Gedanken zur Katharsis
Ich glaube, was viele Menschen eint, ist ihre Abneigung Prozessen gegenüber. Eigentlich wissen wir, dass das ganze Leben ein – leider endlicher - Prozess ist, wollen es aber ungern wahrhaben. Während wir im Spiel (sei es Sport, ein Kriminalroman oder ein spannender Film) einen Genuss daran empfinden, den Ausgang nicht zu kennen, scheinen wir im „wirklichen Leben“ Resultate zu bevorzugen.
Oder um es mit Shakespeare zu sagen: „… And makes us rather bear those ills we have. Than fly to others that we know not of.“
Etwas freier übersetzt: Lieber ertragen wir bekannte Leiden, als zu unbekannten Ufern aufzubrechen.
Katharsis ist, wie wir noch sehen werden, ein Prozess, der sich nicht durch das Erreichen eines bestimmten Resultates defi nieren lässt. Durchleben wir kathartische Prozesse, so werden wir reifer und vielleicht auch ein wenig gesünder. Lassen wir uns dagegen zu sehr von Resultaten leiten, vermeiden wir das Unbekannte oder versuchen, einen Ist-Zustand aufrechtzuerhalten, dann besteht die Möglichkeit, dass unser seelisches Gleichgewicht darunter leidet.
Eine meiner Patientinnen, nennen wir sie einmal „Ines“, hatte folgende Art, einen Prozess zu vermeiden:
Sie kam zu mir, weil sie in unregelmäßigen Abständen impulsiv Drogen konsumierte, sich auf schlechte sexuelle Abenteuer einließ oder andere Dinge tat, die sie später bereute. Meist geschah das aus einem Gefühl emotionaler Leere heraus – oder weil sie eine Spannung verringern wollte. Wir untersuchten eine dieser Situationen. Sie hatte sich richtig über ihren Chef geärgert. In der Hypnose konnte sie diesen Ärger (nach anfänglicher „Leere“) deutlich spüren. Während der hypnotischen Sitzung gelang es uns auch, mit diesem Ärger kathartisch zu arbeiten, was von der Patientin als sehr entlastend beschrieben wurde.
In unserer Sitzung wurde aber auch die Ursache der „Leere“ manifest. Als ihr Ärger zum ersten Male spürbar wurde, wollte sie sich unterbrechen, da sie Sorge hatte, der Ärger würde sie zu einer Handlung führen, die sie den Job kosten könne. Weil sie also ein bestimmtes Ergebnis vermeiden wollte, blockierte sie den Prozess am Beginn – nämlich der Gefühlswahrnehmung. Die Wahrnehmung des Ärgers hätte sie auf verschiedene Wege führen können, mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Die Angst vor einem bestimmten Ergebnis aber ließ sie den emotionalen Prozess vermeiden, führte sie zur „emotionalen Leere“ und letztlich zum impulsiven und im Nachhinein unerwünschten Drogenkonsum.
Die Psychotherapie hat die schöne Möglichkeit, der Prozessvermeidung den Prozess der Katharsis entgegenzusetzen.
In unserer Kultur ist der Begriff Katharsis durch den griechischen Gelehrten Aristoteles bekannt geworden. Er bedeutet Reinigung oder Läuterung und wurde zunächst im rituellen Kontext verwendet. Bei Aristoteles beschreibt er die erwünschte Wirkung eines Theaterstückes. In der „Poetik“ heißt es, dass durch die Erregung der Gefühle Furcht (phobos) und Mitleid (eleios) der Zuschauer von eben diesen Gefühlen gereinigt werden solle. In der Therapie kennen wir den Prozess der Reinigung von Angst durch die bewusste Erregung von Angst aus den Expositionsverfahren der Verhaltenstherapie. Wer einmal die Wirkung eines Floodings bei einem Patienten beobachtet hat, der wird den kathartischen Prozess sehr eindrucksvoll erlebt haben.
Einen ähnlichen Prozess hatte Aristoteles im Sinn, als er die „Poetik“ schrieb. Durch die Erregung von bestimmten Affekten sollte der Zuschauer von eben diesen Affekten gereinigt werden. Das ist allerdings nicht so zu verstehen, dass danach die betreffenden Affekte völlig im Zuschauer verschwunden sind, dieser also emotionslos zurückgelassen wird.
Für Aristoteles war der ideale bzw. glückliche Zustand eines Menschen in der richtigen Balance zwischen den Extremen zu finden. In der „Nikomachischen Ethik“ beschreibt er anhand des Affektes Furcht (phobos) zwei ungesunde Extreme: Feigheit und Verwegenheit (Tollkühnheit). Der balancierte Zustand (die Mitte) wäre die Mannhaftigkeit.
Im Falle der Katharsis sollten sowohl der Feige als auch der Verwegene angesprochen werden, in beiden sollte Furcht erregt werden – das Ergebnis der Reinigung wäre dann der balancierte Zustand der Mannhaftigkeit.
In der „Poetik“ untersucht Aristoteles die Merkmale, die ein Stück aufweisen sollte, um beim Zuschauer eine Katharsis zu erzeugen. Hiermit wurde die erste, theoretisch fundierte Dramaturgie entwickelt.
Die dramaturgisch evozierte Katharsis ist wenig bis gar nicht untersucht worden. Der Nachteil der aktuellen Katharsisforschung, die die Beziehungen zwischen Gewaltdarstellungen in den Medien und Aggression beim Betrachter untersucht, liegt darin, dass dramaturgische Überlegungen absolut keine Rolle spielen. Den Probanden werden unter verschiedenen Bedingungen Gewaltszenen (ca. 15 Minuten Dauer) vorgestellt und die Reaktionen darauf gemessen. Man könnte ein solches Vorgehen nicht nur reduktionistisch nennen, sondern darin auch ein schönes Beispiel für „Prozessvermeidung“ sehen. Die Betrachtungen des Aristoteles bezogen sich auf Stücke mit einer Dauer von ca. 3 Stunden beziehungsweise auf Tetralogien, die den Zuschauer den ganzen Tag im Theater hielten. Selbst für ein erfolgreiches Flooding in der Psychotherapie wäre die Zeit von 15 Minuten deutlich zu kurz bemessen – von den Bedingungen, die laut Aristoteles ein Stück zu erfüllen hätte, um eine Katharsis zu bewirken, einmal ganz zu schweigen.
Aristoteles spricht bei einer guten Geschichte von einer Verknüpfung der Begebenheiten, also einer Komposition verschiedener Ereignisse, die Minute für Minute den Zuschauer durch einen Prozess führt, welcher letztendlich eine Katharsis bewirkt. Es war für ihn erwiesen, dass die Geschichte in ihrer Gesamtheit zur Katharsis führt und nicht einzelne eindrucksvolle Szenen.
In der Therapie wissen wir ja auch, dass unser Setting genauso wie der „dramaturgische“ Aufbau unserer Sitzung(en) einen großen Einfl uss auf den Erfolg der Therapie hat – und aktuelle neurobiologische Forschungen unterstützen diese wichtige Erfahrung, dass eine Sitzung eben mehr ist als nur die Summe verschiedener Interventionen.
Meine Patientin „Ines“ hatte sich durch die Unterdrückung ihres Ärgers aus der emotionalen Balance gebracht. Es war in ihr ein unangenehmes Gefühl der Leere entstanden, welches sich am Beginn unserer Therapie nur durch verschiedene selbstschädigende, impulsive Handlungen beheben ließ. Diese hatten beinahe einen ähnlichen Effekt wie eine Katharsis: sie beendeten den unerträglichen Zustand der Leere - lösten aber den zugrundeliegenden Konflikt nicht und hatten unerwünschte Nebenwirkungen.
Während „Ines“ in der hypnotherapeutischen Sitzung den Ärger aushalten und durchleben konnte, zeigten sich die Vorteile einer „wirklichen“ Katharsis: anstelle zweier Extreme (Ärger abschalten oder eine unerwünschte Affekthandlung mit der Gefahr des Arbeitsplatzverlustes begehen) konnte sie verschiedene sozial verträgliche Möglichkeiten entdecken, den Konflikt mit ihrem Chef zu lösen. Die Katharsis beendete ebenfalls die Leere (auf eine befriedigendere Weise) und schuf durch die Eröffnung neuer Optionen ein Mehr an Freiheit.
Es ist sicherlich nicht verwunderlich, dass die Geschichte der modernen Psychotherapie ihren Beginn in der „kathartischen Methode“ Josef Breuers hat. Bei der Behandlung seiner berühmten Patientin „Anna O“ stellte er fest, dass die „hysterischen“ Symptome sich auflösten, wenn das zugrunde liegende Trauma „aber zählt“ - also erneut und bewusst durchlebt wurde. In Zusammenarbeit mit Freud wurde hier der Grundstein der Psychoanalyse gelegt, auch wenn sich Freud später von der Katharsis abwendete.
Heute hat die Katharsis als innere Krise mit anschließender Wandlung auch in vielen anderen Therapieformen einen festen Platz. Nicht nur beim schon erwähnten Flooding, auch bei Familienaufstellungen, Bondings, Psychodrama etc. werden Teilnehmer und Therapeuten genügend eindrucksvolle Erlebnisse berichten können. Grund genug also für eine große Wertschätzung kathartischer Prozesse, wenn diese nicht in anderen Zusammenhängen als „nicht nachweisbar“ bezeichnet worden wären.
Die methodisch unsaubere Katharsisforschung, was die Wirkung von Gewalt in den Medien anbelangt, wurde schon erwähnt. Eigentümliche Erfahrungen mit der Katharsis in der Therapie wurden auch beim Abreagieren aggressiver Impulse (z. B. an „Stellvertreter-Puppen“) gemacht. Viele Experimente zeigten, dass dadurch sogar eine Steigerung des Aggressionspotenzials erzielt werden konnte.
Das Problem an solchen Experimenten ist, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem bewussten Erleben eines Gefühls auf der einen und dem „Abreagieren“ auf der anderen Seite. Der Versuch, Aggressionen durch Schlagen mindern zu wollen, ist genauso merkwürdig, wie eine Phobie durch Davonlaufen zu kurieren. Schlagen schafft zwar sicher vorübergehende Erleichterung der Wut (so wie Davonlaufen auch eine vorübergehende Erleichterung der Furcht bewirkt), hat aber langfristig mit dem, was hier als Katharsis beschrieben wird, gar nichts zu tun.
In den verhaltenstherapeutischen Leitlinien zu Expositionsverfahren wird immer wieder vor Behandlungsfehlern gewarnt, die den Charakter von Mutproben und Leistungsnachweisen haben. Anstelle einer Reaktionsexposition (Arbeit mit den körperlichen Reaktionen einer Phobie ohne vorhandenen Stimulus) oder eines regelgerecht durchgeführten Flooding, bei dem die Situation erst verlassen wird, wenn die Angst spürbar nachgelassen hat, werden Aufgaben gestellt, die z. B. besagen, eine bestimmte Anzahl von Haltestellen mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zu fahren. Hierbei kann die Erfahrung der nachlassenden Angst nicht gemacht werden, weil ja die Verweildauer in der Situation nichts mit dem inneren Erleben des Patienten zu tun hat, sondern vom Therapeuten unabhängig vom Erleben des Patienten festgelegt wurde. Der Patient konzentriert sich nur darauf, wann er endlich aussteigen darf, nicht aber auf den wertvollen inneren Prozess, der eine wirkliche Besserung bringen könnte. Er verkrampft sich angstvoll bis zum erlösenden Moment des Aussteigens, macht also wieder die Erfahrung, dass die Angst durch Davonlaufen gemindert wird.
Dies ist ebenfalls ein schönes Beispiel zum Thema Prozessvermeidung: Man hat ein bestimmtes Resultat im Auge und verlässt sich nicht auf den kathartischen Prozess. Der Patient kann so vielleicht erst eine, dann drei, dann fünf Haltestellen fahren – an Qualität oder Quantität seiner Angst ist aber keine Verbesserung zu bemerken. Mehr noch: die Leitlinien beschreiben ein solches Vorgehen als „Inkubation“, welche die Phobie verschlimmert.
Ich kann mich noch gut an das erste Flooding erinnern, das ich mit einer Schauspielstudentin durchgeführt habe. „Selma“ litt an sozialen Ängsten, die körperliche Reaktionen und Vermeidungsverhalten mit sich brachten. Sie konnte den direkten Kontakt mit ihren Mitspielern nicht lange aufrechterhalten und verkrampfte sich unter dem prüfenden Blick des Regisseurs. Selma wollte das ändern und bat um eine Intervention vor der Klasse. Nachdem wir zunächst 30 Minuten für eine Reaktionsexposition verwendet hatten (sie sollte ihre körperlichen Reaktionen erzeugen, ohne dass die angstauslösende Situation als Stimulus geboten wurde), baten wir den Kommilitonen, vor dem sie die meiste Angst hatte, um Mithilfe.
Dieser stellte sich dicht vor sie und funkelte sie mit bösem Blick an. Selma hatte sich bereiterklärt, die Situation erst nach deutlichem Nachlassen der Angst zu verlassen. Der folgende Prozess war für mich ebenso faszinierend wie für ihre Kommilitonen: immer mehr eskalierende körperliche Reaktionen führten zu einem wahrhaft dramatischen Höhepunkt, welcher sich mit einem Seufzer in einen Zustand des Friedens verwandelte, in dem der böse funkelnde Kommilitone keine Macht mehr über sie hatte. Natürlich musste Selma diese kathartische Übung noch ein paar Mal machen und auch im Alltag üben, den unangenehmen Situationen nicht mehr aus dem Weg zu gehen – aber das Eis war gebrochen …
Es ist nicht selten, dass eine kathartische Erfahrung während einer Sitzung ihren wirklichen Test erst im „Leben“ erfahren kann. Eine andere Patientin, „Claudia“, litt seit ihrer Kindheit an einer Ängstlichkeit vor allen Menschen – vor fremden mehr als vor bekannten. Sie kam zu einer dringlichen Sitzung, weil sie diese Angst häufig mit Drogen linderte und damit aufhören wollte. Auch hier war das Stadium einer Abhängigkeit noch nicht erreicht: der Drogenkonsum diente zur Erleichterung in scharf umrissenen Situationen. Außerhalb dieser Situationen fand er nicht statt. Keine der konsumierten Drogen hatte das Potenzial einer körperlichen Abhängigkeit.
Am Wochenende nach unserer Sitzung würde es arbeitsbedingt wieder zu solchen Situationen kommen. Claudia wollte Hilfe dabei, das Wochenende ohne Drogen zu bewältigen. Die Angst war leicht exploriert. Da sie in ihrer Biografie ein schweres Trauma aufzuweisen hatte, wollte ich zunächst eine hypnotherapeutische Sitzung zur Ressourcenstärkung machen und sie in der Trance einen sicheren Ort finden lassen, der ihr Kraft geben konnte, falls die Sitzung heftiger wurde als vorgesehen. Während dieser Hypnose geschah etwas für mich Unerwartetes, was ein Beleg für die Weisheit des Unterbewusstseins ist: anstelle ihr einen sicheren Ort zu zeigen, produzierte ihr Unterbewusstsein in der Hypnose die körperlichen Symptome ihrer Angst, welche sie mir vorher beschrieben hatte.
Ich nahm das „Angebot“ zur Reaktionsexposition an und ermutigte sie in der Hypnose, die Angst auszuhalten. Erwartungsgemäß ließ die Angst irgendwann nach, um einem Gefühl von Frieden und Freiheit Platz zu machen. Diese für Claudia sehr angenehme Erfahrung wurde suggestiv verankert. Sie hatte erfahren, dass die Angst ohne ihr Zutun, ganz von allein auch wieder vergeht. Der „sichere Ort“ war für sie das Gefühl nach der Angst. Am Wochenende hatte Claudia die Aufgabe, diese Erfahrung zu testen. Bewusst setzte sie sich der Angst aus, ermutigte sich damit, dass der Friede nach der Angst kommt, und konnte dieses Wochenende nicht nur ohne Drogen überstehen, sondern auch kathartisches Umgehen mit der Angst im Alltag erproben – eine Erfahrung, die ihr Selbstwertgefühl sehr gestärkt hat …
Während meiner Arbeit als Schauspiellehrer hatte ich ein kathartisches Verfahren entwickelt, um meinen Studenten zu helfen, mit Aufregung, Lampenfi eber und Versagensangst besser umzugehen und dabei emotional authentisch zu bleiben. Ich nannte es zunächst „Nullstellung“, denn ich wollte, dass meine Studenten sich in einem möglichst unverstellten Zustand befanden, bevor sie sich spielerisch auf Rolle und Situation einließen. Nur so konnten sie sich voll und ganz ihrer Aufgabe zur Verfügung stellen.
Dazu machte ich sie auf alle Kompensationen, Übersprungshandlungen etc. aufmerksam, die verbergen sollten, wie es ihnen wirklich geht. Das Schlimmste am Lampenfi eber war nämlich der Versuch, dieses zu verbergen. Er führte zu masken- und schablonenhaftem Verhalten, das sich leider bis in die Rolle zog. Alle „verbergenden“ Handlungen sollten unterlassen werden, erst dann konnte die Arbeit an der Rolle beginnen.
Selbstverständlich kam es durch das Unterlassen der üblichen Kompensationen, des „Coolseins“, der Witze und Grimassen ab und an zu heftigen emotionalen Reaktionen, die uns vor eine neue Herausforderung stellten: sie passten nur selten zu der emotionalen Qualität, welche die Szene haben sollte. Da wir nun die Gefühle nicht unterdrücken wollten (denn das wäre nicht nur ungesund gewesen, sondern hätte auch jeglicher schauspielerischen Arbeit die Grundlage entzogen), benutzten wir Gendlins Focusingtechnik, um den „felt sense“ zu finden und zu beschreiben. Hierbei machte ich häufig die Entdeckung, dass die „problematische“ Emotion im Körper festhing, quasi wie in einem Container steckte und so vom Rest des Körpers abgeschnitten war. In einem solchen Moment war der Schauspieler komplett blockiert und nur noch auf diese „problematische“ Emotion fixiert. Er kämpfte gegen sie und damit gegen sich selbst, verspannte sich und verlor eine Menge Energie.
Da in diesem Augenblick nicht die Lösung eines persönlichen Problems das Ziel war, sondern die Arbeitsfähigkeit als Schauspieler, arbeiteten wir daran, die starke Energie der Emotion nicht als Problem zu betrachten, sondern als wichtige Ressource für die schauspielerische Arbeit. Solange sie aber im Container steckte, war sie nicht zu nutzen. Es galt sie zu befreien!
Im günstigsten Fall konnte man imaginativ ein Loch in den Container bohren, die Energie durch den ganzen Körper fließen lassen und sie so als reine Lebensenergie in den Dienst der Rolle stellen, was dann sehr gute spielerische Ergebnisse brachte. Manchmal war aber der Rest des Körpers der Container – oder es gab gar verschiedene emotionale Schichten im Körper. Hier war mit Gewalt und Bohren nichts zu gewinnen.
Analog zum Drama konnte man das „problematische“ Gefühl als Protagonisten und die Kraft, welche es zurückhalten wollte, als Antagonisten bezeichnen (dabei ist mir bewusst, dass ein solcher Konflikt auch als Kampf zwischen Es und Über-Ich beschrieben werden könnte). Im Drama entsteht die Handlung dadurch, das Protagonist und Antagonist miteinander in Beziehung treten – und der Konflikt eben auf dramatische Weise seine Lösung erfährt. Eine solche Handlung konnten wir im Körper der Studenten erzeugen, indem wir die inneren Konfl iktparteien in Dialog brachten. So entstanden spontan kathartische Geschichten. Nach dem notwendigen dramatischen Höhepunkt war der Körper von einer Energie erfüllt, welche nicht mehr als bestimmter Affekt geortet werden konnte. Das Gefühl war gereinigt, aber nicht verschwunden: Die Energie war erhalten geblieben.
Der unmittelbare Effekt bestand in einer deutlichen Verbesserung der schauspielerischen Arbeit. Interessant war aber auch, dass die Studenten mitunter starke Glücksgefühle beschrieben und sich so richtig komplett „am Leben“ fühlten. So wurde aus der „Nullstellung“ eine „dramatische Reinigung“.
Als Ines in der Hypnose eine ähnliche dramatisch- kathartische Arbeit machte, musste sie zwar in Kauf nehmen, von ihrer Wut vorübergehend komplett überrollt zu werden – am Ende fühlte sie sich aber viel lebendiger und glücklicher als vorher – hatte also durch innere Arbeit etwas erreicht, was sie vorher nur mit selbstschädigenden Handlungen erzielen konnte.
Patienten, die innere Spannungen oder auch innere Leere mit selbstschädigenden Handlungen kompensieren (riskantes Verhalten, Ritzen, Brandwunden zufügen etc.), werden gern mit einer Borderline-PS diagnostiziert.
Um mich nicht auf eine Debatte in puncto ICD, DSM oder Ätiologie einzulassen, bleibe ich ausschließlich bei dem genannten Symptom, das, wenn es das einzige ist, in keinem System eine Diagnose zulässt.
Erwähnenswert ist die Borderline-Diagnose deshalb, weil eben meist in der Literatur über Borderline die selbstschädigende Symptomatik umfassend beschrieben ist, und die DBT, als Borderline-spezifi sche Therapie, Strategien entwickelt hat, um eben auch mit dieser besonderen Symptomatik umzugehen. Gemeint sind hier Mittel wie Gummibänder, Eispackungen, Igelkissen und alle anderen Dinge, die wir in einschlägigen Skillsammlungen für Borderliner finden können – verbunden mit Übungen zur Achtsamkeit.
Diese Skills werden als äußerst hilfreich für die emotionale Stabilisierung betrachtet und sollen nicht selten an die Stelle selbstschädigender Handlungen treten. Das lässt den Schluss zu, dass selbstschädigende Handlungen für die Betroffenen auch eine wichtige Funktion bei der emotionalen Stabilisierung haben.
Bernd A. Pelzer beschreibt in seinem Buch „Borderline – Heilung ist möglich“, wie die Patientin Maria, die das Gefühl schaler Leere und eines irgendwie Sammelsuriums unangenehmer Spannungen nicht mehr erträgt, so knapp vor einem LKW die Straße überquert, dass sie beinahe überfahren wird. Die junge Frau will sich in diesem Moment nicht umbringen, sondern sich mithilfe einer starken emotionalen Erregung von der Spannung befreien – was ihr gelingt. Bei solchen Beschreibungen muss ich – wie bei einigen Patientinnen – wieder an die Katharsis denken, daran, dass Marias Unterbewusstsein, ebenso wie das Unterbewusstsein von Ines, eine Heilung sucht und den Weg vielleicht nur knapp verfehlt hat. Möglicherweise könnte auch hier eine – verantwortungsvoll angewandte – Katharsis tiefgreifende Linderung, wenn nicht gar Heilung bringen.
Andreas Poppe
Heilpraktiker für Psychotherapie, Schauspieldozent,