30 Tage im Rollstuhl
Sommer 2008
Schon über 40 Jahre lebe ich mit körperlichen Einschränkungen, aber meine Körperbehinderung ist auf den ersten Blick für andere nicht sichtbar gewesen. Nun bin ich plötzlich für jeden auf den allersten Blick als Schwerbehinderte zu erkennen – ausgelöst durch eine „Kleinigkeit“, nämlich den Bruch von zwei Mittelfußknochen nach einem Sturz, und so sitze ich nun Knall auf Fall im Rollstuhl.
Mittelfußknochen, so unauffällig, scheinbar so unbedeutend im Körpergerüst. Dass zwei dieser kleinen Knochen gebrochen sind, reicht nun aus, mich völlig lahmzulegen: Bislang hatte ich keinen Gedanken an Mittelfußknochen verschwendet, sie bis dato gar nicht registriert, ihnen keinerlei Aufmerksamkeit und Beachtung geschenkt. Knöchel, Schien- und Wadenbein waren bislang eher in meinem Bewusstsein gewesen als mein Mittelfuß mit seinen Knochen. Wie viele hat man eigentlich? Ach, wie unwissend ich doch diesbezüglich gewesen bin, bis jetzt, wo ich die Erfahrung mache, dass plötzlich nichts mehr geht.
Ich sage, weil genau das anfangs noch nicht in mein Bewusstsein vorgedrungen ist, mitunter spontan: „Ich geh mal schnell zum Briefkasten!“ oder „Ich hole eben das Mineralwasser aus dem Keller!“
Dabei habe ich in den ersten zwei Wochen solche Schmerzen, dass ich fast den ganzen Tag im Bett liege. Ich kann keinen Schritt gehen, denn das Auftreten tut höllisch weh.
Das bringt meinen Mann auf die Idee, einen Rollstuhl zu leihen. Rollstuhlbenutzerin zu sein bedeutet – das wird mir jetzt schmerzlich bewusst – auf Mitmenschen angewiesen, dem Wohlwollen der Mitmenschen gänzlich ausgeliefert zu sein.
Mir fallen Redewendungen ein, die die Gefühle, die ich jetzt habe, zum Ausdruck bringen: „Sitzen gelassen werden“, das wird nun eine hautnahe Erfahrung im wortwörtlichen Sinn. Wenn mich jetzt jemand sitzen lässt, mich in Stich lässt, dann werde ich sitzen bleiben. Ich kann ihm nicht nachlaufen und ihn zurückholen. Bei Gefahr kann ich nicht weglaufen. Wie soll man bloß im Rollstuhl flüchten? Geht nicht!
Ich sitze jetzt fest – und erlebe bei Ausfahrten im Rollstuhl (den ich nun im wortwörtlichen Sinn be-sitze), auf Kindergröße geschrumpft, die Welt aus einer anderen Perspektive. Meinen Ausfahrten im Rollstuhl sind nicht nur durch Bordsteinkanten, Stufen und Treppen Grenzen gesetzt (wie voll die Welt davon ist, ist mir bislang gar nicht aufgefallen!), sie bleiben auch zeitlich deshalb recht beschränkt, weil viele Kneipen und Cafés ihre Toiletten – mit dem Rollstuhl unerreichbar – im Keller haben.
Ich fühle mich jetzt, da ich nicht gehen kann, oft über-gangen in meinen Bedürfnissen. Ich kann nicht dagegen an- oder vor-gehen, kann der Situation nicht entgehen!
Als ich nach drei Wochen endlich so weit bin, dass ich vom Rollstuhl aufstehen und ein paar Schritte laufen kann, sehe ich mich in einem Lokal von anderen Gästen misstrauisch beäugt, als „Simulantin“ eingestuft.
Ich hatte Glück: meine Zeit im Rollstuhl war vorübergehend – Gott und allen guten Geistern sei Dank.
Susanne Rafael
geb. 1951, Buchhändlerin, Literaturwissenschaftlerin, Autorin, diplomierte Ehe-, Familien- und Lebensberaterin,