Zum Hauptinhalt springen

Gehirnforschung und Psychotherapie, Teil 2: Das neurobiologische Modell der vier Ebenen der Persönlichkeit

©pogoniciDas Vier-Ebenen-Modell der Persönlichkeit geht von vier anatomischen Gehirnebenen aus, deren neueste Formulierung man im Buch „Warum es so schwierig ist, sich und andere zu verändern“ findet. Das Modell stellt drei limbische Ebenen (untere, mittlere, obere) und die sprachlichkognitive Ebene vor. (Der Ausdruck „Ebenen“ schließt die Wechselwirkung zwischen ihnen ein.)

Das limbische System insgesamt gilt als „Entstehungsort von Affekten, Gefühlen, Motiven, Handlungszielen, Gewissen, Empathie, Moral und Ethik“ (Roth/Ryba 2016, S. 129). Mit dieser im wörtlichen Sinn Grundlegung maßgeblicher Komponenten für die Persönlichkeit definiert das limbische System tief sitzende Dispositionen, die zum Teil genetisch, zum Teil epigenetisch, pränatal und in den frühen Jahren nach der Geburt etabliert werden und gleichsam Grundstimmung und Grundausrichtung von Temperament und Charakter markieren. Hier entscheidet sich, einfach formuliert, ob eine Person zu den Frohnaturen, den Neugierigen oder Vorsichtigen, den Extra- oder Introvertierten gehört. Grundprofil und Lebensgefühl und mit ihm basale Aspekte von Sozialität, Motivation und anderen persönlich und sozial relevanten Eigenund Verfasstheiten, Fähig- und Fertigkeiten werden hier gebahnt.

Die erste Ebene

Die untere limbische, vegetativ-affektive Ebene kontrolliert biologische Funktionen, steuert grundlegende affektive Verhaltensweisen und Handlungen. Sie lenkt mit ihren speziellen Zentren basale, der Lebenserhaltung und der Befriedigung primärer Bedürfnisse dienende Prozesse ebenso wie elementare affektive Verhaltensweisen und Empfindungen. Sie konstituieren das Temperament und die Kern- oder Grundpersönlichkeit eines Menschen, die damit gleichsam als Melange erscheint aus genetisch und epigenetisch-vorgeburtlich (v. a. über Einflüsse durch die Mutter) bestimmten Einflüssen. Die epigenetischen Prägungen wirken ähnlich stark wie genetische Determinanten (Roth/Ryba, 2016, S. 130). Hier werden die Grundfesten gelegt: das angeborene „Temperament“, Grunddispositionen, Charakteristika von Persönlichkeit. Prägungen in der unteren limbischen Ebene entziehen sich intentionaler Steuerung, Kontrolle und Veränderung weitestgehend.

Zwar kursieren unterschiedliche Konzepte von Temperament und Persönlichkeitsgrundlegung. Konsens besteht darin, dass physiologisch-vegetative und affektive Merkmale zur Grundausrüstung gehören wie „das allgemeine Erregungsniveau, Reaktionsschnelligkeit, Verhalten und Anpassungsfähigkeit gegenüber neuen Situationen sowie die Schnelligkeit der Informationsverarbeitung“ (Roth, 2019, S. 80), die genetisch und vorgeburtlich bedingt sind, unbewusst ablaufen und sich (mit bestimmten Merkmalen der Persönlichkeit) sehr früh stabilisieren. (Da die Kategorisierung von Merkmalen von Temperament und Persönlichkeit nicht immer exakt vorgenommen werden kann, muss man davon ausgehen, dass komplexere Charakteristika wie Ausprägungen von Emotionalität das Resultat genetischer und sozialisatorischer Einflüsse sind.)

Psychotherapeuten (immer m/w/d) sollten zudem beachten: Prozesse, die auf der unteren limbischen Ebene ablaufen, sind unbewusst, nicht erinnerungsfähig und „kaum oder gar nicht veränderbar“ (ebd. 89), weil sie in subkortikalen limbischen Arealen und in Formaten verarbeitet werden, die später nicht mehr zur Verfügung stehen. Konkreter: Das primäre Unbewusste war niemals bewusst, das sekundäre kann aufgrund des Mangels an einem deklarativ-episodischen Langzeitgedächtnis bestenfalls kurzfristig bewusst gewesen sein, ist indes aufgrund seiner nicht kognitiv-sprachlichen Speicherung später nicht erinnerungsfähig. Erinnerungen können bestenfalls indirekt erschlossen werden und unterliegen der Deutung. Insofern sind Erinnerungen irrtumsanfällig und können sogar fingiert werden. (Die Empirie rund um False-MemoryEffekte zeigt dies eindrücklich, etwa Susan Loftus.) Damit entfällt die Leistbarkeit psychotherapeutischer Verfahren, die beanspruchen, frühestkindliche Erfahrungen direkt zugänglich machen zu können.

Die zweite Ebene

Die mittlere limbische Ebene entwickelt sich wie die untere bereits vor und in der ersten Zeit nach der Geburt. Sie betrifft die emotionale Prägung und emotionales Lernen: als Erkennen (Wahrnehmen und Deuten) emotionaler Signale sowie als Verbinden von Gefühlen mit Situationen, also kontextuelles Lernen, während der ersten drei Jahre des Lebens.

Im Einklang mit psychologischen Annahmen zu frühkindlicher Entwicklung erweisen sich Erfahrungen mit primären Bezugspersonen als nachhaltig prägend.

Diese vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) bindungsbezogenen Erfahrungen definieren den Code von Bewertungen „gut/schlecht“ im Sinn von: vorteilhaft/nicht vorteilhaft und bestimmen die Grundfärbung von Selbstbild und Modus, anderen Menschen zu begegnen.

Sie werden mit angeborenen Grundgefühlen wie Freude, Furcht, Angst, Ärger, Neid verwoben, einschließlich der Grundlegung von Belohnungs- und Bestrafungserfahrungen und damit auch des (unbewussten) Motivationssystems.

Damit einher geht die Konsolidierung von Eigenschaften durch selektive Bestä- tigung (Konditionierung), was wiederum einhergeht mit der unbewussten Bildung von Vorannahmen und Vorerwartungen in späteren Jahren. Gemeint sind „Selbstverständlichkeiten“, die sich formen und formuliert werden im Sinn des „Ich gehe fraglos davon aus, dass ich das und das erwarten kann“.

In dieser Phase graben sich Erfahrungen gleichsam als Tiefenstruktur ein, etablieren sich Grundlagen für Selbstkonzept und Sozialität wie etwa Empathiebereitschaft und -fähigkeit. Grundausrichtungen der Person verfestigen sich.

Die Erfahrungen in dieser Kleinstkindphase werden zwar teilweise bewusst, sind aber späterer Erinnerung nicht zugänglich, weil sie in einem später nicht mehr zugänglichen Format und Code abgespeichert sind; Abspeicher- und Abrufformate verändern sich grundlegend. (Sigmund Freud sprach von „infantiler Amnesie“)

Für psychotherapeutische Intervention, die auf Erinnerung und Veränderung ausgerichtet ist, ist nicht nur von entscheidender Bedeutung, dass Erfahrungen auf dieser mittleren limbischen Ebene nicht direkt zugänglich sind, sondern auch, dass sie sich kaum bzw. „nur durch gezielte emotionalisierende und bindungsbezogene Maßnahmen“ verändern lassen (Roth, 2019, S. 91).

Die dritte Ebene

Die obere limbische Ebene repräsentiert Aktivitäten bestimmter Areale des limbischen Cortex, die mit Körperwahrnehmung verknüpft sind und das bewusste Selbst, einschließlich sozialer Anteile von Denken, Fühlen sowie Moral, Ethik (Gewissen, Über-Ich; Roth/Ryba, S. 132) und Empathie entwickeln. Diese Ebene sorgt für Anschlussfähigkeit von primärer Persönlichkeit (Grunddispositionen) und der Fähigkeit, mit Anforderungen aus dem soziokulturellen Umfeld zurechtzukommen. Wie ein Mensch sich arrangiert, liegt bereits fest. Die Kernausprägungen bahnen, machen das eine wahrscheinlicher als das andere. Sie perforieren Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich ein Mensch bewegt, wie flexibel er sich auf konkrete Erfordernisse einstellt und wie er ihnen begegnet. Der Modus des Sicharrangierens ist Resultat maßgeblich 3 jener eigenen und sozial vermittelten Erfahrungen, die ein Mensch in seinem Lebenskontext macht.

Neben Fertigkeiten der bewussten Kontrolle von nonverbaler Kommunikation bildet sich die Fertigkeit, Bedürfnisse und Anpassungserfordernisse in Einklang zu bringen. Sie finden Ausdruck in der Art, wie Menschen kooperieren, Rücksicht nehmen, Kompromisse eingehen, Ziele konsequent verfolgen, sich als Akteur erfahren (Selbstwirksamkeit ausbilden). Mithin entwickeln sich Teilsysteme für Impulshemmung, Risikowahrnehmung und -bewertung, das bewusste Belohnungs- und Bestrafungsgedächtnis sowie moralische Regeln. In dieser Phase, die bis etwa zum 20. Lebensjahr andauert, werden die bewussten sozial vermittelten Antriebe und Erfahrungen gespeichert.

Psychotherapeuten können in dieser Phase der Entwicklung alters- bzw. reifungsspezifisch zunehmend auf der bewussten Ebene arbeiten, stets in Kombination mit nichtbewussten und nichtsprachlichen Verfahren, um tiefer liegende Dispositionen wie Grundmotivation anzusprechen, etwa durch Hypnose oder Trancearbeit.

Die vierte Ebene

Die kognitiv-sprachliche Ebene, die wechselwirkt mit den vorherigen, ist hauptsächlich im oberen und mittleren Stirnhirn, im präfrontalen Cortex lokalisiert und entwickelt sich zeitgleich mit der dritten Ebene, also etwa ab dem dritten Lebensjahr, wenn sich kognitive und sprachliche Fertigkeiten auszubilden beginnen. Dank der Aktivierung bestimmter Areale des Neocortex ermöglicht diese Ebene, dass sich bewusstes Wahrnehmen und Denken ebenso entfalten wie Kompetenzen und Langzeitspeicherung im Rahmen des Erwerbs von Wissen (Faktengedächtnis), Erfahrung und Erinnerung (episodisches Gedächtnis) und Imagination (Fiktionales, Zukunftsvorstellungen). Dazu gehört ferner das Ausreifen sprachlicher Kommunikationskompetenz (Lexik, Grammatik, Rhetorik, beide Sprachzentren betreffend, Broca- und Wernicke-Areale: Sprachproduktion und -verarbeitung) in Wort und Schrift sowie alle mit Intention, Planung und Ausführung (exekutive Funktionen) befassten Kompetenzen.

Mit anderen Worten: Die kognitivsprachliche Ebene ist gleichsam der Entwicklungs- und Reifungsort von kognitiven, verbalen, rationalen, assoziativen, problemlösenden Fähigkeiten, von bewusster Wahrnehmung und Aufmerksamkeitslenkung; die Ebene ermöglicht das Ausbilden von Metafähigkeiten, wie Selbstbetrachtung (Dissoziieren) und das Abgleichen von Selbstkonzept mit Fremdbildern (sozialer Vergleich). Dieser Bereich der Großhirnrinde gilt als Sitz von Intelligenz, Verstand, Vernunft, von Gefühls- und Impulskontrolle, von Risikobewertung und moralischer Einordnung. „Die emotionalen Komponenten solcher Geschehnisse werden von den Instanzen der oberen limbischen Ebene hinzugefügt“ (Roth, 2019, S. 91).

Eine Besonderheit ist bedeutsam: Die vierte Ebene, die den drei limbischen Ebenen gegenübersteht, hat nur wenige direkte Verbindungen zu diesen, während deren Verbindungen zur vierten Ebene vielfältig und ausgeprägt sind. Das bemerken Menschen daran, dass sie zwar etwas „eigentlich“ sinnvoll finden, „aber irgendwie doch nicht als ganz stimmig“ empfinden – und in der Regel prompt dem Gefühl gehorchen, der „Ahnung“ oder dem „Bauchgefühl“. Die Intensität und der Einfluss unbewusster „Antreiber“ (Transaktionsanalyse), starker Motive, intuitiver Erstbewertungen, können „massiv“ (Roth/Ryba, 2016, S. 132) ausfallen, sodass rationale Erwägungen praktisch chancenlos sind. Typisch in der Wendung: „Vernünftig wäre ja dies, aber ein besseres Gefühl habe ich bei dem – und deshalb mache ich Letzteres.“

Dieser Sachverhalt, den Psychotherapeuten bestätigen, ist insofern relevant, als er sich auswirkt auf die Frage nach Steuerungs-, Kontrollkompetenz und folglich auf Methodik und Effektivität psychotherapeutischer Intervention. Denn wenn, vereinfacht gesagt, die Verteilung neuronaler Verbindungen für Wirksamkeit von Beeinflussung(-sversuchen) steht, dann bestätigt die Hirnforschung eine der Grundannahmen von Psychotherapie: Dass Gefühle und nicht oder kaum rationale Beweggründe es sind, die Bereitschaften, Verhalten, Handeln und damit auch Änderungswillen bzw. das dazu nötige Durchhaltevermögen maß- geblich oder entscheidend beeinflussen. Ratio allein genügt (meistens) nicht, ist indes nötig, um als „neutraler Betrachter“ (Roth/Ryba, 2016, S. 133) das Analysieren, Abwägen, Durchdenken zu leisten, einschließlich erwartbarer, wahrscheinlicher Folgen, um die Entscheidung dann den limbischen Arealen auf den drei Ebenen zu überlassen bzw. idealerweise gemeinsam mit ihnen zu fällen.

Daraus folgt: Der langfristige Erfolg einer Psychotherapie, der sich niederschlägt in Internalisierung und Routinisierung verändertem Denken, Fühlen, Kommunizieren, Handeln, gehorcht der Logik des Sowohl-als-auch: Intelligenz, Rationalität und die anderen Verstands-, Vernunftkompetenzen, kognitive Intentionalität sind für Selbstregulierung und Selbststeuerung unverzichtbar und können nur dann zielgerichtet und dauerhaft mobilisiert werden, wenn die (der Veränderung dienenden) psychotherapeutischen Maßnahmen einhergehen mit intensiven Gefühlen und antreibenden Motiven (um Prägungen aus den anderen limbischen Ebenen anzusprechen). Wenn also die kognitiv-sprachliche mit den drei limbischen Ebenen gleichsam interagiert.

Dafür sorgen Therapeuten insbesondere dann, wenn sie verbale Sprache kombinieren mit Körper (Tanz, Bewegung), mit Bildern oder Musik oder sprachlichen Bildern, um auch nichtrationale, emotionale und tief verankerte Motive anzusprechen. Hypnotherapeutische Vorgehensweisen wie etwa nach Erikson sind Beispiel dafür, wie es gelingen kann, bewusste mit nicht- oder vorbewussten Motiven zu verbinden. (Zum Arbeiten mit Sprachbildern s. mein Buch: Sprachbilder: Metaphern & Co. Einsatz von sprachlichen Bildern in Beratung, Training, Coaching. Beltz Verlag, 2010)

Literatur

  • Hofmann, Arne: Die Macht der Augenblicke. In: Gehirn & Geist 5, 2004, 70-7
  • Krauss, Andreas: Fußangeln der Erinnerung. In: Gehirn & Geist, 5, 2004, 66-69
  • Mahlmann, Regina: Hello, I`m Eiza. Eliza und die Zukunft von Psychotherapeuten. Teil 1. In: Freie Psychotherapie, 02.19, S. 57-61 Therapie ohne Therapeut – mit Roboter? Teil 2. In: Freie Psychotherapie, 03.19, S. 33-36
  • Roth, Gerhard: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie lernen gelingt. Stuttgart, 2019
  • Roth, Gerard und Strüber, Nicole: Wie das Gehirn die Seele macht. Stuttgart, 2014
  • Roth, Gerhard: FAZ-Interview, 11.08.2015, Wie lautet der gegenwärtige Erkenntnisstand der Psycho-Neurobiologie?
  • Röder, Brigitte: Hirnforschung, was kannst du? Wir formen unser Gehirn. In: FAZ, 26.09.2015
  • Reiter, Hanspeter (Hg.): Handbuch Hirnforschung und Weiterbildung. Wie Trainer, Coaches und Berater von den Neurowissenschaften profitieren können. Beltz, 2017

Dr. Regina MahlmannDr. Regina Mahlmann
Beratung, Coaching, Schulung, Autorin, Landsberg am Lech

Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Foto: ©pogonici