Begleiter, Seher und Übersetzer mit archaischen Wurzeln
Mit dem Schamanen unterwegs zu gewaltigen Bäumen, tiefen Höhlen und Brücken im Dunkeln – eine Art Reisebericht
Den Wald kenne ich schon vom letzten Mal. Es ist ein heller, leicht hügeliger Mischwald mit großen, alten Bäumen, wenig Unterholz und einer dicken Schicht Laub, Gräsern und Moos. Vor mir taucht der langgestreckte Hügel mit der Höhle auf, in deren Innern ich das große, kräftig brennende Feuer sehe. Die Stimme sagt, ich solle stehen bleiben und tief durchatmen. Nur ein paar Meter entfernt wuseln Kaninchen über den Waldboden. Eichhörnchen scheinen an den Stämmen der alten Bäume Fangen zu spielen.
Nicht weit von der Höhle steht ein wirklich gewaltiger Baum, der letztes Mal noch nicht da war. In seinem Stamm ist eine Art Eingang; daneben steht Paul und lächelt. Ich gehe zu ihm, trete durch den Eingang und folge ihm wie über eine Art Wendeltreppe aus Erde und Wurzeln immer tiefer und tiefer in die Erde.
Paul Moore ist Schamane. Heute lebt er in Durham im Norden Englands, doch mütterlicherseits liegen seine Wurzeln in Kanada, bei Abenaki-Indianern. Bei ihnen verbrachte er seine Kindheit. Seine Großmutter, die Schamanin des Stammes, gab dem kleinen Paul seinerzeit ihr Wissen weiter und ermutigte ihn, den Kontakt zu den „Geistern“ nie abreißen zu lassen. Als ich das erste Mal von ihm hörte, stellte ich mir einen hageren alten Mann mit langem grauen Haar, Adlernase, Wildleder-Outfit und Schellentrommel vor. Der echte Paul ist dagegen ernüchternd „normal“: Keine Adlernase, keine Wildleder-Leggings, keine Schellentrommel und auch nicht wirklich hager.
Ich selbst befinde mich auch nicht im Halbdunkel einer indianischen Schwitzhütte, sondern liege entspannt in der Praxis von Melanie Weishaupt, selbst Expertin für Hypnosetherapie und Kinesiologie. Die Heilpraktikerin für Psychotherapie arbeitet mit Paul zusammen, assistiert ihm, schirmt störende Reize von außen ab und übersetzt für die Menschen, die sich im Englischen nicht so sattelfest fühlen.
Mittlerweile hat Paul eine Fackel in der Hand. Wir haben die Wendeltreppe hinter uns gelassen und sind – ja, wo? Eigentlich ja unter der Erde, aber es scheint mir eher, als befände ich mich in finsterster Nacht in einem großen, dunklen Wald. Wir gehen auf einem breiten Weg, grade, aber uneben wie eine uralte, längste vergessene Straße. Aus dem Wald – den ich mehr ahnen als sehen kann – höre ich Stimmen. Seltsamerweise lösen sie kein Gefühl in mir aus – keine Angst, keine Vorsicht. Sie sind einfach da und ich nehme sie wahr.
In der Ferne sehe ich Lichtpunkte, warmes, weiches Licht wie von großen, ruhig brennenden Kerzen. Das muss die Brücke sein, von der Paul gesprochen hat, das Ziel unserer Reise. Mir wird ein kleines bisschen mulmig. Vor unserer Reise hatte Paul mir versichert, ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen. Er hatte allerdings auch gesagt, ich solle nicht über die Brücke gehen.
Lange Zeit hielten „moderne“ Menschen Schamanismus für reinen Hokuspokus unter dem bewusstseinserweiternden Einfluss irgendwelcher Drogen, vielleicht gar mit krankhaften Zügen; bestenfalls glaubte man, im Schamanen das Relikt einer Art archaischer „Vor-Religion“ zu erkennen. Mittlerweile hat sich das Bild gewandelt. Professor Dr. Christian Scharfetter von der Medizinischen Hochschule Hannover beispielsweise beschreibt Schamanen als „Spezialisten der Trance-Diagnose“, als Mittler zwischen dem Seelenleben und dem „Göttlichen“ – was immer der Einzelne darunter versteht. Anders gesagt: Der Schamane öffnet dem Hilfesuchenden die Tür zum Unterbewussten, hilft ihm, Relevantes zu verstehen (und zu sehen) und unterstützt ihn dabei, die eigenen Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Mit Hokuspokus hat das nichts zu tun; vielmehr ermöglicht es der Schamane, die „Innere Stimme“ wahrzunehmen – und auch ein Skeptiker wird zugeben, dass die oft klüger ist als der wache Verstand.
Vor Antritt der „Reise“ hatte Paul mir gesagt, wo wir hingingen und was mich dort in etwa erwarten würde. So gesehen ist es nicht überraschend, dass der Weg mich in meiner Vorstellung tatsächlich unter die Erde und an besagte Brücke führte und ich nicht stattdessen die Autobahnraststätte Bottrop-Süd vor mir sah. Erstaunlich ist allerdings, dass der Schamane nach meiner – oder unserer? – Rückkehr wusste, wem und was ich im Einzelnen begegnet war und welche Gefühle und Interpretationen das bei mir auslöste.
Ich brauche einen Moment, um mich im „Hier und Jetzt“ zurechtzufinden, obwohl ich während der ganzen Zeit durchaus den Eindruck hatte, klaren Verstandes und „da“ gewesen zu sein.
Eine volle Stunde ist vergangen – ich hätte geschworen, es wären vielleicht zehn Minuten gewesen. Melanie Weishaupt versichert mir, das sei normal: Für manchen „Reisenden“ scheine die Zeit schneller zu vergehen, für andere langsamer, aber praktisch jeden verlasse das reale Zeitgefühl.
Paul sitzt mir wieder gegenüber, lächelt freundlich und hilft mir, das Gesehene und Gefühlte zu verstehen. Er weiß so selbstverständlich, was ich gesehen habe und spricht so offen, dass ich ihm vertraue. Was er sagt, ergibt für mich Sinn. Und vor allem: Es macht Mut. Ich bin froh, die Reise gewagt zu haben.
Internetempfehlung
Professor Dr. Christian Scharfetter, „Schamanismus und Psychotherapie“: http://www.schamanismus-information.de/schamanismus/psychtherapie.htm
Jens Heckmann