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Deine Krankheit trifft auch mich!

Umgang mit der psychischen Störung eines Angehörigen

FP 0418 alles App Page62 Image1Seit fast drei Jahren leite ich eine Selbsthilfegruppe für Angehörige psychisch Kranker. Die Beeinträchtigungen, mit denen die Partner, Eltern, Kinder, Geschwister … zu kämpfen haben, sind für Außenstehende nur zu ahnen. Scham, Wut, Verzweiflung, Hilflosigkeit – wohin mit diesen negativen Gefühlen? Wer kann die Sorgen und Nöte verstehen? Wer hilft dabei, wenn Nachbarn plötzlich auf der Straße die Seite wechseln und im Supermarkt an der Kasse getuschelt wird? Wer kann ermessen, was es bedeutet, wenn der Vater wieder einmal von der Polizei in den Krankenwagen begleitet wird? Wer hat Ahnung von der Angst der Eltern, wenn der Sohn nachts randaliert, weil ihn seine Dämonen heimsuchen?

Und wer kann sich nur im Entferntesten vorstellen, was diese Krankheit für die Partnerschaft und die Beziehung der anderen Familienmitglieder bedeutet?

Die meisten Betroffenen, die in die Gruppe kommen, haben bereits eine Odyssee von mehreren Jahren hinter sich. Sie sind oft am Ende ihrer Belastbarkeit, fühlen sich verraten und alleingelassen. Kliniken und Therapeuten berufen sich auf die Schweigepflicht. Gefühle der Angehörigen sind nur selten von Interesse.

„Wir haben nur zu liefern!“, so eine Mutter, „wir bekommen weder Auskunft noch ein Gespräch, damit wir unsere Seite schildern können! Keine Zeit – nicht im Budget heißt es dann!“

Ein Vater ergänzt: „Ich habe jedes Mal Angst, wenn mein Sohn entlassen wird. Wir müssen ihn wieder aufnehmen, können ihn doch nicht auf die Straße schicken – und wenn er die Medikamente absetzt, geht der ganze Tanz von vorne los.“

In der Gruppe dürfen sich die Angehörigen ihre Wut von der Seele reden. Sie dürfen weinen und die negativen Gefühle gegenüber der Situation und ihren erkrankten Familienmitgliedern loswerden und bekommen dafür die „Legitimation“ von anderen Betroffenen.

Wichtig ist auch, die eigenen Bedürfnisse zu thematisieren und Wege aufzuzeigen, diese umzusetzen. Der erste Schritt ist, die Tabuzone zu verlassen. Informationen über mögliche Hilfen einzuholen, wie z. B. den sozialpsychiatrischen Dienst, der wiederum Kontakte vermittelt bspw. zu möglichen Betreuern oder über Betreuungsmöglichkeiten vor Ort informiert …

Auch die eigene psychische Gesundheit wird thematisiert. Einige der Angehörigen suchen selbst therapeutische Hilfe oder nutzen mein Angebot zu Einzelgesprächen bei mir in der Praxis. Andere finden Anregungen für Entlastung und Ausgleich.

Das Thema Kommunikation ist ein weiterer Punkt. Wie kommuniziere ich mit meinem psychisch kranken Angehörigen? Wie steuere ich das Gespräch, vertrete ich meinen Standpunkt? Wie kann ich lernen, nicht immer gleich wütend zu werden?

Die Mitglieder schildern, wie sie sich durch klare Regeln und konsequentes Verhalten selbst schützen. Einem abhängigen Sohn kein Geld für weitere Drogen zu geben, auch wenn dies wehtut und der einfachere Weg wäre. Anstelle dessen ein Alternativangebot machen: „Ich bringe dich in die Klinik und unterstütze dich beim Entzug!“

Nicht versuchen, das aggressive Verhalten des psychotischen Ehemanns vor den Nachbarn geheim zu halten, sondern frühzeitig Krankenwagen und Polizei rufen, wenn eine Gefährdung vorliegt und aktiv auf die gaffenden Nachbarn zugehen. Sie fragen, was sie zu diesem Verhalten veranlasst, ob sie wissen, wie demütigend das ist.

Einem depressiven Ehemann durch klare Botschaften verständlich machen, was die Frau von ihm erwartet: „Ich möchte, dass du gewaschen und angezogen zum Essen kommst!“

Der Ehefrau, die an einer Persönlichkeitsstörung leidet, Angebote machen, die eigenen Gefühle reflektieren und gleichzeitig klar Stellung beziehen.

Der Arroganz mancher Ärzte in Kliniken entgegentreten. Sie sind Dienstleister zum Wohle der Kranken und die betroffenen Angehörigen alles andere als Bittsteller.

Diese und andere Anregungen finden Angehörige in der Gruppe. Es ist schön zu beobachten, wie sie mit der Zeit wieder aus ihrem Schneckenhaus hervorkommen.

Wie sie, und sei es nur in kleinen Schritten, eine Richtung für sich finden, lernen loszulassen und sich nicht immer für alles verantwortlich zu fühlen. Wie sie sich selbst erlauben, zu delegieren, erfahren, dass Hilfe anzunehmen keine Schwäche, sondern im Gegenteil, eine Stärke ist, die anderen die Kompetenz einräumt, über die sie selbst nicht verfügen.

Es ist schön, wenn in der Gruppe gelacht wird, von Erfolgserlebnissen berichtet wird, den anderen bescheinigt wird, dass sie viel ausgeglichener wirken.

Am schönsten aber ist, zu beobachten, wie die Menschen innerlich wachsen und äußerlich wieder aufrechter durchs Leben gehen.

Die Angehörigen psychisch Kranker führen bisher oft noch ein Schattendasein. Noch mehr als die psychische Erkrankung der Betroffenen wird die Situation der Angehörigen tabuisiert. Sie versuchen, Stärke nach außen zu zeigen oder sich vor scheinbaren und offensichtlichen Angriffen und Vorurteilen zu schützen. Das kostet Kraft. Häufig gehen sie über Jahre bis an ihre Grenzen.

Die Krankheit betrifft nicht nur die Erkrankten selbst, sondern wirft ihre Kreise ins gesamte Umfeld. Die Stärkung dieses Umfelds ist allerdings ein Grundpfeiler bei der weiteren Unterstützung und Betreuung von psychisch kranken Angehörigen.

Gabriele KemmerGabriele Kemmer
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Psychologische und Systemische Beraterin, Praxis in Tauberbischofsheim
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