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Hochsensibilität als eigene Stärke entdecken

2016 02 Staerke1

fotolia©adimasIch arbeite seit 18 Jahren als psychotherapeutische Heilpraktikerin in Hamburg. Von dem Begriff „Hochsensibilität“ erfuhr ich aus einem Artikel in der Zeitschrift „Psychologie heute“. Die Psychotherapeutin Elaine Aron hatte ein Buch über Hochsensibilität in Englisch herausgebracht, das es auf Deutsch noch nicht gab. Ich wusste sofort, dass ich zu dieser Gruppe gehöre und viele meiner Klientinnen und Klienten mit mir. Meine jüngste Schwester wartete gerade auf ihre Versetzung als Lehrerin nach München, hatte Zeit und machte sich in Zusammenarbeit mit mir daran, dieses Buch zu übersetzen.

Die Veröffentlichung hat einige Nachfolger erhalten. Es entstanden sogar Institute zum Thema. Und es kamen immer mehr Klientinnen und Klienten in meine Praxis, die sich selbst als hochsensibel bezeichneten und durch den entsprechenden Hinweis auf meiner Homepage aufmerksam geworden waren.

Meine eigene Hochsensibilität konnte ich im Rückblick schnell identifizieren. Schon als Kind habe ich extrem schlecht und flach geschlafen, wachte dauernd auf und hatte oft ängstigende Träume. Meine Fantasie und meine Kreativität waren immer enorm; ich schrieb, zeichnete, malte, bastelte, nähte, strickte ... Ich war oft krank, bekam von jetzt auf gleich Fieber oder Nasenbluten, wenn mich etwas zu sehr angestrengt hatte.

fotolia©Romolo TovaniMeine große Empathiefähigkeit machte mich früh zur Vertrauten aller möglichen Leute. Ich kümmerte mich auch intensiv um meine jüngste, ebenfalls hochsensible Schwester. Ich las schon vor Schulbeginn, lese bis heute enorm viel, bin eher intro- als extravertiert und liebe den Rückzug in die Stille und meine Individualität. Meine hochsensiblen, kriegstraumatisierten Eltern machten mir viele Schuldgefühle wegen meiner nicht zu ihrer dogmatischen freikirchlichen Gemeinde passenden Vorstellungen vom Leben, in der sie selbst Sicherheit vor der bösen Welt gefunden hatten. Diese Schuldgefühle hinderten mich lange daran, meinen eigenen Weg zu gehen. Ich habe viel Therapie gebraucht, um mich aus dieser religiösen Prägung zu befreien und um mit meiner Hochsensibilität klarzukommen.

Der psychotherapeutischen Arbeit – meinem ausschließlichen Arbeitsfeld nach dem Ausstieg aus einer schulischen Beratungsstelle – gehört seit ihrem Beginn mein Herz. Das noch spät als Zweitstudium begonnene Psychologiestudium habe ich aber abgebrochen, da es mir viel zu verkopft war. Stattdessen machte ich Fortbildungen in anderen psychotherapeutischen Richtungen, um sie in meine Arbeit einfließen zu lassen. Ich bin über meine Fähigkeit sehr dankbar, empathisch auf alle Klienten eingehen und schnell Vertrauen aufbauen zu können, lasse mich immer wieder gern auf neue Menschen ein und freue mich über die Entwicklungsschritte, die sie mit meiner Begleitung machen.

Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt in der Einzeltherapie, jedoch biete ich auch Paarberatung und Gruppenangebote an. Ich arbeite selbstständig innerhalb einer psychotherapeutischen Praxisgemeinschaft, derzeit nur mit Selbstzahlern; Schüler und Studenten erhalten günstige Konditionen. Zurzeit betreue ich einige junge Frauen und einen Mann von ca. 30 Jahren in Einzeltherapien, die wöchentlich oder vierzehntägig stattfinden, sowie Frauen in meinem Alter, also um die 60, die alle ein vierzehntägiges bis monatliches Coaching wollen. Mit ihnen werde ich demnächst zusätzlich eine Gruppe „Biografisches Schreiben“ sowie zur Traumarbeit ins Leben rufen.

Ich arbeite gestalttherapeutisch, nutze dabei kreative Medien, den berühmten heißen Stuhl (nach Fritz Perls) und den Dialog mit einer vorgestellten Person, häufig durch eine Puppe oder ein Stofftier vertreten. Ich nutze zusätzlich Möglichkeiten des Familienstellens, der Transaktionsanalyse, des Enneagramms, der Logotherapie (nach Viktor Frankl) und der Bioenergetik, wann immer sie mir passend erscheinen.

Die Hochsensibilität wird immer öfter zum Hauptthema, dem sich andere Themen unterordnen – wie ein Burnout aufgrund einer zu hohen Arbeitsbelastung einer hochsensiblen Person. Oder eine Depression wegen der viel zu gering ausgebildeten Selbstbehauptung. Oder ein emotionaler (bis hin zum sexuellen) Missbrauch infolge einer dysfunktionalen Partnerschaft der Eltern. Oder eine Ko-Abhängigkeit von einem süchtigen Partner, dem die Empathie nicht entzogen werden soll, die aber längst schon die eigenen Grenzen überschritten hat.

Bis vor einigen Jahren habe ich die Krankheitsbilder vorrangig gesehen und die Hochsensibilität als sekundäres Merkmal dazu. Mittlerweile werde ich zunehmend von Klientinnen und Klienten aufgesucht, die ihre Hochsensibilität als vorrangiges Problem nennen und bei denen sich andere Schwierigkeiten im Therapieverlauf zeigen.

Eine typische Erfahrung, die ich in meiner Arbeit mache, ist zunächst das Hadern der Betroffenen mit der negativen Seite der Hochsensibilität, der geringen Belastbarkeit, die manchmal regelrecht als Behinderung eingeschätzt wird. Es braucht eine geraume Zeit, in der ich das Gesamtpaket der Hochsensibilität immer wieder klarmachen muss, bevor die Betroffenen Schritte zur Integration tun können. Dabei hilft es mir, dass ich selbst hochsensibel bin und sowohl von den Schatten- als von den Sonnenseiten meines Lebens berichten kann. Ich erlebe immer wieder, dass dies zur Vertrauensbildung beiträgt, die für den gelingenden therapeutischen Prozess dringend notwendig ist.

Allerdings haben alle Betroffenen ein sehr feines Gespür dafür, dass meine Beiträge nur selektiv sein dürfen. Im Wege steht manchmal auch, dass Hochsensible schambesetzte Dinge lange verschweigen und eher in eine Rolle der braven Klientinnen und Klienten rutschen, denen es „eigentlich ganz gut geht“.

Starke Gerüche, Farben oder Bilder im Raum können zudem zu Schwierigkeiten des Sicheinlassens werden, die ich dann aber schnellstens zu beheben versuche. Andererseits findet ein nach einem durstigen Erstgespräch für jede Stunde bereitgestelltes Glas Wasser sofort Anklang. Oder ein leiser gestellter Klingelton nach dem Zusammenzucken wegen dessen Lautstärke. Allerdings kann es auch hier zu einem Kräftemessen kommen, dessen bin ich mir bewusst und wehre den Anfängen.

Es fällt mir immer wieder auf, was für ein reiches Innenleben die Betroffenen haben, was sich besonders an ihren Träumen ablesen lässt. Viele schreiben ihre Träume auf, einige sprechen sie nachts auf Band und bringen die Aufnahme mit in die Praxis. Ich verstehe Träume als Sprache aus dem Inneren und arbeite gestalttherapeutisch mit ihnen. Das heißt, dass jedem dieser Traumanteile eine Stimme gegeben und aus dieser Position gesprochen wird. Ich selbst verfahre mit meinen Träumen ebenso.

Eine Klientin träumt z. B. von einem verfallenen Haus, in dem es bis auf die Treppe zum Keller kein Treppenhaus gibt. Sie geht also in den Keller, findet ihn völlig aufgeräumt vor und begegnet einem Mann, mit dem sie zu den Klängen einer Schallplatte auf einem Grammofon Tango tanzt. In der Traumarbeit versetzt sie sich zunächst in ihr Traum-Ich und berichtet, wie es ihr geht, als sie in den Keller hinabsteigt, als sie die Ordnung wahrnimmt, als ihr der fremde Mann begegnet, als sie tanzt. Sodann wird sie zu dem Mann und berichtet aus dessen Perspektive, wird später zum aufgeräumten Keller, zur Kellertreppe, zur Musik auf der Platte, zum Grammofon, zur fehlenden Treppe in die anderen Stockwerke, zum Haus ... Teilweise unterhalten sich auch Teile miteinander: die vorhandene und die fehlende Treppe, die Frau und der Mann etc.

Alle meine Klienten sind die Gestalttherapie mit dem Rollenwechsel und den Dialogen gewohnt sowie in der Traumarbeit bewandert. Meinen hochsensiblen aber fällt es ganz besonders leicht, sich zu identifizieren und aus den Rollen zu sprechen. Sie sind sowohl spontan als auch intuitiv, bremsen sich nicht, lassen die Anteile sprechen und merken dabei wichtige Sätze, die ich später nochmals wiederhole und verdeutliche. Alle sehen in der Traumarbeit ein wichtiges Medium zur Standort- Feststellung und Aufklärung derzeitiger Problemfelder.

Meine hochsensiblen Klienten kommen immer aus dem Gefühl des Überwältigtseins durch ihren Alltag. Sie haben das große Bedürfnis, von sich zu erzählen und auf sowohl einen empathischen als auch verständnisvollen Menschen zu treffen. Nach und nach bringen sie ihre weiteren Probleme zur Sprache und brauchen oft lange, um auch scham- und schuldbesetzte Teile anzusprechen. Ihr geringes Selbstwertgefühl bremst sie oft, weil sie glauben, mir als Therapeutin möglicherweise zu viel zuzumuten, sie schauen immer ganz genau auf meine Reaktionen. Es baut sich meist ein sehr intensives Vertrauensverhältnis auf; sie möchten sich fallen lassen in dem Gefühl des Angenommen- und In-Ordnung-Seins.

Sehr viele – vor allem die Jüngeren – sind froh über Ausschnitte aus meinem eigenen Erleben und nehmen mich zum Vorbild für eine gelungene positive Lebensgestaltung trotz Hochsensibilität – wenn auch oft auf Umwegen und mit mehreren Anläufen.

Sie begeben sich immer stärker in Veränderungsprozesse, freuen sich über Hausaufgaben, die sie stets akribisch erfüllen. Auch auf kreative Medien lassen sie sich gern ein, haben z. B. kaum Hemmungen, etwas bildnerisch darzustellen und sind sehr oft künstlerisch begabt. Sie beziehen Antworten aus Tarotkarten, kennen sich in spiritueller Literatur aus, sind wissbegierig und oft hochbegabt. Es macht sehr viel Freude, sie zu begeiten. Die Arbeit mit ihnen bereichert mich immer.

In letzter Zeit kommen die Klientinnen und Klienten schon mit dieser Eigenbeschreibung zu mir. Früher habe ich nach einer Anzahl von Stunden oder auch mal ganz spontan gefragt, ob sie/er hochsensibel sei. Alle konnten bisher mit diesem Begriff etwas anfangen, was mir zeigt, dass er sich als feste Größe etabliert hat.

Durch die Gestalttherapie, die ja viel mit Medien arbeitet, sehe ich schnell besondere Begabungen im künstlerischen Bereich. Beim Abfragen der psychischen Gesundheit erfahre ich schon im Erstgespräch viel über Werte und Normen und stelle bei den Hochsensiblen immer eine Affinität zur Spiritualität fest. Sie sind alle auf bestimmten Gebieten sehr bewandert oder spezialisiert, haben eine sehr differenzierte Sprache. Und sie haben den ganz besonderen Drang, sich kennenzulernen, um mit sich besser zurechtzukommen. Damit sie – das ist dann das Fernziel – ihre Begabungen für andere Menschen nutzbar machen können.

Ich mache die Hochsensibilität fest an Berichten über den Alltag, in dem der Job keine Berufung ist, in dem die Partnerschaft nicht den Gleichklang bringt, in dem die Stadt zu laut ist, die Mitbewohner lärmig und oberflächlich sind, das Fernsehen banal und die Musik zu elektronisch ist, sprich: an den Überflutungen des Lebens, bei denen sich die Hochsensiblen lange mit den anderen vergleichen und sich als Schwächlinge oder Memmen bezeichnen. Bis sie verstehen, dass sie dafür andere Qualitäten und eine besondere Tiefe haben, mit denen sie punkten können.

Der Anteil der Hochsensiblen in meiner Praxis ist seit Jahren etwa 4:1. Die hochsensiblen Männer haben nach meiner Erfahrung noch viel größere Probleme mit der Übererregung und werten sich viel stärker ab als die Frauen. Sie brauchen länger, um sich auf mich einzulassen, als die Frauen. Wenn ein Vertrauensverhältnis aber hergestellt ist, arbeiten sie genauso intensiv an sich und machen gute Schritte auf dem Weg zur Entdeckung der und Aussöhnung mit der eigenen Persönlichkeit. Auch die Männer sind meist in kreativen oder sozialen Berufen tätig bzw. wollen sich dorthin orientieren.

Hochsensibilität ist kein Störungsbild. Meine hochsensiblen Klientinnen und Klienten sind bisher darauf angewiesen, sich eine Therapeutin/einen Therapeuten zu suchen, die/den sie selbst finanzieren, wenn sie nicht schon eine andere Störung – oft eine Depression – entwickelt haben. Auch meine reduzierte Berechnung bei Schülern/Studenten können diese sich häufig kaum leisten, wählen deshalb große Abstände zwischen den Sitzungen, die die Unterstützung erschweren und Bewusstheit sowie Veränderung in die Länge ziehen. Viele der älteren können die Therapie ebenfalls nicht so finanzieren, wie es für sie nötig wäre. Sie machen dann ein Coaching in größeren Abständen.

Hier hilft es oft, eine Therapie in Kleinstgruppen zu etwa vier Personen anzubieten, die ein bestimmtes Thema haben wie das biografische Schreiben oder die Traumarbeit.

Dass das Thema in den letzten Jahren in so vielen Büchern, Vorträgen und Einrichtungen präsent ist, finde ich großartig; selbst die Naturheilverfahren der Medizin und die Homöopathie beschäftigen sich damit.

Ich stelle fest, dass die Informationen auch schon bei vielen bemühten Eltern angekommen sind und wünsche mir, dass sie ebenso in Kitas und Schulen stärker ankommen, damit sich dort ein Gespür für die Besonderheit und Andersartigkeit dieser Kinder entwickelt.

Eva Grove-Hinrichsen Eva Grove-Hinrichsen
Pädagogin, heilpraktischhe Gestalttherapeutin

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