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Gel(i)ebtes Leben ... Schicksal oder Chance?

2014 04 Leben1

In unseren beratenden und therapeutischen Begegnungen treffen wir in der Regel auf Menschen, die ein Problem in ihrem Leben haben, oftmals auch ein Problem mit dem Leben. Der bisherige und der künftige Verlauf werden dann meist schicksalhaft gesehen.

fotolia©AnteroviumMeine ehrenamtliche Tätigkeit – Deutschunterricht für die Boatspeople aus dem Mittelmeer, Flüchtlinge aus Syrien, Somalia, Eritrea, Äthiopien – lehrt mich tagtäglich, was Menschen in Kauf zu nehmen bereit sind, um ihr Leben zu retten oder menschenwürdig gestalten zu können.

Bei unseren Klienten geht es oft um Lebensentwürfe, die gleichgültig oder unbrauchbar werden können, manchmal sogar um Lebenssituationen, die das Leben so unerträglich, so wertlos erscheinen lassen, dass Suizid als „Erlösung vom Leben“ gesehen wird.

Die Flüchtlinge aus Syrien haben allen materiellen Besitz, viele Angehörige, ihr ganzes bisheriges soziales Umfeld verloren. Für sie geht es zunächst nur darum, „das nackte Leben“ zu retten.

Die jungen Menschen aus Afrika klammern sich an eine Utopie vom Leben, vom guten Leben in Europa und lassen sich weder von der permanenten Todesgefahr noch von unserer europäisch-logischen Argumentation von ihrem „Lebenstraum“ abbringen.

In einem weiteren ehrenamtlichen Engagement – Begleitung Schwerstkranker und Sterbender im Hospizdienst – begegne ich Menschen, die erkennen müssen, dass ihr Leben dem Ende zugeht, und mache immer wieder die Erfahrung, dass sie dieses Leben plötzlich mit aller Macht festhalten möchten, ganz gleich wie sie es bislang beklagt haben und wie aussichtslos nun die medizinische Prognose ist.

„Ich habe mein Leben gelebt, habe viel erlebt und es war letztlich gut so, wie es war. Jetzt kann ich meinen Koffer packen“, sagte mir vor einigen Wochen ein hochbetagter Mann, ganz ruhig und überlegt. Plötzlich war die Begleitung seiner letzten Stunden leicht und unbeschwert. Er erzählte mir, solange er noch sprechen konnte, Episoden aus seinem langen Leben, heitere und ernste, und ich durfte einfach nur noch zuhören.

Die wichtigste Erfahrung, die ich in meiner Hospizarbeit mache, ist, dass das Leben ein wundervolles, jedoch zeitlich begrenztes Geschenk ist und entsprechend wertgeschätzt, gelebt werden muss.

fotolia©NikIch habe gerade meinen 75. Geburtstag hinter mir und wünsche mir eigentlich nur Gesundheit, körperliche wie geistige, damit ich die mir zugedachten Jahre aktiv, mit viel Interesse und Neugier auf alles, was das Leben anbietet, verbringen kann.

Dabei ist Optimismus im Alter heute keine Selbstverständlichkeit. Bild-, Ton- und Printmedien liefern uns quasi stündlich eine Flut von Schreckensmeldungen und nur schwer zu ertragende Bilder von Unfällen, Kriminalität und Kriegsgeschehen rund um den Globus. Dazu kommen unzählige, mehr oder minder kompetente Kommentare, mit welchen Krankheiten wir aufgrund unserer erhöhten Lebenserwartung zu rechnen haben und wie der demografische Faktor die Altersarmut vorprogrammiert.

Ich halte nichts davon, sich aufgrund solcher – generalisierender - Vorhersagen zu ängstigen und zu limitieren. Meine Lebenserfahrung sagt mir inzwischen, dass es sinnvoller ist, das Leben auf sich zukommen zu lassen und dann – nicht schon prophylaktisch – zu entscheiden, was zu tun ist. Vielleicht ist diese Erkenntnis auf meine Erfahrungen als „Kriegskind“ zurückzuführen. Wer hätte uns Kindern in den Ruinenlandschaften von 1945 voraussagen wollen, dass wir in ein Wirtschaftswunderland hineinwachsen dürfen, mal „die neuen Alten“ werden, ein deutlich höheres Lebensalter erreichen können als unsere Vorgenerationen? Die meisten meiner Generation wollen auch lange, sehr lange leben, aber nicht „alt“ werden. Viele Senioren reisen rund um den Globus und wünschen sich zum Geburtstag eher einen Tandem-Fallschirmsprung als warme Filzpantoffeln oder eine Flasche Herzwein, wollen kein „Oma- oder Opa-Typ“ sein und haben trotzdem ein super Verhältnis zu ihren Enkeln.

Vielleicht sind wir die Generation derer, die etwas Leben nachholen möchten.

fotolia©GordonGrandIm Jahr 2003 – bereits im Rentenstand und nach überstandener Krebserkrankung – hatte mich ein Werbeplakat der Paracelsus Schulen zu der spontanen Entscheidung für die Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie gebracht. In meiner Studiengruppe waren 12 bis 15 junge Frauen und dazu kam ich, mit 64 Jahren, als Exotin. Mit meiner Vorbildung – abgeschlossene Ausbildung als Arzthelferin, 2 Jahre alleinige Mitarbeiterin einer Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, 15 Jahre Chefarztsekretärin der chirurgischen Abteilung eines Kreiskrankenhauses, konnte ich mich, trotz meines Alters, gut und nützlich einbringen. Lehrbücher, speziell für Heilpraktiker, waren damals noch nicht auf dem Markt.

Der „Tölle“, ein Medizinfachbuch, war, vor allem für die Teilnehmerinnen aus medizinfernen Berufen, ziemlich schwer verdauliche Kost. Kopien meiner individuellen Unterrichtsprotokolle waren, da aufs Wesentliche komprimiert, bei meinen jungen Kolleginnen geschätzt.

Die Integration in die Altersgruppe meiner Töchter war somit kein Problem. Einige der freundschaftlichen Kontakte haben sich bis heute gehalten.

Im Juni 2004, 2 Wochen vor meinem 65. Geburtstag, bestand ich komplikationslos die amtsärztliche Überprüfung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie.

Ich habe voll Begeisterung gleich meine eigene Praxis gegründet und in den folgenden Jahren mit viel Interesse und Freude an (fast) allen VFP-Symposien teilgenommen, viele Fortbildungsmöglichkeiten genutzt. Mein besonderes Interesse galt der therapeutischen Hypnose und der Psychosomatik. Ein weiterer Schwerpunkt meiner Fortbildung war das Thema „Coping-Strategien“, als Hilfestellung in ausweglosen Situationen und bei lebensbedrohlichen Krankheiten. Nicht unerheblich für meine persönliche Entwicklung war eine mehrmonatige Vorbereitung zur Hospizbegleiterin.

Und weil ich von der Psychologie nicht genug bekommen konnte, hatte ich mich von 2005 bis 2011 an der „Universität des 3. Lebensalters“ der Uni Frankfurt im Fach Psychologie (Gesundheitspsychologie, Psychologie sozialer Prozesse) eingeschrieben. Ich musste dafür, einmal wöchentlich, 70 km einfache Fahrt in Kauf nehmen. Das in den Vorlesungen Gebotene war mir jeden Kilometer wert, mir und auch ca. 100 weiteren Senioren von nah und fern.

Das Studium war, auch ohne Berufsqualifikation, durchaus ernsthaft. Der Dozent suchte z. B. pro Semester acht Mutige, die ein Fachreferat ausarbeiten und im großen Hörsaal halten sollten. Ich habe mich zweimal gemeldet. Diese Mutprobe war eine tolle Erfahrung.

2007 – ich war inzwischen 68 Jahre alt – hörte ich, dass eine Leiterin für die Prüfungsvorbereitungskurse zum HP PSY gesucht wurde. Trotz meiner Bedenken wegen meines fortgeschrittenen Alters, erhielt ich bereits beim Vorstellungsgespräch die verbindliche Zusage, pro Monat ein Wochenendseminar als Block- und Intensivunterricht abzuhalten. Meine HP PSY-Ausbildung hatte mir damit eine Möglichkeit eröffnet, die mir nochmal ganz neue, bislang unbekannte Talente aufzeigte. Ich habe mit großer Freude neue Unterrichtsstrategien ausgearbeitet, angelehnt an die Erkenntnisse der bildhaften und imaginativen Verarbeitung von Lernstoff. Begriffe mit einem Bild verbunden, szenisch dargestellt oder grafisch, wobei Zusammenhänge oder Unterschiede farblich markiert werden – und gleich ist der Lehrstoff leichter fassbar.

Daraus entstand sogar ein kleines Büchlein, ein Repetitorium, das die wichtigsten Lernbegriffe der Klinischen Psychologie, locker und trotzdem fachlich korrekt, in Versform vermittelt.

Diese späte Unterrichtstätigkeit war, wie selten etwas Berufliches in meinem Leben, genau „meins“. Ich habe an diesen Wochenenden wie im „flow“ gearbeitet. Der Erfolg war, dass ich alle, die sich den HP PSY selbst als Ziel gesetzt hatten, mit sehr guten Beurteilungen durch die amtsärztliche Überprüfung gebracht habe. Anschließend waren wir dann gemeinsam Kolleginnen und Kollegen im VFP.

Jetzt, mit 72 möchte ich meine Option auf Neues, auf ein noch langes aktives Leben bewahren und diesen Optimismus gleichzeitig an Jüngere weitergeben.

Dass ich dabei realistisch bleibe und nicht blauäugig das Alter schönrede, garantiert schon meine Tätigkeit im Hospizdienst, die für mich aktuell und, solange ich gesund bleibe, auch künftig eine ganz besondere Priorität hat. Ich lerne dabei sowohl die Situationen in Pflegeheimen wie in Familien kennen und sehe noch viel Potenzial für Verbesserungen der jeweiligen Lebensumstände.

Fachlich notwendig ist dabei zunächst das empathische, entlastende Gespräch mit den Schwerstkranken. Wo dies nicht mehr möglich ist, geht es darum, die Hand zu halten, Nähe zu vermitteln und für mich selber, das Mittragen aushalten zu können. Häufig brauchen auch die Angehörigen unseren Zuspruch, unsere Hilfe. Und gar nicht so selten müssen wir Hospizhelfer als Familientherapeuten wirken. Es ist ein gutes Gefühl, wenn man dazu beitragen kann, alten, oft sehr alten Streit, alte Missverständnisse zwischen Eheleuten oder in Familien noch rechtzeitig aufzuarbeiten, aufzulösen, um eine Versöhnung mit dem gelebten Leben zu ermöglichen.

Ich kann und will das Elend des Leidens und der Einsamkeit nicht wegdiskutieren, das ich tagtäglich in Alten- und Pflegeheimen sehe. Trotzdem wehre ich mich dagegen, mich von Jahreszahlen abschrecken oder einschränken zu lassen, das Alter generell als Bedrohung und Limitierung zu sehen. Auch junge Menschen sind durch Unfälle und Krankheiten nicht davor gefeit, zum Pflegefall zu werden. Der Unterschied zu den Senioren besteht aber darin, dass sich kein junger Mensch durch Unfallstatistiken oder Krankheitsberichte automatisch betroffen fühlt und sich – voraussorgend – deswegen in seinen Aktivitäten, seiner Lebensplanung einschränken lässt.

Mein ganz persönliches Vorbild ist eine Nachbarin, 92 Jahre alt. Schlank und von zierlicher Statur, kann sie es sich leisten, sich chic und sportlich-elegant zu kleiden. Im Gespräch vermittelt sie eine unwahrscheinliche Aufgeschlossenheit und Anteilnahme an allen möglichen Themen des Lebens. Von negativen Befindlichkeiten redet sie ungern.

Nur eine Einschränkung durch das Alter hat sie mir unlängst gestanden und geklagt: Auf ihre geliebten eleganten hochhackigen Pumps müsse sie leider aus Sicherheitsgründen inzwischen verzichten! Auf flachen Absätzen ist sie aber häufig unterwegs als ehrenamtliche Besucherin in unserem Altenheim, um die alten Leutchen etwas aufzuheitern, wie sie sagt!

Gel(i)ebtes Leben. Ist es Schicksal oder Chance?

Christa KruckerChrista Krucker, Jg. 1939,
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Buchautorin, langjährige ehrenamtliche Tätigkeit im ambulanten Hospizdienst
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