Die Existenzielle Psychotherapie
„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Reinhold Niebuhr
Die Existenzielle Psychotherapie
Ob Verhaltenstherapie, tiefenpsychologische Verfahren oder systemische Ansätze: Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist „Compliance“ – die Bereitschaft des Klienten, aktiv am therapeutischen Prozess teilzunehmen und Eigenverantwortung zu übernehmen. Auch wenn man meinen sollte, dass in Selbstzahler-Praxen diese Bereitschaft außer Frage steht – schließlich ist der Klient ja meist aus freien Stücken und eigenem Antrieb zu uns gekommen –, die Realität sieht anders aus! An „Non-Compliance“ scheitern vermutlich mehr Therapien als aus jedem anderen Grund (nicht nur in der Psychotherapie!).
Die Grundvoraussetzung für Compliance jedoch ist eine positive Beantwortung der wichtigen Fragen rund um den „Sinn des Lebens“; gerade in akuten Lebenskrisen wie Scheidung oder Arbeitslosigkeit, in Trauerprozessen beim Verlust geliebter Menschen oder an Lebensübergängen wie „Empty Nest“ oder Pensionierung stellen sich viele Menschen die gleichen Fragen:
Wofür weitermachen?
Gibt es einen „Sinn des Lebens“?
Welchen Sinn hat mein Leben im Besonderen?
Gibt es so etwas wie „Schicksal“, „Vorsehung“ oder „Gottes Wille“ – und wenn ja, warum ist es so oft so ungerecht?
Wie viel Verantwortung trage ich für mein Leben – und wie kann ich damit umgehen?
Wie lebe ich mit dem Bewusstsein der Sterblichkeit?
Gibt es die „wahre Liebe“ – und wie kann ich mir sicher sein, sie gefunden zu haben?
Gibt es im Leben nichts, auf das man sich verlassen kann?
Die Antworten auf diese Fragen suchen Religionsstifter, Philosophen, Weise und Scharlatane seit Beginn der Menschheitsgeschichte. Es scheint jedoch, als gäbe es keine allgemein gültigen Antworten, keine zufriedenstellenden Beweise – ja es scheint, als würde jeder Versuch einer Antwort nur zu tausend neuen Fragen führen, deren Beantwortung wieder nur neue Fragen generiert.
Vielleicht ist diese Komplexität der Grund, weshalb diese Themen in vielen Therapien keinen Platz haben?
Gerade problemorientierte Therapieformen kommen hier schnell an ihre Grenzen: Die eigene Sterblichkeit ist ja kein „Problem“ im Sinne z. B. der Verhaltenstherapie, sondern eine Tatsache – eine „Lösung“ daher nicht möglich.
Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, sah in der unzureichenden Beantwortung dieser Fragen einen krankmachenden Faktor an sich, den er „Das Leiden am sinnlosen Leben“ nannte (1978).
Auch der Schriftsteller, Psychoanalytiker bzw. -therapeut und (inzwischen emeritierte) Professor für Psychiatrie Irvin Yalom beschäftigte sich sein ganzes Therapeutenleben lang mit eben dieser Problematik – sei es auf der Suche nach besserer Compliance seiner Klienten, sei es auf der Suche nach Ursachen psychischer Störungen.
Seine Gedanken und Erfahrungen hat er in ein eigenes therapeutisches Konzept gegossen: Die Existenzielle Psychotherapie.
Als Therapieform lässt sie sich nur schwer in übliche psychotherapeutische Schubladen pressen: Ihr Ansatz ist tiefenpsychologisch mit Brückenschlägen ins Philosophische, sie interessiert sich also auch für die Genese von Störungen – und hat trotzdem ihren therapeutischen Fokus nicht im regressiven Arbeiten, sondern im „Hier und Jetzt“. Sie lädt zu intensivem Reflektieren von Themen rund um das Wertesystem des Klienten ein – und ist dabei ergebnisoffen und non-direktiv. Yalom selbst sieht seine Therapieform auch nicht als alleinstehende Methode, sondern als „Veredelung“1) anderer Therapiemethoden an.
Um es gleich vorauszuschicken: Allgemeingültige Antworten auf die oben genannten Fragen hat Yalom auch nicht! Sein therapeutischer Ansatz geht jedoch davon aus, dass die Beschäftigung mit den von ihm genannten „vier letzten Fragen“ an sich schon heilsam ist – auch wenn keine „letzten Antworten“ gefunden werden können. Frei nach dem Lehrsatz von Konfuzius „Der Weg ist das Ziel“ führt die reflektierende Auseinandersetzung mit ihnen zu einer lebensbejahenden Einstellung und einer aktiven Haltung – und so zu den Grundvoraussetzungen für Wachstum an diesen Grundfragen menschlicher Existenz: den Fragen nach Tod, Freiheit, Isolation und Sinnlosigkeit.
Leben vs. Tod
Wir existieren – aber irgendwann hören wir auf zu existieren! Das Ende ist unausweichlich, dem Tod zu entfliehen unmöglich. Daraus ergibt sich der erste existenzielle Kernkonflikt: die Spannung zwischen dem Wissen um den Tod – und dem Wunsch weiter zu leben.
Die Todesfurcht begleitet uns normalerweise wie ein Schatten am Rande des Bewusstseins. Manchmal drängt dieser Schatten an die Oberfläche und erzwingt die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit. Die Todesfurcht ist die Quelle alle Ängste.
Kinder beschäftigen sich schon in frühem Alter mit dem Tod. Eine der wesentlichen kindlichen Entwicklungsaufgaben ist es, so Yalom, mit den Ängsten vor der eigenen Vernichtung (ausgelöst z. B. durch den Tod wichtiger Bezugspersonen) umgehen zu lernen. Gelingen diese Anpassungsprozesse nicht, so führt das zu Störungen der Persönlichkeitsentwicklung bis hinein in den Bereich der Psychopathologie.
Die Abwehrmechanismen, die in den allermeisten Fällen zu diesem Zweck eingesetzt werden, beruhen auf Verleugnung. Folglich kann ein effektiver psychotherapeutischer Ansatz zur Behandlung entsprechender Störungsbilder nur auf der Grundlage der Bewusstheit des Todes konstruiert werden.
Struktur und Ordnung vs. Freiheit
Der Begriff der Freiheit (den wir gewohnheitsmäßig positiv besetzen) ist, bei genauerer Betrachtung, für die meisten Menschen eher beunruhigend und furchteinfl ößend: Im radikal-konstruktivistischen Sinn gibt es ja so etwas wie „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ nicht – jedes Individuum ist der Schöpfer seiner Welt und trägt auch die Verantwortung für diese seine Konstruktionen. Ob allgemeiner Lebensplan, Entscheidungen, Sicht- und Denkweisen bzw. Handlungen – nichts ist „von höherer Warte“ vorgeplant, alles ist möglich. Der zweite existenzielle Kernkonflikt ist definiert in der Spannung zwischen der Erkenntnis der Freiheit – und dem Wunsch nach (höherer) Ordnung und Struktur.
Nähe vs. Isolation
Im existenzialistischen Sinn bedeutet „Isolation“ mehr als „Einsamkeit“ (also Mangel an zwischenmenschlichen Beziehungen) oder Dissoziation von Persönlichkeitsanteilen (also Isoliertsein von Teilen seiner selbst): Isolation ist hier eine grundlegende Existenzbedingung! Ganz egal, wie nahe wir der Welt oder einander kommen – die letzte Kluft ist unüberwindbar, eine tatsächliche „Verschmelzung“ unmöglich. Wir betreten die Welt alleine – und gehen alleine aus ihr hinaus. Der dritte existenzielle Kernkonflikt ist also definiert durch die Spannung zwischen dem Wissen um diese Isolation und dem Wunsch nach Kontakt und Schutz – dem Wunsch, Teil eines größeren Ganzen zu sein.
Sinn vs. Sinnlosigkeit
Die vierte Grundfrage ergibt sich logisch aus den ersten drei: Wenn wir sterben müssen, wenn wir konstruktivistisch unsere eigene Welt schaffen, wenn jeder letztendlich alleine ist in einem grenzenlosen und gleichgültigen Universum – welchen Sinn hat dann die eigene Existenz? Warum leben wir? Wie sollen wir leben? Wie „sinnvoll“ kann ein Lebenssinn sein, den wir uns ja letztendlich selbst geben? Der vierte existenzielle Kernkonflikt ist das Dilemma eines sinnsuchenden Geschöpfes in einem sinnlosen Universum.
Die aufgeführten Dualitäten führen zu ständig fortlaufenden dynamischen Prozessen. Yalom führt aus „… dass es Kräfte gibt, die innerhalb des Individuums in Konflikt miteinander stehen und dass Gedanken und Gefühle und Verhalten, sowohl adaptiver als auch psychopathologischer Art, das Resultat dieser miteinander in Konflikt stehenden Kräfte sind. Darüber hinaus – und das ist wichtig – existieren diese Kräfte auf verschiedenen Ebenen der Bewusstheit; einige von ihnen sind tatsächlich völlig unbewusst.“
Für solche (und andere sich individuell daraus ergebenden) Problemstellungen ist der existenziell-psychotherapeutische Ansatz gedacht. Er ermöglicht auch dann noch einen konstruktiven Prozess, wenn andere Therapieformen an ihre Grenze kommen.
In der existenziellen Arbeit geht es im Wesentlichen darum, dass der Klient (mit Unterstützung des Therapeuten) so offen und vermeidungsfrei wie möglich seine persönlichen Bedingungen, Werte, Lebenseinstellungen und Philosophien betrachtet und in diesem Kontext nach für ihn tragfähigen Antworten auf die Grundfragen des Lebens sucht. Diese Antworten können somit nicht vom Therapeuten gegeben werden; er kann Angebote machen und einen Reflexionsraum anbieten – mehr aber auch nicht!
Der wesentliche Unterschied in der täglichen praktischen Arbeit findet sich deshalb auch auf der Prozessebene: Die erhöhte Sensibilität des Therapeuten für existenzielle Themen und die Bereitschaft, sie in die Therapie zu integrieren, beeinflusst wesentlich die Klienten-Therapeuten- Beziehung. Die Tatsache, dass wir Therapeuten in unserem Leben ja mit denselben „letzten Fragen“ konfrontiert werden wie unsere Klienten, macht uns zu „Reisegefährten“ und führt so zu echten Begegnungen ohne falsche Hierarchie.
Im Dialog zwischen Klient und Therapeut schaffen diese Fragen jedoch Prozess und Inhalt! Insbesondere die Arbeit an der letzten Frage (der nach dem „Sinn“) ist für sich genommen schon sinnstiftend (auch ist bereits die Bereitschaft des Klienten dazu ein deutliches Bekenntnis zum Leben!) und damit fruchtbarer Boden für das Schaffen von Therapiemotivation und „Compliance“ weit über die Beschäftigung mit den „letzten Fragen“ hinaus.
In diesem Sinne ist auch die „Lehre“ Yaloms keine psychotherapeutische Gebrauchsanweisung: Sie ist vielmehr eine Sammlung von Gedanken, Anregungen und Refl exionen aus seiner eigenen therapeutischen Arbeit und seinem eigenen Ringen mit diesen Themen. Der Leser (und Schüler! Yalom hat seine Lehre selbst nie unterrichtet … außer durch seine Publikationen zu diesem Thema) findet eine Fülle von Denkanstößen und philosophischen Betrachtungen verschiedenster Richtungen und Epochen, Hintergrundwissen und Hilfen für die existenziell- therapeutische Arbeit - und für die Selbstreflexion bzw. den eigenen Umgang mit eben diesen Fragen!
So faszinierend die Beschäftigung mit den „vier letzten Fragen“ auch sein mag: Existenzielles Arbeiten ist mitunter auch durch Frustrationen geprägt, weil es eben nicht „die eine tolle Lösung“ gibt; in gewissem Sinn ist es aber gerade deshalb radikal realitätsorientiert!
Es entsteht ein kontinuierlicher reflektiver Prozess, der zu einer gesünderen und realitätsnäheren Grundhaltung des Klienten führt. In der Alltagsbewältigung lässt sich das – neben einer besseren Therapiemotivation - an einem Mehr an Akzeptanz, Gelassenheit und tatkräftigem Handeln im gegebenen Spielraum feststellen – egal wie sehr dieser durch Alter, Schicksal, Krankheit oder Ähnliches eingeschränkt sein mag ...
Literatur
1) Irvin D. Yalom: Existenzielle Psychotherapie, EHP, 5. Auflage, 2010, Seite 12
Matthias Retzer
Heilpraktiker für Psychotherapie, Coach, Berater, Therapeut mit den Schwerpunkten Paartherapie, Krisen an Lebensübergängen und Kommunikationstraining, methodische Grundlagen sind Aus- und Weiterbildungen in Systemischer Therapie, Transaktionsanalyse und existenzieller Psychotherapie