot unseres Leitmediums Fernsehen, so scheint dieses von einem Sendeformat dominiert zu werden, das gefühlsmasturbatorisch oder -pornografisch genannt werden kann.
In zum Teil absurden Handlungen, Vereinbarungen, Wetten o. Ä. dieser „ScriptedReality-Sendungen“, also erzählten Geschichten, die sich den Anschein geben, sie seien dokumentarisch und bildeten demnach das wirkliche Leben einzelner Menschen ab, werden Menschen zu Paaren verkuppelt, Häuser, Gärten, Besitztümer materiell schlecht gestellter Menschen auf fremde Kosten renoviert, verloren geglaubte Verwandte wiedergefunden und ihren Lieben zugeführt, familiäre Probleme (auf zum Teil brachiale Weise) gelöst und andere emotionale Höhepunkte vorgeführt.
Allen diesen Sendungen gemeinsam ist eine medial inszenierte Tränenflut über die empfundene Freude und Dankbarkeit für die Wirren des Schicksals oder die Scham vergangener Verfehlungen, die nun endgültig verziehen wurden. Und der Zuschauer – wer würde sich nicht mit der Mutter freuen, die ihre verlorene Tochter in die Arme schließt, wer nicht Stolz empfinden über den Sohn, der nach Jahren des Herumlungerns endlich eine Zielrichtung im Leben verfolgt, wer wäre nicht mit der sogenannten Unterschicht-Familie dem Fernsehsender dankbar für die neuen Möbel und Tapeten? Die Rechnung der Programmmacher dürfte in den meisten Fällen jedenfalls aufgehen. Der Zuschauer weint mit den Protagonisten des Programms und fühlt sich in manchen Fällen von Mitleid und Mitgefühl und erlösender Freude über das Happy End übermannt.
Natürlich werden große Gefühle auch in anderen fiktiven oder dokumentarischen Bildschirmformaten durchaus zum Thema gemacht, doch der für diese Überlegungen wesentliche Unterschied besteht darin, dass diese nicht im Mittelpunkt eines voyeuristischen und, wie wir sehen werden, masturbatorischen Interesses stehen, sondern nur einen Teil einer weiter reichenden Berichterstattung bilden. Die übermäßige Evokation großer Gefühle der oben erwähnten Sendungen durch die Darstellung von menschlichem Leid und Erlösung hat jedoch keinerlei dokumentarische Funktion, sondern das Übermaß des Gefühls wird als solches inszeniert und präsentiert, was den Betrachter über kurz oder lang abstumpfen lässt.
Die alltägliche Konfrontation wird zu einer emotionalen Masturbation, indem ein starkes Gefühl kurz und heftig zu einem Höhepunkt führt, der hierin den kurzen und lieblosen Geschlechtsakten in pornografischen Darstellungen ähnelt. Dieser selbst bzw. medial beigebrachte Orgasmus, der sich zumeist in einem befreienden Tränenausbruch äußert, darf jedoch keinesfalls mit einem echten Mitgefühl oder einer nach diesem Erleben bestehenden Solidarität mit den Opfern des erlittenen Leides, an dem man gerade teilgenommen hat, verwechselt werden.
So wie die Person, die ihren Körper und insbesondere die Geschlechtsorgane und deren Verwendung in der Pornografie zur Verfügung stellt, unerheblich ist und bleibt, ist das Leid des dargestellten Menschen beliebig und auswechselbar. Hierin ähnelt die Gefühlspornografie den ebenso häufig gesendeten Talkshows, in denen das beständig wiederholte und inhaltsleere Gerede irgendwelcher Prominenz ebenfalls beliebig ist und rasch vergessen wird.
Hierbei befriedigt den Betrachter im Wesentlichen das Gefühl, virtuell und wenn auch passiv an einem Gespräch teilgenommen zu haben bzw. die Stille des leeren Raums vertrieben zu haben.
Während Aristoteles in seiner Poetik zwar davon ausgeht, dass die medial bedingte Katharsis von Furcht und Schrecken ebenfalls nicht bleibend ist, sondern von Zeit zu Zeit in einem rituellen Gemeinschaftsakt, nämlich der Theaterinszenierung, wiederholt werden muss, um ihre heilende Wirkung zu erneuern, werden die Fernsehzuschauer von einer Woge des Leidens in täglichen und zu kurzen Abständen unkontrolliert hinweggetragen, mit dieser Erfahrung jedoch alleingelassen. Wie in der Pornografie ist die einsame emotionale Masturbation auf Dauer unbefriedigend und muss in stetigen kürzer werdenden Abständen wiederholt werden, wodurch sie bei hierfür anfälligen Betrachtern rasch zur Sucht werden kann: Irgendwann brauchen wir unsere tägliche Portion Tränen, um uns selbst als mitleidsvolle Menschen spüren zu können.
Der langfristige gesellschaftliche Effekt einer solchen masturbatorischen Überschwemmung liegt dabei auf der Hand. Liebe und Mitleid sind intentionale Gefühle, die sich auf einen oder mehrere ausgewählte Menschen aus dem erfahrenen gesellschaftlichen Nahraum erstrecken. Sie sind das Ergebnis einer andauernden liebevollen und selbstlosen Hingabe an den anderen bzw. im Falle des Mitleids der ehrlich interessierten Teilnahme am Leben des anderen mit dem Ziel, diesem bei Bedarf helfend zur Seite zu stehen. Beide Gefühle sind dauerhaft, doch sie benötigen Zeit, um sich stabilisieren zu können und um sich in das Leben desjenigen, der sie erfährt, hinein zu entfalten. Über die Richtung des Gefühls äußert sich Viktor Frankl, wenn er sagt,
„[...] sobald wir vorwegnehmend behaupten, Liebe mache den Sinn des Seins aus, gilt es auch festzustellen, daß Liebe allemal Liebe zu einem Du ist. Lieben kann ich immer nur ein Concretum, niemals aber ein Abstraktum [...]“1). „Liebe lässt uns den Anderen als eine Welt für sich erleben und so eigene Welt weiter werden.“2)
Wie die körperliche Liebe stets das Moment der Hingabe an den einen anderen als Produkt einer liebevollen Hinwendung zum anderen enthält, ist das Mitleid und das hieraus resultierende moralische Handeln eine nur dem reifen Menschen eigentümliche Existenzweise, um die man sich bemühen muss, wobei im Verlauf der Entwicklung auch Rückschläge und eventuelle Verletzungen in Kauf genommen werden müssen. Erst das mit und gegen den uns nun einmal eigenen Egoismus errungene Ergebnis dieser Bemühungen macht das menschliche Leben lebenswert und erfüllt.
Die Pornografie, ob körperlicher oder emotionaler Art, versucht dem vereinzelten und von sich und seinen echten Bedürfnissen entfremdeten Menschen eine Abkürzung anzubieten, die jedoch in einer Sackgasse münden muss.
Der Konsum von Pornografie ist also ebenfalls eine Form des Konsumismus, der den Zugang des einzelnen Menschen zu seiner geistigen Personenhaftigkeit insofern verstellt, als dass dieser kein Bei-Sein mit einem anderen Menschen im Sinne einer funktionierenden Partnerschaft eingehen kann oder eine solche zumindest erschwert wird. Für sexuell und partnerschaftlich wenig oder gar nicht gereifte Jugendliche ist dieser Umstand besonders prekär, da diese die Neigung entwickeln, Frauen und Mädchen in ihrer Umgebung ausschließlich unter sexuellen bzw. pornografischen Aspekten wahrzunehmen.
Hinzu kommt der Umstand, dass sich unter den Jugendlichen in Stadt und Land eine Art präkariatsorientierter bzw. imitierter männlicher Subkultur herauszubilden beginnt, die sich einerseits durch die Ablehnung einer erstrebenswerten bürgerlichen Existenz, vor allem jedoch auch in der Ablehnung von Verantwortung und der Herabsetzung der Frau als solcher auszeichnet.3)
Besonders erschreckend ist hierbei jedoch weniger die Tatsache, dass junge Männer Frauen verbal herabwürdigen oder sie je nach kultureller Herkunft zu einem zu beschützenden Objekt degradieren, denen kein eigenverantwortliches Handeln zugetraut wird und die deswegen beständig unter männlicher Aufsicht stehen müssen, als die Tendenz der Mädchen, sich diesem Verhalten mehr oder weniger freiwillig unterzuordnen: Von Kindesbeinen an durch die beständig auf sie einprasselnden Werbebotschaften daran gewöhnt, sich selbst als Prinzessinnen zu begreifen, deren einziger zu realisierender Wert im Leben in der Bewahrung eines perfekten äußeren Scheins besteht, der mit größtmöglicher Passivität des Handelns einhergeht, können die anderen „Prinzessinnen“ als nichts anderes als eine Bedrohung im Kampf um die aggressiv-aktiven „Prinzen“ verstanden werden. Getreu dem oben formulierten Gesetz des Konsumismus, dass nur Besitz und äußerer Schein den Wert einer Person ausmachen, werden Freundschaften zwischen Mädchen und jungen Frauen zu reinen Zweckbündnissen im Kampf um den Versorger degradiert, der einem den Zugang zu den begehrten Gütern weiterhin ermöglicht und in dieser Hinsicht das Elternhaus bzw. die Väter in ihrer Rolle ablöst.
Ein durch den Konsum von Pornografie vorgebildetes Verständnis von Intimität und Zweisamkeit steht zwar nicht unbedingt im Gegensatz zu dem Wunsch nach Romantik und Partnerschaft, doch wird die Sexualität von den Mädchen zum Teil aggressiv und zielgerichtet eingesetzt, um im gnadenlosen Konkurrenzkampf der perfektesten Körper einen vorderen Platz einzunehmen. Die in der Pornografie vorgezeichneten pervertierten Rollenbilder werden durch massiven Konsum also zu einem akzeptablen Rollenverhalten, wodurch eigene Interessen und das Interesse der um den weiblichen Körper konkurrierenden Jungen gleichermaßen befriedigt werden können.
In einem zynischen Sinne könnte man demnach sagen, dass die massive und konsumistische Verbreitung der Pornografie den seit vierzig Jahren tobenden Geschlechterkampf endgültig beendet hat, indem sie die Geschlechter als willenlose Konsumenten des jeweils anderen Körpers aneinanderbindet, doch nicht um den Preis der Liebe unter gleichgestellten Partnern, sondern den der absoluten masturbatorischen Trostlosigkeit.
1) Frankl, Viktor: Der leidende Mensch. Erster Nachdruck der 2. Auflage. Huber, 1998, S. 184
2) Frankl, Viktor: Urfassung des Buches Ärztliche Seelsorge, zitiert nach: Wörterbuch der Logotherapie und Existenzanalyse von Viktor Frankl, Hrsg. von Biller, Karlheinz; de Lourdes Stiegeler, Maria: Böhlau Verlag, 2008, S.179
3) Vergleiche hierzu insbesondere die Ausführungen von Heinz Bude in seinem Buch: Die Ausgeschlossenen.
Praxis Jens Helmig:
Paartherapie - Sexualtherapie - Beratung
www.praxisjenshelmig.de
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