Autismus im Klassenzimmer
Autismus – eine Diagnose, die oft mit fälschlichen Annahmen hinsichtlich der Betroffenen, ihres Denkens und Fühlens einhergeht. Vorurteile bezüglich Bindungsunfähigkeit oder schwierigen Sozialverhaltens sind nur einige dieser Behauptungen, mit denen sich autistische Kinder und ihre Eltern konfrontiert sehen. Dabei gibt es schon genug Hürden, welche die Betroffenen bewältigen müssen; viele davon im schulischen Kontext. Nicht selten führen diese Hindernisse zu Überforderung, welche sich in Ablehnung oder Verweigerung äußern. Der Autismus beeinträchtigt Kinder darin, ihre Bedürfnisse intuitiv zu zeigen – was nicht bedeutet, dass sie keine haben. Umso wichtiger ist es, die zu oft in den Hintergrund geratenen Stärken autistischer Schüler zu erkennen und zu fördern.
Was ist Autismus?
Um einen differenzierten Blick auf Kinder mit Autismus zu gewinnen, ist es wichtig, innerhalb dieser Störung Unterscheidungen zu treffen. Unter den Oberbegriff der Autismus-Spektrum-Störung fallen der frühkindliche Autismus und das Asperger-Syndrom.
Die Autismus-Spektrum-Störung umfasst Defizite im Bereich des Sozialverhaltens, der Kommunikation und des Handelns. Entsprechend der ICD-10 wird Autismus als „tiefgreifende Entwicklungsstörung“ definiert, welche zur schweren Mehrfachbehinderung führen kann. Somit ist Autismus keine Krankheit, sondern ein lebenslanges Handicap.
Der durch Leo Kanner geprägte frühkindliche Autismus, auch unter dem Kanner-Syndrom bekannt, tritt bei Kindern normalerweise schon vor dem dritten Lebensjahr auf. Er zeigt neben Kontaktstörungen im sozialen Umfeld Störungen in der Sprache; manchmal fehlt diese gänzlich. Oft geht der frühkindliche Autismus mit einer Intelligenzminderung einher.
Im Vergleich dazu wird die Form des Asperger-Syndroms oft erst später auffällig. Wie das betroffene Kind des Kanner-Syndroms hat auch eines mit Asperger Schwierigkeiten im Kontakt mit dem sozialen Umfeld, hat dabei aber eine gute bis überdurchschnittliche Sprachentwicklung, die trotzdem in ihrer Aussprache und Artikulation auffällig ist. Häufig treten motorische Probleme auf: Der Betroffene wirkt ungeschickt, als habe er kein Körpergefühl. Daneben existieren meist Spezialinteressen, sog. Inselbegabungen, die sich zwar nicht im kreativen Bereich befinden, durch die der Autist aber durchaus beeindrucken und positive Aufmerksamkeit sammeln kann.
Alle genannten Auffälligkeiten treten bis in das hohe Erwachsenenalter auf; plötzliche oder systematische Rückgänge gibt es nicht. Autismus „verwächst“ sich also nicht.
Autismus im Klassenzimmer
Da Autismus keine Krankheit ist, die zurückgeht, ist ein gezielter Umgang damit von größter Bedeutung – für das Kind selbst, wie auch als Erleichterung für das Umfeld.
Besonders bei Kindern stellt die Schule durch ihre hohe zeitliche Präsenz diese weniger einen reinen Ort zum Lernen dar als einen ganzheitlichen Lebensraum. Mit ihrem pädagogischen Auftrag und dem Anspruch von Inklusion sollten besonders hier Weichen für alle Beteiligten – das Kind, die Mitschüler, Eltern und Lehrer – gestellt werden, mit Autismus leichter leben zu können.
Im schulischen Kontext ist die Differenzierung zwischen Asperger-Syndrom und frühkindlichem Autismus bezüglich der Förderung unumgänglich. Während die Kinder mit dem Kanner-Syndrom häufig eine verminderte Intelligenz aufweisen, 15 % sogar eine Lernbehinderung, weisen 25 % aller Autisten einen überdurchschnittlichen IQ auf – diese verteilen sich durchweg auf autistische Asperger.
Nun soll hinsichtlich der Wahrnehmung und der Förderung besonders das Asperger-Syndrom in den Vordergrund gestellt werden.
Der Asperger als Klassenmitglied
Hinsichtlich der geschlechtlichen Verteilung tritt das Syndrom achtmal häufiger bei Jungen als bei Mädchen auf. Die betroffenen Kinder unterscheiden sich in ihrer Wahrnehmung und der Verarbeitung ihrer Umwelt, wodurch es in vielen Situationen zur Reizüberflutung kommt. So kann es vorkommen, dass der Schüler schnell abgelenkt wirkt, unerwartet um sich schlägt oder sich die Ohren zuhält. Diese Reaktionen mögen für die Umwelt überraschend sein, drücken aber die sensible Empfindung von Asperger-Autisten aus, Umweltreize nicht einordnen zu können.
Und Umweltreize gibt es viele im Klassenzimmer: andere Kinder, Lernstoff, Unterrichtsmaterialien. Alles birgt gesteigerte Herausforderungen für jemanden, dessen Informationsverarbeitung besonders abläuft. Mit reduziertem Blick auf das Ganze, sog. Generalisierungsschwierigkeiten, dafür mit Konzentration auf Details, orientieren sich die Asperger-Schüler. Dies wird zum einen an geringem Abstraktionsvermögen deutlich, zum anderen an ausgeprägten Inselbegabungen. Ein weiterer Unterschied in der Wahrnehmung ist der Wechsel zwischen zwei Sinneskanälen. Dieser ist, z. B. vom Sehen zum Hören, langsamer als bei anderen Kindern, was zudem den Frust im schulischen Kontext steigert. Denn was Kinder mit Asperger auf jeden Fall spüren, das ist ihre „Andersartigkeit“.
Dieses Gefühl wird nicht zuletzt durch die Mitschüler verstärkt, die mit ihren kindlichen Augen ein zunächst abweichendes Verhalten feststellen. Sie nehmen wahr, dass sich ihr Mitschüler im Klassenverband womöglich zurückzieht, Blickkontakt meidet oder seine Artikulation nicht der Situation angemessen erscheint. Echolalien, Neologismen und gleichbleibende Redewendungen sind dabei nicht selten. Dass Mitschüler für den Autisten eine Herausforderung darstellen, ist ihnen selbst nicht bewusst. Doch aufgrund der problematischen Interaktion in sozialen Beziehungen, die das Syndrom mit sich bringt, können auch sie zur Reizüberflutung beitragen. Empathie ist eine Fähigkeit, die beim Asperger-Autisten nur eingeschränkt auftritt; betroffene Kinder betrachten das Gesicht ihres Gegenübers als Objekt und lesen die Körpersprache vom Mund statt von den Augen ab.
Häufiges scheinbar inadäquates Verhalten autistischer Kinder wird oft missinterpretiert. Da Autismus aber keineswegs bedeutet, keine Bedürfnisse nach sozialen Beziehungen zu haben, ist es grundlegend, so früh wie möglich Raum dafür zu schaffen.
Unterstützungsangebote im Unterrichtsalltag
Das Lernverhalten eines Schülers mit Asperger-Syndrom ist nicht an ein festes Leistungsniveau oder einen bestimmten IQ gebunden; es muss wie bei jedem Schüler individuell festgestellt werden. Oft fällt die Differenzierung zwischen Unter- und Überforderung schwer, da beides ähnliche, meist impulsive Reaktionen mit sich bringt. Das Ziel des Unterrichtsalltags muss somit ein höchstmögliches Maß an Struktur sein, um unnötige Reize reduzieren zu können.
Unterrichtsrhythmisierung und Differenzierung in der Stoffvermittlung sind dafür vonseiten der Lehrkraft essenziell. Weiterhin muss der Klassenverbund selbst gestärkt werden, weshalb ein gegenseitiges Verständnis zwischen dem Schüler mit Autismus und seinen Klassenkameraden geschaffen werden soll. Im Sinne der Inklusion, gilt die Auffassung, dass jedes Kind seinen individuellen (Förder-)Bedarf hat, und allen Kindern Raum gegeben werden soll, ihren besonderen Handlungsbedürfnissen nachgehen zu können.
Konkrete Umsetzungsmöglichkeiten für die Stoffvermittlung
• Fester Sitzplatz: Wenn der autistische Schüler weiß, wo sein fester Platz ist, reduziert das möglichen Stress bei Eintritt ins Klassenzimmer. Zudem können Platzstrukturierungen wie das Abkleben mit Klebeband für bestimmte Gegenstände (Mäppchen, Hefte, Schulranzen) hilfreich sein.
• Tages- und Wochenplanarbeit: Übersicht über zu erledigende Aufgaben geben, möglichst mit festen Zeitangaben, in denen die Inselbegabungen berücksichtigt werden.
• Strukturierte Pausen: Oft fällt konzentrierte Beschäftigung Asperger-Autisten leichter als spontane Pausen. Da Ruhephasen trotzdem wichtig sind, sollten sie im Tagesplan verzeichnet sein.
• Arbeitsaufträge klar formulieren: Da autistische Menschen Redewendungen und Ironie häufig nicht nachvollziehen können, sollten die Aufträge sachlich ausgedrückt werden. Hierbei helfen oft visuelle Darstellungen wie Piktogramme.
• Partnerarbeit: In den meisten Fällen wird die Arbeit in Gruppen als überflutend wahrgenommen, weshalb sich die Arbeit mit einem verbindlichen Partner anbietet. Da Teamfähigkeit eine besondere Herausforderung für einen Betroffenen darstellt, kann die Möglichkeit, alleine im Nebenraum zu arbeiten, angeboten werden.
Konkrete Umsetzungsmöglichkeiten für das soziale Miteinander
• Rituale: Begrüßung und Abschied geben dem Tagesablauf einen Rahmen. Dabei sind alle Kinder integriert und nehmen sich wahr. Weiterhin kann ein autistisches Kind eine höfliche Ausdrucksweise üben.
• Kommunikation und Mimik erlernen: Kommunikation kann zum Unterrichtsthema gemacht werden. Es kann thematisiert werden, wie sich die Schüler verhalten und welche Regungen ihre Gesichter zeigen, wenn sie über unterschiedliche Dinge sprechen.
So können Plakate erstellt werden über „Mein Glücks-Gesicht“, „Mein Wut-Gesicht“ etc.
Dies hilft Kindern mit dem Asperger-Syndrom, Gesichtsausdrücke seiner Mitmenschen einordnen zu können.
• Aufgaben verteilen: Für die Integration in den Klassenkontext kann die Verantwortungsübergabe unterstützend wirken. Ob Austeildienst oder Tafelputzen – die Mitschüler sehen, dass ihr oft anders erscheinender Mitschüler die gleichen Aufgaben wie sie übernehmen kann. Weiterhin kann hier die Lehrperson, orientiert an den Stärken des autistischen Schülers, adäquate Aufgaben heraussuchen.
• Heterogenität zum Thema machen: Jeder Mensch ist anders und das ist gut so. Wenige Menschen können diesen Satz so leicht umsetzen wie Kinder. Deshalb bietet es sich an, Verschiedenheit im Klassenverband anzusprechen und zu fördern. Dabei können auf der Metaebene Kinderbücher hilfreich sein, die zum einen eine Identifi kation erleichtern und andererseits einen Umgang mit auffälligen Kindern skizzieren1).
Einige der hier aufgeführten Ansätze orientieren sich am TEACCH (Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children), einem integrativen pädagogischen Konzept aus den USA, welches zunehmend an europäischen Schulen umgesetzt wird. Die Elemente, die daraus praktisch angewandt werden, beziehen sich besonders auf strukturiertes Unterrichten sowie Visualisierung2).
Herausforderung mit Perspektiven
Parallel zur schulischen Unterstützung gibt es weitere Ansätze, um einen angemessenen Umgang mit Autismus zu finden. So gibt es systematisierte und verhaltenstherapeutische Möglichkeiten der Förderung.
Grundlegend für alle Kontexte der Lebenswelt ist die Akzeptanz des Syndroms, um Besonderheiten und Ressourcen des Betroffenen aufspüren zu können. Selbstverständlich stellt dieser Prozess eine Herausforderung für alle Beteiligten dar. Trotzdem gibt es Stärken der Autisten, die nicht vernachlässigt werden sollten und von denen Mitschüler und Lehrer durchaus profitieren können. Eine logische Denkweise und ein Blick für Details sind heutzutage von großem Wert. Weiterhin fallen Autisten durch eine hohe Lernfähigkeit auf. Dies zeigt sich schon daran, dass sie Strategien lernen, ihre Defi zite auszugleichen. Und nicht nur das – durch sie lernen auch wir, umzudenken, Diversitäten wahrzunehmen, auf sie einzugehen und dementsprechend unsere Umwelt zu organisieren.
Literatur
1)Lutz, Dorina: Idas Melodie, Autismusverlag, 2015
2)Häußler, Anne: Der TEACCH Ansatz zur Förderung von Menschen mit Autismus. Einführung in Theorie und Praxis, Borgmann Media, 2012
Anuschka Fertig
in Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie